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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mentalität der Deutschen "Wir haben Anpassungsziele als Standard gesetzt"
Bahnchaos, VW in der Krise, Klimawandel: Ein Experte zeigt auf, wie der Drang nach Anpassung das Land ausbremst. Und erklärt, welche Rolle Kanzler und Bundespräsident einnehmen sollten.
Deutschland steckt in einer tiefgreifenden Krise, in der das Land nicht mehr auf alte Gewissheiten setzen kann. Autobauer müssen mit Konkurrenz aus Fernost klarkommen, der Bahnkonzern schafft es nicht, seine strukturellen Probleme zu lösen – und die Politik ringt damit, wie sie mit Rezession, Kriegen und Klimakrise umgehen kann.
Im Interview mit t-online erklärt Transformationsforscher Stefan Selke, welche mentalen und strukturellen Probleme Deutschland derzeit ausbremsen. Sowohl Privatpersonen, Unternehmen als auch die Politik sollten ihre Mentalität ändern, findet er.
t-online: Herr Selke, der Eindruck, der sich aktuell bei vielen aufdrängt, ist: Die Deutschen sind träge geworden, Zukunftsvisionen fehlen. Wie fatal ist das?
Stefan Selke: Sehr fatal. Zunächst müssen wir aber klären, dass ich nicht von Visionen, sondern von Zukunftsnarrativen spreche. Genau hier zeigt sich das Problem, denn in Deutschland herrscht eine sogenannte Anpassungserzählung vor.
Das klingt etwas abstrakt. Können Sie das erläutern?
Es geht vor allem darum, sich den vermeintlich alternativlosen äußeren Umständen anzupassen, anstatt Aufbruch anzustoßen. Ein prominentes Beispiel ist die Corona-Krise: Anstatt die Chance für einen Neustart in vielen Institutionen – Hochschulen, Politik, Wirtschaft – zu nutzen, wurde der Fokus auf die Rückkehr zur Normalität gelegt. Unhinterfragt haben wir Deutschen damit Anpassungsziele als Standard gesetzt. Das sieht man auch in der Klimakrise.
Inwiefern?
Wir passen uns den Umständen an, anstelle aktiv soziale Innovationen voranzutreiben, die es in Zukunft jenseits technischer Lösungen geben sollte. Der Glaube an eine stabile Normalität ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Im Umkehrschluss haben wir Deutschen dabei aber eine passive Vermeidungskultur entwickelt.
Zur Person
Professor Stefan Selke ist Soziologe und Transformationsforscher am Public Science Lab der Hochschule Furtwangen. Zum Thema Zukunftsdenken sind von ihm folgende Bücher erschienen: "Wunschland" und "Technik als Trost". Selke hat zunächst Luft- und Raumfahrttechnik studiert – wechselte jedoch unter anderem auf Soziologie und Philosophie. Seit 2015 ist Selke Forschungsprofessor für "Transformative und Öffentliche Wissenschaft".
Wie äußert sich die?
Die Politik und ihre beratenden Kommissionen sind oft angstgeleitet. Es geht ihnen vor allem um Sicherheit und Absicherung. Es gibt keinen Ort und keinen Prozess, um das Klein-Klein zu einer großen Zukunftserzählung zusammenzusetzen. Doch Corona hat uns gezeigt, dass dieses Klein-Klein nicht hilft. Quer durch alle Institutionen gilt meist eine Mentalität als Ideal, die sich in Normalitätsverlangen, Harmoniesehnsucht und Angst vor Konflikten zeigt. So wurden wir lange sozialisiert. Ich vermisse zum Beispiel leidenschaftlich kontroverse Debatten mit Studierenden. Hochschulen sind eher ein Abklingbecken für Aufbruchserzählungen.
Sind Konflikte in einer Gesellschaft also notwendig, um voranzukommen?
Unbedingt. Konflikte sind Regulative, sie verdeutlichen Werte und helfen, Positionen zu überdenken. Im Privaten kennen wir das alle. Aber auch in Unternehmen und in der Politik braucht es Reibung, um Innovationen anzustoßen. Doch die Gesellschaft hat sich so sehr an Konfliktvermeidung gewöhnt, dass viele Menschen den Mut verloren haben, Haltungen zu entwickeln und große Schritte zu wagen.
