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Syrien: Rebellen-Offensive gegen Assad-Regime – Lage nach Aleppo-Eroberung


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Überraschungsoffensive in Syrien
Assad kämpft ums Überleben


02.12.2024 - 17:56 UhrLesedauer: 6 Min.
imago images 0782796331Vergrößern des Bildes
Aufständische sitzen und stehen nahe Aleppo um ein Lagerfeuer herum: Islamistische Gruppen haben die Millionenstadt am Samstag erobert. (Quelle: IMAGO/Rami Alsayed/imago)

Mit einer Offensive haben aufständische Gruppen in Syrien das Assad-Regime überrumpelt. Steht der Diktator nun vor dem Aus? Oder kann er wieder auf Hilfe aus Russland und dem Iran zählen?

Sie haben Baschar al-Assad auf dem gänzlich falschen Fuß erwischt. Seit dem vergangenen Mittwoch schreitet eine Offensive aufständischer Gruppen gegen das Regime des syrischen Machthabers mit großen Schritten voran. Innerhalb weniger Tage ist es den Oppositionellen gelungen, die Millionenstadt Aleppo in Nordsyrien zu erobern. Fast ohne Gegenwehr überließen die Regimetruppen ihren Gegnern das Gebiet. Und schon bald könnte die nächste strategisch wichtige Großstadt folgen.

Die Gemengelage in Syrien, wo seit 2011 ein blutiger Bürgerkrieg tobt, ist komplex. Während das Assad-Regime von internationalen Mächten wie Russland und dem Iran sowie der Hisbollah-Miliz im Libanon unterstützt wird, stehen mehrere Akteure mit unterschiedlichen Interessen an der Seite der Opposition. Sie vereint vor allem das Ziel, die Herrschaft Assads zu stürzen. Der Moment dafür könnte reif sein.

Noch gibt sich Assad kämpferisch, kündigte am Sonntag die "Zerschlagung des Terrorismus" in seinem Land an. Doch seine Truppen und auch seine Unterstützer scheinen zumindest geschwächt. Steht das Assad-Regime in Syrien jetzt also kurz vor dem Fall? Wie könnte sich die Situation in den kommenden Wochen entwickeln?

Drei wichtige Fragen zur syrischen Überraschungsoffensive

Auch der Militärexperte Ralph Thiele hat beobachtet, dass Assads Soldaten vom Vormarsch der Oppositionellen "völlig überrascht" wurden. Im Gespräch mit t-online sagt er: "Die Regierungstruppen waren darauf kaum vorbereitet."

(Quelle: privat)

Zur Person

Ralph Thiele (*1953) ist Oberst a. D. der Bundeswehr und Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft. Darüber hinaus ist Thiele Chef des deutschen Ablegers der Denkfabrik Eurodefense und der Beratungsfirma Stratbyrd Consulting. Zuvor war der Militärexperte unter anderem im Planungsstab des Bundesverteidigungsministers sowie im Büro des Nato-Oberbefehlshabers tätig.

Innerhalb weniger Tage ist es den von der Islamistengruppe Hajat Tahrir al-Schram (HTS) angeführten Milizen gelungen, Aleppo zu erobern. Die Gruppe ist aus dem Al-Qaida-Ableger Nusra-Front hervorgegangen, hat sich jedoch schon vor sieben Jahren von dieser losgesagt. HTS war zuletzt vor allem in den Regionen Idlib und Aleppo aktiv – wohl auch deshalb konnte sie ihre Offensive auf die gleichnamige Stadt gut vorbereiten. Eine Übersicht über die Fraktionen im syrischen Bürgerkrieg lesen Sie hier.

Für die Entwicklungen der kommenden Wochen werden gleich mehrere Fragen entscheidend, sagt Thiele: "Gelingt es Assad mit seinen Unterstützern schnell, die Aufständischen zurückzuschlagen? Wie weit reichen die Vorbereitungen der Aufständischen? Und wer hat sie dermaßen aufgerüstet, dass diese Offensive überhaupt so erfolgreich verlaufen konnte?"

Gelingt den Aufständischen der Vorstoß bis Homs?

