Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Es ist nicht zu fassen
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Auch Politiker sind nur Menschen. Mal leisten sie gute Arbeit, mal machen sie Fehler. Manche Politiker machen mehr recht als schlecht, bei anderen ist es umgekehrt. So ist das eben in einer Demokratie, in der sich die Politiker aus der heterogenen Bevölkerung rekrutieren. Deshalb sollte man nicht verallgemeinern oder gar alle Politiker über einen Kamm scheren. Das wäre unfair.
Mit einer Ausnahme allerdings. Einen Politikertypus gibt es, der hat so viel Schlechtes über die Bevölkerung gebracht, dass ein Muster zu erkennen ist. Dieser Politikertypus heißt CSU-Verkehrsminister. Er hat entscheidend dazu beigetragen, die Mobilität im größten EU-Staat Deutschland herunterzuwirtschaften, die Bevölkerung zu frustrieren und das Vertrauen in die Politik zu beschädigen. Peter Ramsauer war von 2009 bis 2013 Verkehrsminister, Alexander Dobrindt von 2013 bis 2017, Christian Schmidt kommissarisch von 2017 bis 2018 und Andreas Scheuer von 2018 bis 2021. Alle vier sind CSU-Männer, und zusammen haben sie so viele Schäden angerichtet, dass keine zehn Tagesanbrüche ausreichen würden, um sie alle aufzuzählen. Den riesigen Etat des Verkehrsministeriums verwendeten sie, um schicke Umgehungsstraßen in Bayern zu bauen, wider besseres Wissen die Autobahn-Maut in den Sand zu setzen und teure PR-Termine zu veranstalten. Währenddessen ließen sie unzählige Autobahnbrücken und das 33.000 Kilometer lange Schienennetz der Deutschen Bahn verrotten.
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Ihren Karrieren hat das nicht geschadet. Herr Ramsauer sitzt seit seinem Eintritt 1990 bis heute im Bundestag, wo er auf der Liste der Abgeordneten mit den größten Nebenverdiensten stets weit oben auftaucht. Herr Dobrindt hat sich ins Amt des Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe gerettet, Herr Schmidt hat den Posten des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina ergattert. Und Andi Scheuer? Versilbert seine politischen Kontakte als Berater und Vermögensverwalter.
Die Herren sind also fein raus. Ihr kollektives Erbe hingegen ist desaströs. Die Bahn ist heute ein Sanierungsfall. Milliardenverluste reißen Löcher in die Bilanz, tägliche Verspätungen und Zugausfälle nerven die Bevölkerung, immer mehr Bürger wenden sich von der Bahn ab – und das mitten in der Klimakrise.
Die ehemaligen Verkehrsverhinderungsminister tragen die Hauptschuld an der Misere, aber die wechselnden Bahn-Manager haben eine erkleckliche Mitschuld. Von Mehdorn über Grube bis Pofalla immer dasselbe Muster: Probleme wurden ignoriert oder schöngeredet, während man großspurige Pläne ankündigte, dabei aber die Umsetzung vergaß. Üppige Boni kassierten sie trotzdem.
Die Ampelkoalition hatte geschworen, diesen Augiasstall auszumisten, doch der aktuelle Verkehrsminister Volker Wissing von der FDP hat mittlerweile kapituliert. Für die Generalsanierung der Bahn bräuchte er sehr viel zusätzliches Geld, aber das gibt der Haushalt nicht her, weil sein Chef Christian Lindner auf der Schuldenbremse besteht. Also tut Herr Wissing das, was alle Politiker tun, die sich aus einer Bredouille befreien wollen: Sie schieben den Schwarzen Peter jemand anderem zu und setzen diesen unter Druck. Deshalb hat Wissing den gegenwärtigen Bahnchef Richard Lutz verdonnert, ein großes Sanierungskonzept vorzulegen.
Und Herr Lutz, der bisher nicht durch großartige Management-Leistungen aufgefallen ist, hat gehorcht: Heute präsentiert er dem Aufsichtsrat sein Sanierungsprogramm für den Staatskrisenkonzern. Das 110-seitige Papier hat er in feinster Marketing-Sprache mit dem griffigen Titel "S3" überschrieben. Damit meint er die drei Sanierungsfelder Infrastruktur, Betrieb und Wirtschaftlichkeit; in den kommenden drei Jahren will er die Bahn wieder profitabel und pünktlich machen.
Wer sich das Konzept genauer anschaut, stellt allerdings rasch fest: Fast sämtliche Ziele und auch den Weg dorthin hat Herr Lutz exakt so schon vor fünf Jahren versprochen – und zwar für 2024, also für dieses Jahr. Eingelöst haben er und seine Chef-Kollegen davon jedoch so gut wie nichts. Im Gegenteil: Die Krise der Bahn hat sich verschlimmert.