Klingt pathetisch. Wer trägt Ihrer Meinung denn die Verantwortung für diese Misere?
Es klingt nur deshalb pathetisch, weil uns der Pathos einer zusammenhängenden Zukunftserzählung zwischenzeitlich abhandengekommen ist. Vor allem zeigt dies die aktuelle Politik. Darüber hinaus sehe ich eine enorme Verantwortung bei Hochschulen, weil hier die Verantwortlichen der Zukunft ausgebildet wird. Universitäten fördern kopierte Existenzen, also wieder einmal Anpassung. Aber auch die Gesellschaft selbst ist gefragt. Ein Bürgerrat, der debattiert, ist zwar eine erste Idee. Aber nur, wenn diese Gremien am Ende auch sagen dürfen, was die Politik nicht hören will. Ich würde mir radikalere Experimente wünschen.
Und zwar?
Einen vollkommen angstfreien Utopieraum, in dem ohne Selbstzensur gearbeitet wird und von dem aus visionäre Impulse an die Regierung gehen. Ähnlich wie ein Hofnarr früher, der die Politik durch Spott kritisierte, gleichzeitig aber die Mächtigen zum Nachdenken brachte.
Wie kann ein solches Gremium konkret aussehen?
Wenn es um Zukunft geht, müssen diejenigen dabei sein, die jung sind, die die Zukunft betrifft. Zudem sind maximale Kontraste gefordert, also nicht nur Experten, sondern auch Künstler und Lebenskünstler aller Art. Aufbruch beginnt dort, wo man bewusst andere Meinungen abfragt. In einer solchen Utopiefabrik könnte man 10 bis 15 sehr unterschiedliche Leute ein paar Wochen zusammenbringen. Dabei entstehen mit Sicherheit Anregungen für den Aufbruch.
Kritiker werden sagen: Das ist ein weiteres, abgehobenes Gremium, das wieder nur Geld verschlingt.
Das mag sein. Doch verglichen mit dem, was für Gutachten oder Politikberatung aufgewendet wird, ist das marginal. Die Deutschen geben Milliarden für juristische Gutachten aus, um sich abzusichern, anstatt präventiv ein Zukunftslabor zuzulassen, was nur ein Bruchteil dessen kosten würde, aber die Chance auf echte Überraschungen bietet.
Doch bis wir als Gesellschaft weg von den üblichen Anpassungsnarrativen sind, wird es ohnehin dauern, oder?
Das ist wohl so. Ich glaube jedoch, der Zeitraum spielt zunächst eine untergeordnete Rolle. Bei einer Zukunftsmission sollten Politiker nicht nur in Legislaturperioden denken – sondern über mehrere Generationen. Das ist der Unterschied zwischen einer Mission und einem Projekt.
Ein hehrer Wunsch, der in der aktuellen Krisensituation aber nicht helfen kann.
Oder gerade doch? Denn es ist nachvollziehbar, dass in der Betriebsamkeit in Wirtschaft oder Politik das langfristige Denken verloren geht. Allerdings brauchen wir Ideen für eine Gesellschaft nach der Krise. Dafür muss sich niemand 30 Jahre ins Kloster zurückziehen. In einer zukunftsgewandten Gesellschaft sollte es aber immer auch Menschen geben, die mit utopischen Gedanken spielen. Viele Unternehmen, vor allem im Dax, sind in veralteten Strukturen gefangen. Ein klassisches Beispiel ist die Deutsche Bahn, Deutschlands liebstes Sorgenkind in Sachen Anpassung. Das Motto lautet: Warten auf Veränderung. So aber erreicht Deutschland weder eine Vormachtstellung für Künstliche Intelligenz noch schaffen wir gemeinsam die Klimawende.
Wie ließe sich diese Passivität aufbrechen?