Die wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes sind Russland und der Iran. Beide Mächte haben es überhaupt erst am Leben gehalten, als im syrischen Bürgerkrieg schon ein großer Teil des Landes an oppositionelle Gruppen gefallen war. Insbesondere massive russische Luftangriffe, durch die auch Aleppo weitgehend zerstört wurde, verhalfen Assad zum Machterhalt. Derzeit kontrolliert sein Regime gut zwei Drittel des Landes.

Nach der Eroberung Aleppos haben die Aufständischen schon das nächste Ziel im Auge: Hama. 2011 war die 500.000-Einwohner-Stadt das Zentrum des Arabischen Frühlings in Syrien, der zum Anstoß des Bürgerkriegs wurde. Neben dieser symbolischen Bedeutung liegt in Hama jedoch auch eine Zufahrtsstraße Richtung Mittelmeer, die die Aufständischen dem Assad-Regime nehmen wollen. Die Straße führt auch nach Latakia, wo große Teile der alevitischen Regime-Eliten herkommen.

"Das nächste Ziel wäre dann Homs", sagt Thiele. Hier liegt die letzte Zufahrtsstraße zum Mittelmeer, zudem ist Homs die letzte Großstadt auf dem Weg zur Hauptstadt Damaskus. Doch aktuell sehe es danach aus, dass das Regime seine Truppen von Hama nach Homs zurückzieht, "um einen Gegenschlag vorzubereiten", erklärt der Militärexperte. "Wie hart dieser ausfällt, hängt vorrangig vom Umfang der Unterstützung des Regimes von Russland und dem Iran ab." Beide Länder müssten nun strategische Entscheidungen treffen.

Diese Interessen haben Russland und der Iran in Syrien

Laut Thiele hat der Iran in Syrien vor allem ein großes Interesse: "Über Syrien läuft der einzige Landweg zur Versorgung der Hisbollah-Miliz im Libanon." Iran ist derzeit wegen der jüngsten Auseinandersetzungen mit Israel stark geschwächt, dennoch könnte das Mullah-Regime die Unterstützung für seinen Verbündeten Assad ausbauen. "Möglicherweise könnte der Iran Syrien mit Drohnenlieferungen aushelfen, wie man es schon mit Russland in der Ukraine getan hat."

Auch für Moskau sind Hilfen für Assad längst keine Selbstverständlichkeit mehr: "Russland ist durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine militärtechnisch derzeit auf Kante genäht", gibt Thiele zu bedenken. Eine erneut so umfangreiche Unterstützung, wie man sie dem Assad-Regime ab 2015 zukommen ließ, stehe daher zumindest infrage. Russland hatte wegen des Ukraine-Kriegs bereits ab 2022 Kampfflugzeuge aus Syrien abgezogen.

Abschreiben sollte man Moskau derweil nicht, so Thiele. "Auch Russland hat ein Interesse in Syrien: In Tartus hat man den einzigen Mittelmeerhafen mit Marinebasis, der auch für alle Afrika-Operationen relevant ist. Diesen Hafen wird Putin ungern hergeben." Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte Assad am Montag bereits die Unterstützung seines Landes zu. Man setze seine Kontakte fort und "analysiere die Situation", so Peskow.

"Syrien wird vermutlich erneut in einer Art Limbo-Situation enden"

Insgesamt hält es der Militärexperte deshalb für wahrscheinlich, dass Putin und die Mullahs Assad in Syrien erneut zu Hilfe eilen werden. Fraglich sei nur, ob diese Unterstützung ausreichen wird. Denn die Aufständischen seien "hoch motiviert", sagt Thiele. "Sie werden eroberte Gebiete, wenn überhaupt, nur nach hartem Kampf zurückgeben." Dazu hätten sie während ihrer Offensive allerlei schweres Militärgerät erobert und seien daher gut ausgerüstet. Andererseits zählten sie laut Thiele bislang nur rund 10.000 Mann, also keine besonders große Truppe.

Dass sie Assad mit dieser Truppenstärke stürzen können, hält Thiele für unwahrscheinlich: "Derzeit kann ich mir kaum vorstellen, dass sie dem Regime langfristig die Stirn bieten können. Es kommt dabei aber auch auf den Westen an und wie er in der Region angesichts der neuen Situation agiert." Möglicherweise könnten westliche Länder aufseiten einer oder mehrerer Rebellengruppen mit Waffenhilfen Unterstützung leisten – wenn dies nicht schon längst getan wurde.

