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Bahnchaos, Bürokratie, Klimakrise: Deutschland braucht die Mentalitätswende


Tagesanbruch
Die trägen Deutschen

MeinungVon Mauritius Kloft

Aktualisiert am 23.10.2024 - 07:13 UhrLesedauer: 6 Min.
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Schlechte Laune in Deutschland: Wie schaffen wir es da heraus zu kommen?Vergrößern des Bildes
Schlechte Laune in Deutschland: Wie schaffen wir es da heraus zu kommen? (Quelle: stefanamer/getty-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

heute früh möchte ich Sie etwas aus Ihrer Komfortzone holen. Daher beantworten Sie einmal folgende Fragen für sich: Wann haben Sie das letzte Mal darüber sinniert, aus Ihrem Alltag auszubrechen? Wann haben Sie etwas gemacht, das Sie sich zuvor nicht getraut haben? Wann eine Idee tatsächlich umgesetzt, die Ihnen gekommen ist?

Warum ich Sie das alles frage? Weil mein Eindruck ist: Die Deutschen sind träge geworden, sie meckern gerne, aber scheuen dennoch die Veränderung. Anstatt neue Ideen und Visionen für die Zukunft zu entwickeln, ruhen sie sich lieber auf den Erfolgen der Vergangenheit aus und ignorieren, dass sich der Wind längst gedreht hat.

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Große Innovationen? Fehlen. Das aber ist fatal. Denn diese Trägheit zieht sich durch alle Schichten und Institutionen der Gesellschaft – sie befällt sowohl Privatpersonen als auch Firmen, Behörden und Politiker.

Einer, der sich täglich mit der Gesellschaft und der Mentalität der Deutschen beschäftigt, ist der Transformationsforscher Stefan Selke. Er forscht und lehrt an der Hochschule Furtwangen zu sogenannten Zukunftsnarrativen – also der Frage, wie wir die Zukunft betrachten und formen wollen. Im Interview sagte er mir: "Der Glaube an eine stabile Normalität ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Im Umkehrschluss haben wir Deutschen dabei aber eine passive Vermeidungskultur entwickelt." Das bedeutet: Die Gesellschaft passt sich stets äußeren Umständen an, anstatt einen echten Aufbruch anzustoßen.

Die Beispiele für diese Kultur sind zahlreich. Ich will nur auf ein paar eingehen.

Zunächst ein altbekanntes: die Deutsche Bahn, "Deutschlands liebstes Sorgenkind in Sachen Anpassung", wie Experte Stefan Selke den Staatskonzern nennt. Im ersten Halbjahr 2024 ist die Bahn so unpünktlich gewesen wie lange nicht. Nicht mal zwei Drittel aller Züge erreichten ihr Ziel planmäßig. Steckdosen und WLAN funktionieren in den ICEs im Regelfall ebenfalls nicht. Und die Informationspolitik der Bahn bei Verspätung, Zugausfällen oder geänderter Wagenreihung? Ist genauso unzuverlässig wie die Bahn selbst.

Doch nun will die Bahn etwas tun, die alten Strukturen aufbrechen. Der Vorstand um Chef Richard Lutz wagt einen – ich hoffe, Sie verzeihen mir den Sarkasmus – schier bahnbrechenden Vorstoß. In einem aktuellen Brandbrief an die Manager des Konzerns heißt es, in Meetings müsse es künftig um "konkrete" Lösungsvorschläge gehen. Alternativ solle "zumindest eine konkrete Methodik zur Entwicklung eines Lösungsvorschlags aufgesetzt werden". Und weiter schreibt der Bahnvorstand: "Für jede Aufgabe und jedes Ergebnis gibt es genau EINE verantwortliche Person." Ich bin sprachlos: Klare Verantwortlichkeiten und Ziele soll es bei der Bahn künftig geben. Man fragt sich, wie die Bahn bisher gearbeitet hat – und wird vom nächsten Bahnchaos daran erinnert.

