Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein Land am Abgrund
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
sind Sie schon einmal in New York City gewesen? Falls nein, kann ich es Ihnen nur empfehlen. Bevor das Fahrwerk am Flughafen John F. Kennedy aufsetzt, können Sie bereits die Skyline Manhattans überblicken.
Eine faszinierende Stadt – ein Aushängeschild der USA. Ich bin im Mai 2023 das erste Mal dort gewesen, das letzte Mal im Dezember vergangenen Jahres. Ich habe Freunde besucht, die dort als Korrespondenten arbeiten. Und ich muss sagen: Zwischen meinem ersten und meinem letzten Besuch – innerhalb von anderthalb Jahren – hat sich nicht nur die Stimmung verändert. Das Land hat sich verändert.
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Trotz der blinkenden Lichter an den Hochhäusern Manhattans, die die Stadt zur Weihnachtszeit in ein schillerndes Lichtermeer verwandeln, lag eine spürbare Schwere auf den Straßen. Eine Stadt, die nie schläft, aber vielleicht müde ist. Müde von den Konflikten, der Spaltung, der Verrohung der Sitten. Der berühmte amerikanische Optimismus war gedämpft.
Warum die Stimmung im eher liberalen New York gedrückt war, dürfte Sie wenig überraschen: Donald Trump wird am heutigen Montag als 47. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Auch wir werden darüber berichten.
Damit zieht zum ersten Mal in der Geschichte der USA ein verurteilter Straftäter ins Weiße Haus ein. Ein Mann, dessen Name für viele zu einem Symbol für Rücksichtslosigkeit, Allmachtsfantasien und ein tiefes Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen geworden ist.
Für Amerika stellt Trumps zweite Amtszeit eine Zäsur dar. Und so auch für den Rest der Welt. Schon jetzt deutet vieles darauf hin, dass Trump seinen Einfluss nutzen wird, um Macht und Reichtum noch stärker zu konzentrieren – bei sich selbst und den ihm loyalen Kreisen. Die Demokratie der Vereinigten Staaten sei in Gefahr, warnte Joe Biden jüngst in seiner Abschiedsrede.
Wie konnte es so weit kommen? Ich habe t-online-Kolumnist Gerhard Spörl gefragt. Er kennt die USA seit Langem, hat dort gearbeitet – und Donald Trump bereits im Trump Tower getroffen. Er macht besonders zwei Entwicklungen aus, die den Weg zu Trump ebneten: die Anschläge vom 11. September 2001 und die Wahl des ersten afroamerikanischen Präsidenten Barack Obama im Jahr 2008.
Gerhard, du bist im August 2001 als Korrespondent in die USA gekommen. Einen Monat später ereignete sich am 11. September die Urkatastrophe der modernen amerikanischen Geschichte. Wie hat sich das Land seitdem verändert?
Der Angriff auf eigenem Boden war ein unfassbarer Schock. Die USA hatten zuvor Kriege geführt, aber immer woanders – in Europa, dann in Korea oder Vietnam. Die Regierung baute in der Folge den Sicherheitsapparat massiv aus. Die Geheimdienste bekamen freie Hand, in Guantánamo auf Kuba landeten Terroristen, von denen heute noch einige dort inhaftiert sind. Zugleich wollte das Land Rache für den Einsturz der Türme, zuerst in Afghanistan und dann im Irak. Das liberale Amerika, wie ich es bis dahin kannte, ist mit dem 11. September untergegangen.
Joe Biden sagt, in den USA entstehe eine Oligarchie aus Milliardären wie Elon Musk und Jeff Bezos, die sich um Donald Trump scharen. Hat der 11. September diese Entwicklung begünstigt?
Indirekt ja. Ein weiterer Wendepunkt war der Wahlsieg von Barack Obama 2008. Das reaktionäre weiße Amerika fand sich mit der Wahl eines schwarzen Präsidenten nicht ab. Trump ist der Gegenheld, und er geht jetzt eine Allianz mit der Tech-Welt ein.
Also war Trump eine Antwort auf Obama?
Genau, ohne Obama kein Trump. Die Wahl von 2008 hat das Land aufs Schärfste polarisiert. Viele wollen das alte Amerika zurück, und Trump hat genau dieses Versprechen abgegeben. Sein Wahlsieg 2016 war also kein Zufall, sondern die Folge einer tiefen Spaltung und einer politischen Entwicklung, die mit dem 11. September begann.
