Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das ist nicht vermittelbar
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser
am Wochenende habe ich Politik, wie die Ampel sie macht, bei mir zu Hause getestet. Da sitzt nämlich so ein kleiner Faulpelz, der gar nicht mehr so klein ist, und meint viel zu häufig, Familie sei ein All-inclusive-Hotelbetrieb. Sein Zimmer zum Beispiel sieht regelmäßig aus, als sei ein Hurrikan durchgezogen. Wie selbstverständlich geht er davon aus, dass es einen Zimmerservice gibt, der den Räumdienst übernimmt und ignoriert jegliche Aufforderung, selbst Hand anzulegen.
Also fragte ich ihn: "Was zieht mehr: Zehn Euro zusätzliches Taschengeld im Monat, wenn du dein Zimmer jede Woche einmal gründlich aufräumst oder einen Tag Handyverbot in der Woche, wenn nicht?" Das Teenagerkind überlegte nicht lange: "Die zehn Euro." Ich hätte es mir denken können – und Sie sich wohl auch. Belohnung zieht mehr als Strafe.
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Das dachte sich wohl auch die Ampelregierung, als sie in ihr Wachstumspaket eine Prämie von 1.000 Euro für Langzeitarbeitslose schrieb. Diese soll ausgezahlt werden, wenn sie mindestens ein Jahr lang einen sozialversicherungspflichtigen Job aufnehmen. Doch dann griff die "Bild"-Zeitung die Zahlung auf, die viele Ökonomen für sinnvoll halten, machte aus ihr die "Arsch hoch"-Prämie, befragte Bürger dazu und siehe da: Die Mehrheit findet die Prämie verständlicherweise unfair. 1.000 Euro dafür, dass jemand das macht, was die meisten ohnehin jeden Tag tun?
Plötzlich wollte in der Ampel kaum noch jemand etwas mit dem Bonus zu tun haben. Dabei war er von den drei Ampelchefs genauso wie der Rest des Wachstumspakets im Sommer beschlossen worden. Zuletzt distanzierte sich SPD-Chef Lars Klingbeil am Wochenende von ihm. Die "Hintern hoch"-Prämie ist ein Rohrkrepierer und wird sehr wahrscheinlich nicht kommen.
Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass es in der Politik nie nur um die Sache geht. Es geht vor allem darum, ob etwas vermittel- und damit auch durchsetzbar ist. Das kann man bedauernswert finden, es kann sogar ökonomisch falsch sein, doch so ist das nun mal. Die SPD scheint daraus bei ihrer Vorstandsklausur, die gestern in Berlin begann und heute endet, Lehren gezogen zu haben. Sie bringt neben einer neuen Wirtschaftsstrategie auch eine alte Prämie ins Spiel, mit der sie in den Bundestagswahlkampf ziehen will: eine Kaufprämie für E-Autos deutscher Hersteller.
Sie fragen sich jetzt, was hat das eine mit dem anderen zu tun? Sehr viel. In beiden Fällen geht es um eine Prämie, bezahlt mit Steuergeldern. In beiden Fällen soll ein Anreiz zu einem wünschenswerten Verhalten führen: der Aufnahme von sozialversicherungspflichtiger Arbeit und dem Kauf eines umweltfreundlichen Autos. Nur, in dem einen Fall ist die Zahlung vermittelbar, weil sehr viele davon profitieren, im anderen nicht. Wie ökonomisch sinnvoll sie jeweils sind, spielt dabei eine nachrangige Rolle.
Im Fall der 1.000-Euro-Prämie für Langzeitarbeitslose halten Ökonomen diese nämlich für erprobenswert. Bislang sind die Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, eher gering. Was vor allem auch an den niedrigen Löhnen für Geringqualifizierte liegt, die den Großteil der Langzeitarbeitslosen ausmachen. Die Differenz zu Transferleistungen ist zu klein, als dass es sich lohnt zu arbeiten, eine dauerhafte staatliche Bezuschussung der Arbeit aber zu teuer.
