Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Eine gefährliche Sucht
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Sie erlauben mir zu Beginn – wir sind hier ja unter uns – eine Indiskretion: Im Hause Digili herrscht während dieser sportlichen Wochen im Sommer 2024 ein eisernes Gesetz – zumindest für die gewöhnlich gebietsübergreifend gut informierten Digili senior und Mama Digili. Im Zweifel hat der Junge – der Autor dieser Zeilen – Erklärungen und Erläuterungen für dies, für das und vor allem auch für jenes parat, was sich da gerade Athletisches vor den Augen der Welt zuträgt.
Der nachvollziehbare Gedanke: Er ist ja schließlich Sportjournalist, der Junge, also wird er auch enzyklopädisch über die Sportwelt in ihrer Ganzheit parlieren können. Und so schmeichelhaft dieses bei jeder sportlichen Großveranstaltung in mich gesetzte unerschütterliche Vertrauen auch ist: Es lässt mich regelmäßig meine Eignung für diesen in meiner Überzeugung besten Beruf der Welt anzweifeln, wenn ich die Fragen der lieben Eltern nach der korrekten Ausführung einer Kosakendrehung beim Turnen oder kritischen Fehlern von Dressurreiter und -pferd bei der Piaffe nur unbefriedigend zu beantworten imstande bin.
Ich habe mich aber dabei ertappt, auf eine Frage, die dieser Tage häufiger aufkam, die verschiedensten Antworten gefunden zu haben – und tatsächlich ist keine davon falsch.
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Es ist nämlich die vielleicht komplexeste Frage, die sich im Sportlerleben stellt: Wann ist der richtige Zeitpunkt, aufzuhören?
Im Zuge der Fußball-Europameisterschaft und der Olympischen Spiele sind schließlich zahlreiche deutsche und internationale Sportgrößen von Rang zurückgetreten. Angefangen bei den deutschen Fußballnationalspielern Toni Kroos (mehr dazu lesen Sie hier) und Thomas Müller (mehr dazu lesen Sie hier) über die dreimalige Tennis-Grand-Slam-Siegerin Angelique Kerber bis zu Kerbers britischem Tenniskollegen Andy Murray oder dem Turner Lukas Dauser: Sie alle haben für sich entschieden, dass es das jetzt war.
Und weitere emotionale Abschiede stehen bevor: Möglich, dass die Tenniskarriere des großen Rafael Nadal nach dem Olympia-Aus im Einzel und im Doppel ebenfalls an ihr Ende gelangt ist. Brasiliens Fußballerinnen haben ihrer durch eine Rote Karte für Viertel- und Halbfinale gesperrten Kapitänin und mehrfachen Weltfußballerin Marta zum Abschied doch noch ein Endspiel ermöglicht; die 38-Jährige spielt mit der "Seleção" am Samstag gegen die USA um die Goldmedaille von Paris.
Aber ist ein perfektes Ende überhaupt möglich? Verschiedene Blickwinkel bieten verschiedene Ansichten.
Denn natürlich hätte sich Fußballdeutschland gewünscht, dass Kroos die DFB-Elf als krönenden Abschluss seiner Karriere zum EM-Titel führt, dem letzten großen Pokal, den der Greifswalder nicht in die Höhe recken durfte. Am Ende war aber schon in einem dramatischen Viertelfinale gegen den späteren Europameister Spanien Schluss.
Und natürlich wäre es eine traumhafte Geschichte gewesen, hätte Kerber im olympischen Tennisturnier das Endspiel von Paris erreicht und sich in ihrem allerletzten Match die Goldmedaille gesichert, die sie im Finale von Rio de Janeiro 2016 noch knapp verpasst hatte.
Von Unzufriedenheit war bei beiden anschließend keine Spur, im Gegenteil. "Die Zeit war gut. Es hat großen Spaß gemacht. Ich bin sehr zufrieden. Ich hätte nicht gedacht, dass wir so schnell so nah dran sein können", erklärte Kroos in seiner bekannt nüchternen Art nach dem EM-Aus. Und Kerber resümierte noch auf dem Court Philippe-Chatrier in Paris: "Jetzt ist es also vorbei. Und es ist irgendwie verrückt. Ich habe wirklich alles in meiner Karriere erreicht, wovon ich als Kind geträumt habe."