Biden und die Demokraten konnten diese Entwicklung nicht aufhalten?
Biden war eine Zwischenlösung. Er vereinte 2020 noch einmal die Parteiflügel aus klassischen Transatlantikern und den progressiven Linken. Was ihm noch gelang, gelang Kamala Harris jetzt nicht mehr. Die Demokraten sind zu stark auf Identitätspolitik fixiert und auf Minderheiten konzentriert. Die Wirtschaft haben sie aus den Augen verloren; das schwächte sie und stärkte Trump.
Du hast Trump persönlich erlebt. Was macht ihn so erfolgreich?
Er hat diese bemerkenswerte Fähigkeit, Menschen persönlich zu umgarnen, ähnlich wie Bill Clinton. Trump ist ein Entertainer, das ist seine größte Stärke. Sein Publikum nimmt seine Aussagen nicht immer wörtlich, sondern versteht sie als Botschaften. Wenn er ankündigt, den Ukraine-Krieg innerhalb von 24 Stunden zu beenden, erwarten seine Anhänger nicht, dass es genau so geschieht, sondern dass er sich für das Ende des Krieges einsetzen wird. Trump-Wähler hören vor allem, dass er alles tut, um ihre Interessen zu vertreten. Darin liegt seine Popularität.
Aber beim Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021 haben seine Anhänger ihn dann doch sehr wörtlich genommen.
Das ist das Gefährliche. Seine Anhänger interpretierten seine Rede damals so, dass sie den Senat daran hindern sollten, Joe Biden als Wahlsieger zu bestätigen. Sie unterschieden das Gesagte vom Gemeinten. Trump redete sich darauf hinaus, dass er sie mit keinem Wort zum Sturm aufs Kapitol aufgefordert hatte. In Wahrheit aber hatten sie seine Botschaft genau verstanden. Die politische Polarisierung hat sich seit dem 11. September extrem verschärft. Man ist entweder für oder gegen Trump, daran zerbrechen Freundschaften. Das Land war immer gespalten, aber heute ist es fast eine Glaubensfrage.
Welche Zukunft siehst du für Amerika unter Trump?
Trump ist unberechenbar. Was er heute sagt, muss morgen nicht mehr gelten. Europa sollte sich dabei nie sicher fühlen. Trump könnte weiterhin die Ukraine unterstützen und gleichzeitig Zölle auf europäische Waren erheben. Bei Trump ist immer alles möglich. Wir sollten ihn auf keinen Fall unterschätzen.
Reist du trotz Trump noch in die USA?
Ja, in diesem Sommer. Amerika ist trotz alledem ein faszinierendes Land. Boston, Neuengland im Herbst, Nantucket im Frühsommer, die Rocky Mountains – das sind unvergessliche Erlebnisse. Man darf ein Land nicht nur auf seine Politik reduzieren.
Die nächsten vier Jahre werden unberechenbar. Wie Gerhard sagt: Deutschland weiß nicht, worauf es sich einstellen muss. Wie sehr wird die US-Demokratie unter Trump und seiner Gefolgschaft leiden? Droht eine außenpolitische Wende, die die transatlantischen Beziehungen in die Krise stürzt? Was wird aus der Ukraine, was aus dem Nahen Osten?
Diese Fragen sind dringend und verlangen Antworten. Wir bei t-online haben daher unter anderem FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, BSW-Chefin Sahra Wagenknecht oder die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier gefragt, was sie von Trumps zweiter Amtszeit erwarten. Die Antworten lassen aufhorchen.
Trumps Inauguration ist dabei auch eine Erinnerung daran, dass Demokratie kein Selbstläufer ist – weder in den Vereinigten Staaten noch anderswo. Sie ist zerbrechlich, manchmal unbequem, und doch das Beste, was wir haben.
So wie Gerhard werde ich es übrigens auch halten. Ich überlege, dieses oder kommendes Jahr mit einem Freund einen Roadtrip quer durch die USA zu machen: von New York bis Kalifornien. Trotz Trump – oder: jetzt erst recht.
470 Tage
Im Rahmen einer Waffenruhe-Vereinbarung sind die ersten drei Geiseln von der Hamas freigelassen worden. Nach 470 Tagen – mehr als 15 Monaten – sind sie nach Israel zurückgekehrt. Es handelt sich bei ihnen um Romi Gonen (24), Emily Damari (28) und Doron Steinbrecher (31). Die drei sind nach Angaben des Roten Kreuzes so weit in guter körperlicher Verfassung – ihre seelische aber ist kaum auszumalen.