Hätte der einmalige Bonus nun tatsächlich Langzeitarbeitslose dazu gebracht, eine sozialversicherungspflichtige Arbeit aufzunehmen, hätte der Staat mehr als 25.000 Euro im Jahr gespart. So viel kostet ein Bürgergeldempfänger rechnerisch die Steuerzahler. Wenn das keine gut investierten 1.000 Euro sind. Im Grunde also eine Win-win-Situation: Lockt der Bonus in die Arbeit, ist viel Geld gespart, wenn nicht, nichts verloren.
Doch wie gesagt, vermittelbar ist er einer breiten Öffentlichkeit nicht. Auch der ältere Bruder des Teenagerkindes hätte vermutlich gegen das Zusatztaschengeld fürs Aufräumen protestiert, hatte er doch – zumindest meist und auch nur nach mehrmaliger Aufforderung – sein Zimmer von sich aus aufgeräumt.
Die E-Autokaufprämie finden dagegen die meisten gut: Wer auch immer ein neues Auto kaufen will oder muss, würde davon profitieren. Ebenso die deutsche Autoindustrie, damit auch die deutsche Wirtschaft und letztlich der Klimaschutz, denn Verbrennerautos gehören zu den größten CO2-Dreckschleudern in Deutschland.
Klingt also super, hat aber einen Haken: Sinnvoll ist das nur bedingt. Zwar kurbelt eine Prämie nachweislich den Kauf von Elektroautos an. Nachdem der seit 2016 geltende Umweltbonus für den E-Autokauf Ende vergangenen Jahres abgeschafft worden war, weil die Ampel plötzlich sparen musste, war auch der Absatz von E-Autos dramatisch eingebrochen. Allerdings hatte es auch erheblichen Missbrauch gegeben. Wie Experten berechneten, waren allein 2023 mehr als 138.000 Elektroautos mit dem Bonus gekauft und nach dem Ablauf der vorgeschriebenen Haltedauer ins Ausland verschoben worden. Zudem nutzte die Autoindustrie den Bonus, um weniger Rabatte zu gewähren.
Die Industrie hat lange verschlafen, frühzeitig auf E-Antriebe zu setzen und schaffte es nicht, wettbewerbsfähige E-Autos im Klein- und Mittelklassebereich anzubieten. Außerdem belegen Studien, dass die Entscheidung für ein E-Auto stark von der Ladeinfrastruktur abhängt, also ob es genug und günstige Ladestationen gibt. Mal ganz davon abgesehen, dass eine Prämie für deutsche Hersteller wettbewerbsrechtlich schwierig werden dürfte.
Trotzdem wird diese Prämie wie schon der alte Umweltbonus vermutlich auf breitere Zustimmung stoßen als die "Hintern hoch"-Prämie. Allerdings: Dafür, dass sie auch eine Chance hat, umgesetzt zu werden, müsste die SPD bei der Bundestagswahl erst einmal gut abschneiden. Das ist nicht gesagt. Die CDU, die momentan in Umfragen vorn liegt, ist ohnehin gegen die eine wie die andere Prämie. Sie will Totalverweigerern unter den Langzeitarbeitslosen jegliche Unterstützung streichen, bis sie eine Arbeit aufnehmen – ob das verfassungsrechtlich durchsetzbar ist, sei mal dahingestellt (die Ampel kürzt sie ihnen bereits für zwei Monate). Und bei Autos setzt die CDU auf eine Renaissance von Verbrennern – was weder der Industrie noch der Umwelt hilft.
Mein Faulpelz zu Hause hat mich übrigens dann noch überrascht: Er hat ganz ohne Strafandrohung und Zusatztaschengeld sein Zimmer aufgeräumt. Die Einsicht in die Notwendigkeit war offenbar größer. Ich fürchte, die gesellschaftspolitische Vergleichbarkeit endet spätestens hier. Mit dem Appell an Einsicht in die Notwendigkeit lassen sich keine Wahlen gewinnen.
Ohrenschmaus
Falls Sie einen guten Song zum Aufräumen brauchen: Ich empfehle diesen. Es gibt keinen besseren.
Was steht an?
Hoffnung auf Einzug ins Viertelfinale: Bundestrainer Julian Nagelsmann testet beim Spiel gegen die Niederlande ein neues Mittelfeldduo: Mit Aleksandar Pavlović (20) und Angelo Stiller (23) will er am Abend in München antreten. Gewinnt die deutsche Mannschaft, stünde sie bereits im Viertelfinale der Nations League. Zu sehen ist das Spiel ab 20.45 Uhr im ZDF.
