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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Selenskyj über Eklat im Oval Office Dieser Foto-Ordner wurde ihm zum Verhängnis

Der Eklat zwischen Selenskyj und Trump hatte weitreichende Folgen. Nun erklärt der ukrainische Präsident, wie es dazu kommen konnte.
Als Wolodymyr Selenskyj am 28. Februar auf einem der gepolsterten Prunkstühle im Weißen Haus Platz nahm, links neben ihm US-Präsident Donald Trump und sein Vize J. D. Vance, wusste der ukrainische Präsident noch nicht, dass er wenige Minuten später schon wieder gedemütigt auf dem Weg nach Hause sein würde. Trump und Vance verwickelten den Gast in ein hitziges Wortgefecht, das allerlei Vorwürfe enthielt und Selenskyj augenscheinlich unvorbereitet traf. Er wand sich, verteidigte sich, suchte Deckung. Es war eine der unangenehmsten Vorführungen gescheiterter Diplomatie in der Geschichte.
Nun hat Selenskyj erstmals ausführlich erzählt, wie es zu dem Eklat kam. In einem Interview mit dem britischen "Time"-Magazin schildert er die gesamte Situation im Oval Office – und er benennt auch präzise den Moment, als das Gespräch zwischen den beiden Staatsführern kippte.
Wie es bei solchen Besuchen üblich ist, hatte Selenskyj zwei Geschenke für Trump mitgebracht. Zum einen den Weltmeisterschaftsgürtel des ukrainischen Schwergewichts-Champions Oleksandr Usyk. Der Gürtel lag rechts neben Selenskyj auf einem Tisch, bereit zur Übergabe. Ein Geschenk, das Trump sicher gefallen hätte – schließlich tat sich der Immobilienmakler seit den Achtzigerjahren auch als Veranstalter hochkarätiger Boxkämpfe in seinen inzwischen geschlossenen Luxushotels in Atlantic City hervor.
Selenskyj reicht Trump erst den Ordner
Doch Selenskyj ließ den Gürtel zunächst unangetastet. Stattdessen entschied er sich dazu, zuerst ein anderes "Geschenk" zu überreichen, das weit weniger glamourös war. Er zog einen Ordner mit Fotos von ukrainischen Kriegsopfern hervor. Von Gefangenen, die in russischer Haft Grausames erlebt hatten. Diesen Ordner reichte er Trump.
Mit finsterer Miene blätterte der US-Präsident durch die Bilder. Was er sah, verdunkelte seine Stimmung nachhaltig. Ausgemergelte, traumatisierte, gefolterte Soldaten. "That's tough stuff", murmelte Trump. "Das ist harter Tobak."
Was folgte, war eine peinliche Vorführung Selenskyjs, in der Trump und Vance den ukrainischen Gast vor den Augen der Weltöffentlichkeit unablässig attackierten und blamierten. Kräftig unterstützt von einem Reporter eines rechtsgerichteten US-Mediums, der mit der Frage, warum Selenskyj bei seinem Besuch im Weißen Haus keinen Anzug trage, noch Öl ins Feuer goss.
Die Situation eskalierte. Selenskyj zog unverrichteter Dinge wieder ab, das Rohstoffabkommen, das eigentlich nach diesem Treffen hätte unterzeichnet werden sollen, wurde nicht weiterverfolgt. Wenige Tage darauf stellten die USA ihre militärische Hilfe für das von Russland völkerrechtswidrig angegriffene Land ein, inklusive der Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen. In der Folge brach der ukrainische Vorstoß in der russischen Region Kursk innerhalb kurzer Zeit in sich zusammen. Damit verlor Selenskyj ein großes Faustpfand für künftige Friedensverhandlungen mit Russland.
Selenskyj: "Wollte ihm zeigen, wofür ich stehe"
Dennoch bereut der ukrainische Präsident es nicht, Trump die Bilder der gefolterten Soldaten gezeigt zu haben, wie er nun dem Magazin "Time" sagte. Er habe den US-Präsidenten aus dem Modus des Geschäftsmannes herausholen und mit den Bildern an seine Gefühle als Vater und Familienmensch appellieren wollen. Doch damit kam er bei dem 78-Jährigen nicht weit.