Alles und noch mehr erreicht hat indes Kerbers Tenniskollege Novak Djoković. Der Serbe ist so üppig mit Titeln dekoriert wie kein anderer Spieler der Geschichte dieses schönen Sports, erklomm mit nunmehr 37 Jahren den letzten Gipfel, an dem er bei vier vorangegangenen Versuchen noch gescheitert war: In einem hochklassigen, denkwürdigen Olympiafinale kämpfte der "Djoker" vor wenigen Tagen den designierten nächsten Tennis-Dominator, den 16 Jahre jüngeren Carlos Alcaraz, nieder.
Wäre das nicht also der perfekte Zeitpunkt, um Schluss zu machen? Jetzt, da er endgültig alles gewonnen hat? Das vermeintlich perfekte Ende? Nach dem Endspiel schloss Djoković sogar eine weitere Olympia-Teilnahme 2028 mit dann 41 Jahren nicht aus. "Ich will in Los Angeles spielen, ich genieße es, für mein Land zu spielen."
Ist es die Euphorie, die Athleten antreibt? Die unschuldige Freude am Sport, der Wunsch, diesen Augenblick der Höchstleistung so lange wie möglich zu konservieren? Es ist ein schmaler Grat.
Nicht alle Athleten im gehobenen Sportleralter sind schließlich in einer körperlichen Verfassung wie der Gesundheitsfanatiker Djoković.
"Ich bin froh darüber, dass es bei mir am Ende keinen Niedergang gab", sagte dazu Djokovićs Tennis-Weggefährte, der mindestens ebenso große Roger Federer, dieses Jahr in einem bemerkenswerten Interview bei "GQ". Federer hatte seine Karriere 2022 erst mit 41 Jahren beendet. "Jetzt bin ich glücklich. Es ist ein komplett anderes Leben."
Dieser Gedanke an ein "komplett anderes Leben" treibt zusätzlich um. Mehr noch: Er kann Angst machen. "Ich habe mit meinem Rücktritt meine Identität aufgegeben", erklärte der frühere Formel-1-Fahrer Nico Rosberg einmal. Rosberg hatte 2016 den WM-Titel gewonnen und seine Karriere danach mit nur 31 Jahren beendet. "Alles in meinem Leben drehte sich um den Rennsport. Und dann war da auch noch diese Sucht nach Anerkennung und Erfolg. Das alles auf Null zu setzen, war ein ziemlicher Schock."
Die gefährliche "Sucht nach Anerkennung und Erfolg" kann aber den Blick auf das eigene Leistungsvermögen auch fatal trüben. Der langjährige Bundestrainer Joachim Löw war derart langjährig Bundestrainer, dass er überdies und in aller Amtsgemütlichkeit den Augenblick für einen würdevollen Abschied gleich mehrfach verpasste. Am Ende durfte Löw beim damals für den WM-Titel 2014 ewig dankbaren Deutschen Fußball-Bund noch bis 2021 weiterwurschteln und zwei Turniere (die WM 2018 und EM 2021) komplett in den Sand setzen, ehe der Schwarzwälder aus eigenen Stücken zurücktrat. Sein eigenes Denkmal hatte er da schon nachhaltig beschädigt, und nicht wenige mögen erleichtert aufgeatmet haben, dass nun frischer Wind in die DFB-Elf einziehen konnte (was dann noch bis September 2023 dauern sollte).
"Es ist immer schwer, den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören zu finden", bekannte Deutschlands Basketball-Grande Dirk Nowitzki im Februar 2022 im Podcast "Einfach mal luppen" von Toni Kroos. Denn: "Du hast immer noch Spaß, der Körper macht noch halbwegs mit und du bist noch motiviert."
Nowitzki erklärte 2019 nach 21 Jahren bei den Dallas Mavericks in der nordamerikanischen Basketball-Liga NBA seinen Rücktritt, hatte aber bereits in den Jahren zuvor mit diversen Verletzungen gekämpft. "Wenn ich zwei Jahre früher aufgehört hätte, könnte ich mich heute wahrscheinlich besser bewegen und auch mal Fußball mit meinen Kindern spielen. Das kann ich jetzt nicht."
Tennisstar Nadal wird genau wissen, wovon Nowitzki da sprach. Der mittlerweile 38-Jährige, mit Federer und Djoković der Dritte in der Phalanx der "Großen Drei", wird seit Jahren schon von Verletzungen geplagt. "Egal, ob ich weiterspiele oder nicht, ich liebe Tennis", äußerte sich der Spanier zuletzt kryptisch. Das Bewusstsein könnte eingesetzt haben, dass es mit dem Sport jetzt reicht.