Wie wär’s mit einer Frau? Die diesjährige Runde der Nobelpreise endet. Gegen 11.45 Uhr wird die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm den oder die Preisträger des renommiertesten Preises für Wirtschaftswissenschaften bekannt geben. Vielleicht ist zur Abwechslung mal eine Frau darunter – die Geschlechter-Bilanz der diesjährigen Nobelpreisträger ist wie schon in den Jahren zuvor eher mau: Bislang ging nur der Literaturnobelpreis an eine Frau, die Südkoreanerin Han Kang.
Und noch ein Preis: In Frankfurt am Main wird am Abend der Gewinner oder die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises bekannt gegeben. In der Endrunde stehen vier Autorinnen und zwei Autoren: Martina Hefter ("Hey, guten Morgen, wie geht es dir?"), Maren Kames ("Hasenprosa"), Clemens Meyer ("Die Projektoren"), Ronya Othmann ("Vierundsiebzig"), Markus Thielemann ("Von Norden rollt ein Donner") und Iris Wolff ("Lichtungen").
Hohe Streitgefahr: Interessant dürfte es heute bei der öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales werden. Dort geht es um das Rentenpaket II. Die Bundesregierung hat sich auf ein 500-Milliarden-Euro-Paket verständigt, das unter anderem vorsieht, das Rentenniveau mindestens bis 2040 auf dem heutigen zu halten und ein Generationenkapital einzuführen. (lesen Sie hier mehr dazu). Doch in der FDP fordern etliche, allen voran Vize Johannes Vogel, ein viel weitreichenderes Paket. Ernsthafter Streit mit der SPD droht, der das Potenzial hat, die Ampel zum Platzen zu bringen. Erst einmal werden in der Ausschussanhörung nun aber die Experten ihr Urteil fällen.
Das historische Bild
Kermit der Frosch ist ein Star. Bis er sich zum Frosch wandelte, dauerte es aber einige Jahre. Hier lesen Sie mehr.
Beliebteste Finanzdienstleister des Jahres
Zum zweiten Mal haben Tausende Leserinnen und Leser von t-online beim Online-Voting des Deutschen Publikumspreis Finanzen ihre persönlichen Erfahrungen mit Deutschlands Finanzdienstleistern geteilt. Vom 13. Mai bis 14. Juli 2024 haben rund 61.000 Teilnehmer in zehn Kategorien abgestimmt. Dabei wurden knapp 520.000 Leserstimmen ausgewertet. Das Ergebnis soll allen Leserinnen und Lesern von t-online und allen Finanzinteressierten helfen, bei zukünftigen Entscheidungen in Finanzfragen gut informiert zu sein. Von der Bank vor Ort über Bausparkassen bis zum ETF-Anbieter: Hier sind die beliebtesten Finanzdienstleister des Jahres beim Deutschen Publikumspreis Finanzen von t-online.
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Ewige Herrschaft: Wladimir Putin wird älter und älter, eine Nachfolgeregelung gestaltet sich schwierig in einer Autokratie. Strebt Russlands Herrscher daher nach Unsterblichkeit?, fragt sich t-online-Kolumnist Wladimir Kaminer.
Geschlossen, aber nicht bedingungslos: Die Union dominierte das Wochenende. Erst trat Friedrich Merz am Samstag beim CSU-Parteitag in Augsburg auf und wurde dort von den Bayern so herzlich empfangen wie wohl wenige CDU-Chefs zuvor. Ein Signal der Geschlossenheit ging von Augsburg aus, wenn auch kein bedingungsloses, schreibt Chefreporterin Sara Sievert. Am Sonntagabend war Merz dann Gast bei Caren Miosga. Wie er sich dort schlug, lesen sie hier.
Zum Schluss
Friedrich Merz' Vorsatz scheint aufgegangen zu sein.
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Start in die Woche. Morgen schreibt hier Florian Harms für Sie.
Herzliche Grüße
Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel
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Mit Material von dpa.
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