Ohne Zustimmung der Türkei etwa ist die aktuell laufende Offensive in Syrien kaum denkbar. Das zumindest glaubt auch der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Ramy Abdel Rahman: "Die Türkei weiß über die Operation Bescheid, sie kennt ihre Einzelheiten und hat grünes Licht gegeben", zitiert ihn die "Tagesschau".

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Militärexperte Thiele erwartet einen ungewissen Ausgang der neu entfachten Kämpfe: "Syrien wird vermutlich erneut in einer Art Limbo-Situation enden." Möglicherweise könnten die Aufständischen einige der neugewonnenen Gebiete behaupten. Doch: "Assad wird wohl weitermachen können", erklärt Thiele mit Blick auf das wahrscheinliche Einschreiten Russlands und des Iran. Moskau hatte bereits in den vergangenen Tagen mit punktuellen Bombardements die Regimetruppen im Kampf gegen die HTS-Einheiten unterstützt.

Russland wird wohl erneut unterstützen

Die Luftangriffe sollen nun auch fortgeführt werden, erklärt der syrische Generalstab. Laut eigenen Angaben hat die Armee Truppen rund um die umkämpften Regionen in Stellung gebracht. "Unsere Streitkräfte haben begonnen, sich auf mehreren Achsen in den ländlichen Gebieten von Aleppo, Hama und Idlib zu bewegen, um die Terroristen einzukreisen", heißt es in einer Mitteilung am Montag. Zudem soll bereits Verstärkung pro-iranischer Milizen aus dem Irak in Syrien eingetroffen sein.

Video | Rebellen stürmen Assads prunkvolle Villa in Aleppo
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Quelle: t-online

Für den syrischen Diktator kommt es laut Thiele nun vor allem darauf an, den Vormarsch der Aufständischen zu verlangsamen oder sogar zu stoppen. "Wenn Assad die kommenden zwei Wochen übersteht, haben Russland und der Iran ausreichend Zeit, um ihre Planungen voranzutreiben und das Regime dann schlagkräftig zu unterstützen." Mit einem konzertierten Gegenschlag rechne er allerdings erst in gut drei Monaten.

"Die Türkei wird das neue Chaos in Syrien nutzen"

Die Situation in Syrien bleibt also voraussichtlich dynamisch. Das liegt auch daran, dass die Oppositionsgruppen nicht homogen aufgestellt sind. Während das Hauptaugenmerk derzeit auf der Offensive der HTS-Islamisten liegt, sind in Nordsyrien noch weitere Gruppen aktiv. Allen voran sind da Kurdenmilizen, die den Großteil des Nordostens, aber auch Gebiete im Osten Aleppos kontrollieren. Zudem kämpfen in Nordsyrien von der Türkei unterstützte Milizen, die speziell gegen die Kurden vorgehen. Und es gibt in Syrien noch immer vereinzelt Zellen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS).

"Die Kurden haben sich zuletzt vor allem damit beschäftigt, ihre eigenen Gebiete zu schützen", erklärt Militärexperte Thiele. "Die Türkei wird das neue Chaos in Syrien allerdings nutzen, um die Kurden zu schwächen." Seit Jahrzehnten versuchen Kurden auch mit Waffengewalt, einen eigenen, unabhängigen Staat aufzubauen. Kurdisch dominierte Gebiete liegen sowohl in der Türkei als auch in Syrien und dem Irak, was dieses Vorhaben erschwert. Die Türkei hat bewaffnete Kurdeneinheiten in den vergangenen Jahren militärisch weitgehend von ihrem Territorium verdrängt.

Somit kämpfen zahlreiche Gruppierungen mit unterschiedlichen Interessen in Syrien. Vieles ist nach der Offensive der Opposition noch unklar – auch, wie sehr die Islamisten innerhalb der HTS das Vorgehen der Milizen bestimmen. Nur allzu frisch sind Erinnerungen an brutale Massaker des IS in Syrien und dem Irak. Die HTS-Milizionäre haben bisher wohl noch keine Gräueltaten verübt. Diese Situation müsse weiter beobachtet werden, erklärt Ralph Thiele. "Noch sind sie dabei, die neu eroberten Territorien unter ihre Kontrolle zu stellen und ihre Macht auszubauen. Erst bald – womöglich in den kommenden Wochen – könnte sich ihr wahres Gesicht zeigen."

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Ralph Thiele
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
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