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Russland: Ukrainische Angriffe in Region Kursk? Das steckt dahinter


Angriffe in russischer Grenzregion
Die Ukraine dreht den Spieß um


Aktualisiert am 07.08.2024Lesedauer: 5 Min.
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Ein ukrainischer Soldat bei einer Militärübung: Am Dienstag haben ukrainische Truppen offenbar die Grenze in Richtung der russischen Region Kursk überquert. (Quelle: IMAGO/Vyacheslav Madiyevskyy / Avalon/imago)

Ukrainische Truppen sollen die Grenze zu Russland übertreten haben. Es finden Gefechte statt. Die Operation unterscheidet sich deutlich von früheren Grenzübertritten.

Der Gouverneur der russischen Region Kursk blickt besorgt in die Kamera. Eigentlich will Alexej Smirnow die Bürger beruhigen, doch auch er muss zugeben: "Die Situation an der Grenze ist angespannt, es gibt Kämpfe." Er bittet die Bevölkerung, nicht in Panik zu verfallen und sich an die Behörden zu wenden, falls sie Hilfe benötigt. "Wir kommen zur Rettung", verspricht Smirnow. Am Mittwoch lief die Evakuierung Tausender Russen an.

Ukrainische Truppen haben laut Angaben aus Russland bereits am Dienstagmorgen die russische Grenze in Richtung Kursk überquert. Mehrere Hundert Soldaten, rund ein Dutzend Kampfpanzer sowie mehr als 20 gepanzerte Fahrzeuge nahmen demnach an der Operation teil. Am Abend dann gibt das Verteidigungsministerium in Moskau Entwarnung: "Der Feind wurde durch Artilleriebeschuss, Luftangriffe und den Einsatz von Kampfdrohnen zurückgeschlagen." Doch an dieser Darstellung gibt es erhebliche Zweifel.

Ukrainer rückten wohl schnell vor

Russische Militärblogger zeichnen am Dienstagabend ein anderes Bild der Lage: Bei den Ortschaften Swerdlikowo und Sudscha sei die Situation weiterhin gefährlich. Ukrainische Truppen würden sich dort sammeln, ein größerer Angriff wird für Mittwoch erwartet. Swerdlikowo liegt unmittelbar hinter der Grenze, Sudscha rund zehn Kilometer tief auf russischem Territorium.

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Die ukrainischen Kämpfer wären also innerhalb weniger Stunden ähnlich weit auf russisches Territorium vorgerückt wie die Kremltruppen zu Beginn ihrer Überraschungsoffensive in der Region Charkiw Mitte Mai. Mehr dazu lesen Sie hier. Ist das also der Beginn eines neuen, größeren Vorstoßes der ukrainischen Streitkräfte?

Was die Ukraine bezwecken will

Wohl kaum. Was die ukrainische Militärführung mit dem Angriff bezweckt, ist aktuell kaum absehbar. Geäußert hat sich Kiews Armee bisher dazu nicht, überhaupt wurde der Angriff von der Ukraine bisher nicht bestätigt.

Einige Hundert Soldaten und rund 30 Panzer sowie gepanzerte Fahrzeuge reichen jedoch eher nicht aus, um größere Landstriche in Russland zu erobern und dauerhaft zu halten. Das Ziel der Ukraine mit der Operation auf russischem Boden muss also ein anderes sein. Viel davon dürfte mit der derzeitigen Situation an der Front in der Ukraine zu tun haben.

Russland macht seit dem Frühjahr vor allem im Gebiet Donezk langsame, aber stetige Gebietsgewinne. Schlussendlich ins Rollen kam diese Entwicklung mit der Eroberung der Stadt Awdijiwka Mitte Februar. Russland profitierte in dieser Zeit von Problemen der ukrainischen Armee: Mangel an Munition und Ausrüstung, fehlendes Personal zur Rotation der Kräfte an der Front und unzureichender Ausbau von Verteidigungsanlagen im Hinterland der Front.

Dreht die Ukraine jetzt den Spieß um?

Die russische Offensive im nordöstlichen Gebiet Charkiw zielte darauf ab, diese Probleme der Ukrainer zu verschärfen. Die ohnehin schon mehr als 1.000 Kilometer lange Front wurde weiter gestreckt. Die ukrainische Armee musste Truppen und Ausrüstung nach Charkiw schicken, die dadurch andernorts fehlten. Besonders im Gebiet Donezk macht sich das durch weitere russische Gebietsgewinne bemerkbar.

Der Militärexperte Rob Lee vom US-Thinktank Foreign Policy Research Institute bestätigt diesen Eindruck. "Der wichtigste Faktor in diesem Krieg ist derzeit der russische Vorteil in Bezug auf Personal und Truppenverfügbarkeit, vor allem bei der Infanterie", schreibt er auf X. Dieser Vorteil erschwere es der Ukraine, die Vorstöße in Donezk aufzuhalten. Die russische Offensive in Charkiw habe die Situation verschärft. Es stelle sich daher die Frage, wie sich die Operation der Ukrainer in Kursk auf die Kämpfe anderswo auswirken werde.