Die islamistische Terrororganisation Hamas hatte bei ihrem brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 insgesamt 251 Menschen in den Gazastreifen verschleppt. 117 Geiseln kamen bislang frei, größtenteils Frauen, Kinder und ausländische Arbeiter. In der ersten Phase des Abkommens sollen nun 33 Geiseln gegen 1.904 palästinensische Häftlinge ausgetauscht werden.
Mit dem Inkrafttreten der Waffenruhe im Gazastreifen liefen dort nach Angaben örtlicher Sicherheitskräfte auch verstärkte Hilfslieferungen für die Not leidende Bevölkerung an. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde kamen mehr als 46.900 Menschen ums Leben. Wie viele davon Zivilisten und wie viele Kämpfer sind, sagt sie nicht.
In den nächsten Wochen wollen Hamas und Israel über weitere Schritte verhandeln. Allerdings bleibt die Waffenruhe äußerst fragil. Wird keine Einigung erzielt, könnten die Kämpfe weitergehen, hatte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu am Vorabend der Waffenruhe gedroht. Die kommenden 42 Tage werden entscheidend.
Was steht heute an?
Die Bedrohung des Kreml: Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) empfängt den litauischen Außenminister Kęstutis Budrys. Dabei wird es wohl vor allem um Wladimir Putin und seine hybriden Angriffe in der Ostsee gehen. Meine Kollegen Tobias Schibilla und Simon Cleven haben mit Budrys' Vorgänger gesprochen: Als litauischer Außenminister war Gabrielius Landsbergis einer der größten Unterstützer der Ukraine. Jetzt lobt er die Zusammenarbeit mit Annalena Baerbock – und kritisiert Olaf Scholz.
Das Treffen der Weltspitzen: Die Stiftung Weltwirtschaftsforum (WEF) hält ihr Jahrestreffen in Davos ab. Dieses Jahr werden zum Motto "Zusammenarbeit im intelligenten Zeitalter" mehr als 60 Staats- und Regierungschefs erwartet.
Mutmaßlicher Mörder vor Gericht: Ein zur Tatzeit 17-Jähriger soll Ende Juli 2024 drei Mädchen im englischen Southport erstochen sowie acht weitere Kinder und zwei Erwachsene teils lebensgefährlich verletzt haben. Nach der Tat kam es – vermutlich aufgrund von Falschmeldungen in sozialen Medien über die Identität des Verdächtigen – zu Ausschreitungen von Rechtsextremen in mehreren britischen Städten. Nun soll der Prozess gegen ihn starten.
Historisches Bild
Barack Obama zog 2009 ins Weiße Haus, davor gab es ein kleines Missgeschick. Mehr lesen Sie hier.
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Den Umfragen zufolge kann Friedrich Merz nächster Bundeskanzler werden. Wie will er Deutschland reformieren, welche Pläne hat er für Steuern, Klima, Migration? Wie reagiert er auf die jüngsten Äußerungen von CSU-Chef Markus Söder – und was sagt er zur Kritik, er sei zu impulsiv? Im Interview mit meinen Kollegen Christoph Schwennicke und Florian Harms verrät er es.
Es ist so weit, Donald Trump wird wieder regieren. Schon im Vorfeld hat der 47. US-Präsident bereits Sorge und Unsicherheit ausgelöst. Was droht der Welt nun und wo findet Trumps Macht doch Grenzen? Diese Fragen beantwortet der Politologe Stephan Bierling im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.
Kim Jong Un schickt Russland Kanonenfutter: Nordkoreanische Soldaten sprengen sich im Ukraine-Krieg selbst in die Luft, bevor sie in Gefangenschaft geraten. Wladimir Putins Gegenleistung dafür ist eine Gefahr für die koreanische Halbinsel, schreibt mein Kollege Patrick Diekmann.
Zum Schluss
Mit der Wahrheit nimmt es der künftige US-Präsident bekanntlich nicht zu genau ...
Ich wünsche Ihnen einen Montag, an dem Sie in die Ferne sehen – und den Blick für die Nähe nicht verlieren. Morgen schreibt t-online-Chefredakteur Florian Harms wieder für Sie.
Ihr Mauritius Kloft
Ressortleiter Politik und Wirtschaft
X: @Inselkloft
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Mit Material von dpa.
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