Eine Einsicht, zu der auch treueste Fans großer Sportidole irgendwann gelangen müssen. Denn so schön dieses eine weitere Match, dieses eine weitere Tor, dieser eine weitere Erfolg auch wären, so perfekt eine Karriere nach allgemeinen Maßstäben auch enden könnte: Letztlich bleibt es eine höchst persönliche Angelegenheit, den Moment auszuwählen, ab dem ein neues Kapitel aufgeschlagen werden soll. Die eine Antwort auf die Frage nach dem perfekten Zeitpunkt gibt es nicht.
Aber: Digili senior und Mama Digili waren mit meinen Einlassungen zu dieser komplexen Thematik übrigens tatsächlich zufrieden.
Was steht an?
Geht der Höhenflug der deutschen Basketballer weiter? Die Mannschaft um Mannschaftskapitän und NBA-Profi Dennis Schröder kann mit einem Sieg im Olympia-Halbfinale gegen Gastgeber Frankreich ins Endspiel einziehen. Beide Teams trafen bereits in der Gruppenphase aufeinander – das Duell endete mit einem klaren 85:71-Sieg für Deutschland. Mein Kollege Alexander Kohne ist ab 17.30 Uhr vor Ort.
Und bei der Leichtathletik sind zwei deutsche Gold-Hoffnungen im Einsatz. Meine Kollegin Melanie Muschong schaut im Stade de France bei Weitspringerin Malaika Mihambo und Speerwerfer Julian Weber genau hin.
Kamala Harris und ihr "Running Mate" Tim Walz treten in Michigan auf. Dem US-Bundesstaat im Mittleren Westen könnte bei der Präsidentschaftswahl im November ganz besondere Bedeutung zukommen – er gilt als "Swing State". 2020 gewann dort Joe Biden für die Demokraten, 2016 der Republikaner Donald Trump. Nun wird Harris alles daran setzen wollen und müssen, dass Michigan erneut "blau" wählt. In unserem Newsblog bleiben Sie auf dem neuesten Stand.
Alle Konzerte von Musik-Weltstar Taylor Swift in Wien wurden am späten Mittwochabend abgesagt. Zuvor waren Terrorverdächtige in der österreichischen Hauptstadt festgenommen worden, sie sollen unter anderem Anschläge bei den bevorstehenden Auftritten der US-Künstlerin geplant haben. Swift wollte ursprünglich drei Shows in Wien geben. Meine Kolleginnen und Kollegen aus Unterhaltung und Politik halten Sie auf dem Laufenden.
Was lesen?
Erfolgreiche Grande Nation: 2021 in Tokio gewannen die französischen Athleten 33 Medaillen. Bei den Olympischen Spielen zu Hause sind es nun schon vor Ende der Spiele mehr. Das hat verschiedene Gründe. Meine Kollegin Melanie Muschong berichtet hier aus Paris vom Erfolg der Gastgeber.
Mitten im Wahlkampf hat der stellvertretende Vorsitzende der AfD Thüringen eine PR-Firma gegründet. Torben Braga gilt als enger Vertrauter von Landeschef Björn Höcke. Mit der Partei hat das neue Unternehmen angeblich nichts zu tun. Mein Kollege Jonas Mueller-Töwe erklärt hier die Hintergründe.
"Sie wollten den Faschismus, sie haben ihn bekommen": Oleg Orlow war Teil des großen Gefangenenaustausches mit Russland. Jetzt warnt der Menschenrechtsaktivist vor den Folgen des Ukraine-Kriegs. Mein Kollege David Schafbuch war auf der Pressekonferenz in Berlin und hat genau hingehört.
Die Ukraine dreht den Spieß um: Truppen des angegriffenen Landes sollen die Grenze zu Russland übertreten haben. Es finden Gefechte statt. Die Operation unterscheidet sich deutlich von früheren Grenzübertritten. Mein Kollege Simon Cleven zeigt hier auf, was dieses Mal anders ist.
Zum Schluss
Olympischen Sportsgeist hat man – oder auch nicht ...
Ich wünsche Ihnen einen Tag voller Optimismus und Zuversicht.
Ihr
David Digili
Redakteur Sport
Twitter @herrdigili
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Mit Material von dpa.
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