Eigentlich bräuchte jedes größere Unternehmen einen Vorstand oder Sonderbeauftragten für Zukunftsdesign. Dieser müssen abgekoppelt vom regulären Belohnungs- und Bestrafungssystem des Konzerns arbeiten, wobei die Hauptarbeit im visionären Zögern bestünde. Denn im Zögern unterscheidet sich das Denken von der Arbeit. Unsere Gesellschaft ist sehr gut darin, schlaue Pläne zu machen, zum Beispiel neue Gesetze zu verabschieden. Was wir kaum noch können: Eine emotionale Verbindung zu diesen schlauen Plänen herzustellen. Man arbeitet vielerorts sachlich und rational, aber ohne Leidenschaft – übrigens nicht nur in Deutschland. Wenn ich ein Beispiel geben dürfte.
Gerne.
Ich habe einmal den Start eines Satelliten bei einer Weltraumagentur erlebt. Die Manager haben nach elf Jahren harter Arbeit nur kurz applaudiert und sind dann gleich wieder zurück in ihre Büros gegangen. Da fehlte jede Spur von Emotion. Das zeigt die Distanz zu dem, was eigentlich Euphorie auslösen müsste. Es mag wie Professionalität aussehen, aber ich plädiere dafür, dass Unternehmer oder Politiker mit mehr Euphorie über ihre Vorhaben sprechen. Denn diese Zukunftseuphorie springt auf die Menschen über und damit entsteht eine neue Mentalität.
Wie etwa in den USA?
Genau, obwohl man hier vorsichtig sein muss. In den USA gibt es zahlreiche Technik-Gurus, die den Bezug zur Wirklichkeit verloren haben. Wir sollten diese Mentalität nicht eins zu eins kopieren und etwa unreflektiert auf einen neuen Steve Jobs warten. Aber: Von der Mentalität der Zukunftsoffenheit lernen und uns von der Freude am Spekulativen anstecken lassen. Wir sollten vor allem keine Angst davor haben, selbst euphorisch zu sein.
Olaf Scholz wird vorgehalten, auch nicht der euphorischste Mensch zu sein.
Das ist richtig. Er ist immer sehr auf seine Arbeit konzentriert. Und sicher: Scholz ist von der Ausstrahlung kein John F. Kennedy. Scholz ist nach außen hin nicht der emotionalste Mensch. Aber das muss er auch nicht sein – ein Kanzler ist für mich eher ein Moderator der Unübersichtlichkeit.
Führen Sie das bitte aus.
Ich glaube, Menschen werden bisweilen durch Ämter verformt. Würde sich jemand im Wahlkampf zu emotional präsentieren, würde ihm das als Schwäche ausgelegt werden. Vielleicht könnte in Deutschland stattdessen der Bundespräsident die Rolle eines Visionärs einnehmen? Er ist von politischen Entscheidungen losgelöst und hätte dann mehr denn je die Möglichkeit, den Menschen Hoffnung zu vermitteln.
Sehen Sie in Frank-Walter Steinmeier diese Figur?
Nein. Er predigt eher, anstatt vitale Euphorie zu verbreiten. Eigentlich ist das Amt des Bundespräsidenten aber dafür ausgelegt, Menschen mitzureißen. Die Leute haben genug von schlauen Plänen und Trägheit. Sie wollen berührt werden, gerade auch von einem Bundespräsidenten. Oder anderen Politikern. Dafür braucht es Wildheit im Denken anstatt nur sozial erwartbarer Aussagen im Kreis von Lieblingsintellektuellen.
Wenn wir auf die aktuellen Krisen blicken, sehen wir: Rezession, Kriege, Klimawandel. Es sieht alles andere als rosig aus. Schauen Sie ernsthaft positiv in die Zukunft?
Ja. Wenn ich Vorträge über Zukunftseuphorie halte, entsteht oft etwas Magisches im Raum. Es gibt ein Bedürfnis, auch jenseits der Krise über eine positive Zukunft zu sprechen.
Macht man es sich nicht dadurch etwas zu einfach?
Nein, nur wer sich ständig anpasst, macht es sich zu einfach. Weder sollten wir die Lust an der Apokalypse fördern, noch uns zu Opfern von quasireligiösen Heilsversprechen machen. Was wir fördern sollten, ist ein visionärer Pragmatismus, der die nächsten 20 Jahre überblickt. "Zeitenwende" bedeutet für mich, Zukunftseuphorie als Schaffensrausch anstatt eine stetige Rückblickssehnsucht.
Herr Selke, vielen Dank für das Gespräch!
- Telefoninterview mit Stefan Selke