Das kommt nicht von ungefähr, sondern ist auf handfeste Managementfehler zurückzuführen. Interessiert liest man beispielsweise, dass die Bahn-Häuptlinge sich bei der Personalplanung völlig verkalkuliert haben: Die aktuellen Kosten liegen mehr als sechs Milliarden Euro über der Planung. Deshalb wollen die Manager in den kommenden Jahren mehr als 30.000 Stellen streichen. Wie sich das auf die Qualität und die Pünktlichkeit der Züge auswirkt, können Sie sich denken. Auch die geplante Digitalisierung des Schienennetzes wird wohl auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Stattdessen will man angeblich analoge Technik aus den – halten Sie sich fest – 1990er Jahren einbauen. Einen entsprechenden Bericht hat die Bahn-Chefriege zwar dementiert, allerdings auch keinen Plan vorgelegt, wie sie die notwendigen 54 Milliarden Euro für die digitale Runderneuerung aufzubringen gedenkt. Stattdessen wurde der Manager suspendiert, der das Konzept umsetzen sollte. War er frustriert und hat Interna ausgeplaudert?
Unterm Strich bleibt der Eindruck zurück: Da wird heute kein Sanierungs-, sondern ein Schönwetterkonzept präsentiert. Verkehrsministerium und Bahn-Management brauchen dringend gute Nachrichten, also denken sie sich halt irgendwas Schönes aus. Umsetzen müssen es dann die nächste Bundesregierung und womöglich bald ein neuer Bahnchef. Für Herrn Lutz wird man sicher ein anderes schönes Pöstchen finden.
Falls Sie nun denken: Das ist doch alles nicht zu fassen! Ja, dann sind Sie sicher nicht allein.
Urteil Nummer 1
Ein zentraler Teil der parlamentarischen Arbeit findet in Ausschüssen statt, 27 sind es an der Zahl. Dort werden Fachthemen beraten und Beschlüsse im Plenum vorbereitet. Ihre Zusammensetzung, so regelt es die Geschäftsordnung, soll ein Spiegelbild des Bundestages sein – und auch die Besetzung der Vorsitzposten in den Ausschüssen soll im Verhältnis zur Stärke der einzelnen Fraktionen stehen. Demnach stünden der AfD drei Vorsitz-Stellen zu. Weil aber deren Kandidaten in geheimen Wahlen allesamt durchfielen, zog die Partei vors Bundesverfassungsgericht. Außerdem klagt sie gegen die nach mehreren Eklats erfolgte Abwahl ihres Abgeordneten Stephan Brandner als Vorsitzender des Rechtsausschusses.
Wenn die Karlsruher Richter heute ihr Urteil verkünden, betreten sie auf jeden Fall Neuland: Bislang reichte die Geschäftsordnung aus, um die demokratische Praxis zu regeln. Nun aber bedarf es einer Abwägung zwischen dem Recht der Fraktionen auf Vorsitz-Stellen und dem Recht der Ausschüsse, ihre Vorsitzenden demokratisch zu wählen.
Urteil Nummer 2
Vor gut einer Woche hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwei weitreichende Urteile gegen Digitalkonzerne gefällt: Er bestätigte eine Geldbuße gegen Google von 2,4 Milliarden Euro und verpflichtete Apple zu einer Steuernachzahlung von 13 Milliarden Euro.
Heute entscheidet das dem EuGH nachgeordnete EU-Gericht (EuG) in Luxemburg über einen ähnlichen Fall: Es geht um die Frage, ob Google bei Suchmaschinen-Werbung im Dienst "AdSense for Search" andere Anbieter unzulässigerweise behinderte und eine 2019 von der EU-Kommission gegen den Konzern verhängte Geldbuße in Höhe von 1,49 Milliarden Euro gerechtfertigt war. Gegen das heutige Urteil kann Google zwar noch vor den Europäischen Gerichtshof ziehen. Mehr europäischer Widerstand gegen die geschäftsschädigenden Praktiken der amerikanischen Digitalkonzerne ist allerdings bitter nötig.
Richtungsentscheidung
Um 20 Uhr unserer Zeit ist es so weit: Dann gibt Jerome Powell, Chef der US-Notenbank Federal Reserve, die Entscheidung seines Hauses zum weiteren Kurs in der Geldpolitik bekannt. Analysten gehen davon aus, dass die Fed ihren Leitzins erstmals seit mehr als vier Jahren senkt. Aktuell liegt er in einer Spanne von 5,25 bis 5,5 Prozent – der höchste Stand seit mehr als 20 Jahren. Uneinigkeit herrscht bei den Experten lediglich darüber, ob die Senkung 0,25 Prozentpunkte oder sogar 0,5 Prozentpunkte betragen wird – und ob dies angesichts einer weiter schwelenden Inflation überhaupt klug wäre.
Das historische Bild
Als Komiker war Charlie Chaplin weltberühmt. Weniger bekannt ist, dass er mächtige Feinde hatte. Mehr erfahren Sie hier.
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Ohrenschmaus
Wie hat der Merz den Söder wohl bezirzt, dass der ihm die Kanzlerkandidatur überlässt? Vielleicht hat er sich ähnlich ins Zeug gelegt wie der größte amerikanische Sänger. Nur hatte der andere Ziele im Blick.
Zum Schluss
Markus Söder ist mal wieder fein raus.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von David Schafbuch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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