"Er hat Familie, liebe Verwandte, Kinder. Er hat doch Gefühle, wie jeder andere Mensch auch", sagte Selenskyj. "Ich wollte ihm zeigen, wofür ich stehe. Doch dann, nun ja, ist die ganze Unterhaltung in eine gänzlich andere Richtung gegangen".
Selenskyjs Entscheidung, zuerst den Bilderordner zu übergeben, könnte ein für die Ukraine kostspieliger Fehlgriff gewesen sein. Denn Trump, das ist bekannt, nimmt persönliche Angriffe nicht nur übel, er pflegt es auch, sich an denjenigen, die sie ihm zugefügt haben, zu rächen. Selenskyj hätte wohl wissen können, wie Trump funktioniert, wie er tickt, und dass es wahrscheinlich keine gute Idee ist, den Präsidenten vor laufenden Kameras mit einer unangenehmen Wahrheit zu konfrontieren.
Mary Trump: "Donalds Ego ist sehr zerbrechlich"
Denn was das beim Mann im Weißen Haus auslöst, hat seine Nichte Mary Trump bereits 2020 in einem viel beachteten Buch über ihren Onkel beschrieben: Er fühlt sich in seinem Ego gekränkt. Trump, so die Diagnose seiner Nichte, leidet unter einer schweren Form der narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
"Das geht weit über einen gewöhnlichen Wald-und-Wiesen-Narzissmus hinaus", schreibt Mary Trump, die einen Doktortitel in klinischer Psychologie hat. "Donald ist nicht einfach nur schwach, sein Ego ist ein sehr zerbrechliches Ding, es muss ständig bestärkt werden, weil er tief im Inneren weiß, dass er nicht das ist, was er vorgibt zu sein."
Selenskyj hat Trumps psychische Konstitution offenbar falsch eingeschätzt. Denn es kann sein, dass der US-Präsident nicht, wie vom ukrainischn Präsident angenommen, "Gefühle, wie jeder andere Mensch auch" hat. Trump tickt Beobachtern zufolge anders. Konfrontiert man ihn, schlägt er gnadenlos um sich. Erfahrene Diplomaten und Staatsmänner wissen das, deswegen gehen sie zunächst auf Tuchfühlung mit dem Republikaner, bevor sie etwas an ihn herantragen. So wie zuletzt der Franzose Emmanuel Macron oder der Brite Keir Starmer. Hätte Selenskyj Trump zuerst den WM-Gürtel gegeben, wer weiß, vielleicht wäre die Sache anders ausgegangen.
Selenskyj tappte in die Falle
Dennoch bereut der 44-Jährige sein Vorgehen nicht. Im "Time"-Artikel erklärt er: "In diesem Gespräch habe ich die Würde der Ukraine verteidigt." Die Ukrainer seien ein stolzes Volk und ausgesprochene Gefühlsmenschen. Man habe vor dem Besuch im Weißen Haus gehofft, dass die USA als Verbündeter die Gefühle für das schwere Schicksal des Landes teilen. "Aber in diesem Moment gab es dieses Gefühl nicht, sondern eher das Gefühl, dass wir nicht mehr verbündet sind", räumte Selenskyj ein. Es war die zweite schwere Fehleinschätzung der ukrainischen Delegation.
Das sagte er im Gespräch mit "Time" allerdings nicht in dieser Deutlichkeit. Stattdessen wies der ukrainische Präsident noch auf etwas anderes hin, von dem er vermutet, dass es bei dem gescheiterten Gespräch eine Rolle gespielt haben könnte.
"Ich glaube, dass es Russland gelungen ist, einige Leute im Team des Weißen Hauses durch Informationen zu beeinflussen", so Selenskyj. "Sie haben den Amerikanern signalisiert, dass die Ukrainer den Krieg nicht beenden wollen, und etwas getan werden sollte, um sie an den Verhandlungstisch zu zwingen." Damit bestätigte der Präsident das, was auch erfahrene Politikbeobachter bereits unmittelbar nach dem Eklat vermuteten: Selenskyj sollte mit dem Besuch wohl in eine politische Falle gelockt werden.