Die Ukraine scheint nun zu versuchen, den Spieß umzudrehen. Dafür spricht, dass die aktuelle Operation anders angelegt ist als frühere Grenzübertritte. Bereits im Mai und Juni 2023 sowie im vergangenen März hatten pro-ukrainische Milizen russisches Territorium in den Regionen in Belgorod und Kursk angegriffen, sich jedoch nach kurzer Zeit wieder zurückgezogen. Dabei ging es vor allem um "Nadelstiche" gegen Russland, erklärte der Militärexperte Nico Lange im März im Gespräch mit t-online.

Wohl fünf Zivilisten tot, mehr als zwanzig weitere verletzt

Nun haben jedoch anscheinend konventionelle ukrainische Truppen die Grenze nach Russland überquert. Laut russischen Angaben soll die 22. mechanisierte Brigade involviert sein, die bereits an der monatelangen Schlacht um Bachmut teilgenommen hatte. Der Einsatz besser ausgerüsteter Einheiten spricht dafür, dass die Ukraine zumindest daran interessiert ist, die Operation nicht allzu schnell zu beenden. Die Truppen sollen wohl möglichst lange in Russland verweilen, dabei aber möglichst wenige Verluste hinnehmen.

Video | Ukrainische Brigade wehrt Angriff ab – und zeigt "Motorradfriedhof"
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Quelle: t-online

Bisher sollen laut russischen Angaben fünf Zivilisten getötet sowie mehr als 20 weitere verletzt worden sein. Zudem will Russland ukrainische Drohnen- und Raketenangriffe abgewehrt haben. Auf sozialen Netzwerken kursieren zudem Bilder und Videos von einem zerstörten Militärhubschrauber sowie zerstörten, ausgebrannten Kampfpanzern und gepanzerten Fahrzeugen. Ob diese zur russischen oder zur ukrainischen Armee gehörten, ließ sich zunächst nicht verifizieren. Zudem sollen die Ukrainer russische Soldaten gefangen genommen haben.

Die Ukrainer könnten also vor allem zwei Ziele vor Augen haben: Erstens Russland dazu zu zwingen, Truppen nach Kursk zu schicken, die so an der Front in der Ukraine nicht eingesetzt werden können. Und zweitens Chaos in Russland zu stiften sowie den Krieg auf russisches Territorium zu bringen. In den vergangenen Monaten hatte die Ukraine Letzteres primär mit Drohnenangriffen auf die Öl-Infrastruktur und Militärstützpunkte forciert, teils weit im russischen Hinterland.

"Mit einer begrenzten Operation können vielleicht begrenzte Ziele erreicht werden"

Russland scheint mit einem solchen Angriff nicht gerechnet zu haben. Sonst hätten die Ukrainer nicht so schnell vorrücken können. Dennoch könnte der Effekt bald verpuffen: Seit den vergangenen ukrainischen Grenzübertritten habe Russland seine Kräfte in der Region vorwiegend wegen der Charkiw-Offensive verstärkt, schreibt Militärexperte Rob Lee weiter. "Russland verfügt also bereits über größere Streitkräfte/konventionelle Fähigkeiten in dem Gebiet, eine bessere Befehlsgewalt und Kontrolle sowie über wehrpflichtige Einheiten, die eingesetzt werden können und in der Ukraine nicht verwendet werden."

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Lee hält es deshalb für "unwahrscheinlich", dass Russland Personalprobleme bekommt. Allerdings könnte sich die Ukraine mit dem Vorstoß ins eigene Fleisch schneiden. Die in Kursk eingesetzten Kräfte werden auch andernorts an der Front dringend benötigt.

"Mit einer begrenzten Operation können vielleicht begrenzte Ziele erreicht werden, aber eine ehrgeizigere Operation birgt größere Risiken", erklärt Lee. "Es ist unwahrscheinlich, dass diese Operation wesentliche Auswirkungen auf den Verlauf des Krieges haben wird, und frühere grenzüberschreitende Operationen hatten keine ernsthaften innenpolitischen Auswirkungen für Putin." Noch aber gebe es nicht genügend Informationen, um eine endgültige Einschätzung der Operation abzugeben.

Als wahrscheinlicher ist daher das zweite mögliche Ziel einzuschätzen: Chaos und Verwirrung in Russland zu stiften. Nach zahlreichen Rückschlägen in den vergangenen Monaten benötigen die Ukrainer Erfolge, die sie verkünden können – auch, um die Unterstützer im Westen bei der Stange zu halten. Selbst wenn "wesentliche Auswirkungen" auf die Frontlage nicht zu erwarten sind, könnte sich die Ukraine so etwas Luft verschaffen. Es wäre eine Pause, die viele Einheiten gut gebrauchen könnten. Zumal sie seit Monaten ukrainische Stellungen im Donbass gegen Russlands Angriffe verteidigen.

Verwendete Quellen
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