Nicht nur der Bahnkonzern ist träge. Auch andere Firmen in Deutschland lassen die Zukunft mehr oder weniger auf sich zukommen – ohne groß aktiv mitzuwirken. Den deutschen Autobauern droht mit dem Verbrenner-Aus 2035 ein böses Erwachen, denn noch können sie kaum Deutsche von ihren wenigen teuren E-Autos überzeugen. Zusätzliche Konkurrenz kommt aus Fernost, mit den Angeboten chinesischer Start-ups können VW und Co. nicht mithalten.

Die gesamte deutsche Wirtschaft befindet sich derweil in einer Art Schockstarre. Für die Bundesrepublik prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) 2024 das schwächste Wachstum aller führenden westlichen G7-Industriestaaten. Um es genauer zu sagen: Der IWF erwartet schlicht gar kein Wachstum, null Prozent. Und im kommenden Jahr könnte Deutschland der Vorhersage nach gemeinsam mit Italien das Schlusslicht beim Wachstum der Wirtschaftsleistung werden.

Gleichzeitig lähmt die Bürokratie Deutschland. Galten 2014 insgesamt 1.671 Gesetze mit 44.216 Einzelnormen, so waren es zehn Jahre später bereits 1.792 mit insgesamt 52.155 Normen. Jeder, der schon einmal mit einer Behörde Kontakt hatte, weiß: Deutsche Ämter klammern sich an Paragrafen und Verordnungen, die ihnen die Politik vorgibt. "Die Politik und ihre beratenden Kommissionen sind oft angstgeleitet. Es geht ihnen vor allem um Sicherheit und Absicherung", sagt Experte Stefan Selke dazu.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist gut, dass es Gesetze und Normen gibt – doch sie dürfen nicht überhandnehmen. Dabei hat die Ampel schon mit Bürokratieentlastungsgesetzen versucht, gegenzusteuern. Vier Stück sind es mittlerweile.

Zumal auch in den Köpfen der Deutschen die Angst herrscht. Viele Menschen sind skeptisch, was Künstliche Intelligenz (KI) angeht, wollen weiter nur mit Bargeld anstatt mit Karte zahlen oder sorgen sich davor, mit Aktien und ETFs fürs Alter vorzusorgen. Alles, was irgendwie neu ist, wird zerredet.

Und Olaf Scholz macht es vor: Der SPD-Kanzler gilt als Zögerer, als wenig inspiriert. Er ist niemand, der die Leute mitreißen kann – sondern versteckt sich lieber hinter gestelzten Formulierungen und Worthülsen.

Das sind nur einige Beispiele für die "Vermeidungskultur", die Stefan Selke anspricht. Anstatt an einen Aufbruch zu denken, mahnen und warnen die Deutschen vor Risiken, schieben die Verantwortung nach Berlin oder Brüssel – und beschweren sich, wenn es dort nicht oder nicht so geregelt wird, wie sie sich das vorstellen. Vielleicht kommt Ihnen das bekannt vor?

Es braucht deshalb eine Mentalitätswende, ein Umdenken. Insbesondere in den Chefetagen deutscher Konzerne, Mittelständler, Start-ups – sowie in Schulen, Unis, Ämtern und Regierungen. Wieder mehr Eigenantrieb, mehr Ideen und Verantwortungsbewusstsein, etwa mit Blick auf Klimawandel oder KI. Ein Ruck muss durchs Land gehen. Nur so schaffen wir den Weg raus aus der jetzigen und künftigen Krise.

Die Veränderung fängt indes beim Einzelnen an. Sich aus der Komfortzone zu wagen, können Sie im Alltag üben: Wechseln Sie einen öden Job. Suchen Sie sich ein neues Hobby. Machen Sie eine Reise, von der Sie schon lange träumen. Das mag mitunter leichter gesagt als getan sein. Dennoch: Trauen Sie sich. Der Aufbruch beginnt im Kopf.


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Ihr Mauritius Kloft
Leitender Redakteur Nachrichten & Planung
X: @Inselkloft

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Mit Material von dpa.

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