Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch War's das schon mit dem Sommermärchen?
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wenn Sie 2006 bewusst miterlebt haben, wissen Sie: Die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland war damals wie ein Befreiungsschlag. Nach langen, schwierigen Jahren mit der Agenda 2010, hohen Arbeitslosenzahlen und mieser Stimmung ging es endlich wieder aufwärts. Pünktlich zum Turnier-Start wurde es sommerlich, alle Welt strömte zu den Public-Viewing-Events nach draußen. Die Stimmung war so euphorisch, dass die Bilder der WM sogar im Ausland das Image Deutschlands positiv änderten. Keine Spur von den mies gelaunten Deutschen in ihrem regnerischen Land, stattdessen Feierlaune, Freude und Fußball.
Natürlich glänzt im Rückblick einiges heller, als es tatsächlich war, und auch damals war nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Für eine hitzige Debatte etwa sorgten die Abertausenden Deutschlandfahnen an Autos, Balkonen und in Gesichtern, Warnungen vor "No-go-Areas" in Teilen Deutschlands trübten den Eindruck vom freundlichen Deutschland.
Dennoch, das können wohl viele bestätigen, die diese vier Wochen damals mitbekommen haben, war die Heim-WM etwas Besonderes. Ich war damals 15 Jahre alt und erinnere mich noch besonders deutlich an einen Wochenendbesuch in dieser Zeit in Berlin. Die Hauptstadt war im Ausnahmezustand, überall lief Fußball, alle möglichen Sprachen wurden wild durcheinander gesprochen. Im Treptower Park war eine riesige Leinwand aufgebaut, Bands traten auf. Ich habe noch mal recherchiert, was der Eintritt damals dort kostete: läppische drei Euro.
Embed
Und damit kommen wir auch schon zum Heute. In knapp einer Woche startet die EM und immer wieder wird die Parallele gezogen: Erleben wir jetzt das Sommermärchen 2.0?
Was passt: Wieder steckt das Land in einer schwierigen Zeit. Und doch: Ein Eintrittspreis von drei Euro ist nach der Inflation komplett illusorisch, im Süden Deutschlands kämpfen viele Menschen mit den Folgen der Überschwemmungen und der Messerangriff von Mannheim, bei dem ein Islamist einen Polizisten tötete, hat das Land erschüttert.
Drängendere Fragen überschatten die Fußball-EM: Entschädigt der Staat Flutopfer oder sind die Betroffenen selbst dafür verantwortlich, sich gegen die wachsende Gefahr von Naturkatastrophen abzusichern? Wie soll unsere Gesellschaft umgehen mit straffälligen Ausländern? Wie können wir Messerangriffe wie die in Mannheim verhindern? Geht das überhaupt? Gestern wurde dann bekannt, dass es in der Nacht zuvor Mannheim erneut zu einem Angriff mit einem Messer gekommen war, ein 25-Jähriger hatte einen AfD-Politiker attackiert. Die beiden Fälle in Mannheim stehen nicht in Verbindung zueinander, bei dem Täter vom Dienstagabend soll es laut Polizei deutliche Hinweise auf eine psychische Erkrankung geben.
Und doch fügen sie sich ein in ein Gefühl der wachsenden Unsicherheit. Dass Gewalttaten zunehmen, beobachten die Sicherheitsbehörden schon seit einiger Zeit. Im Vorfeld der EU-Wahl am Sonntag tritt sie nun offener zutage, in den vergangenen Wochen wurden immer wieder Politiker angegriffen – überraschend ist das leider nicht. Denn so wird manifest, was viele Menschen ohnehin fühlen: Dass sich immer größere Teile der Bevölkerung unversöhnlich gegenüberstehen – und die Bereitschaft wächst, auch Fäuste und sogar Messer sprechen zu lassen.
Eine Frage unterscheidet diesen kommenden Fußballsommer ganz maßgeblich von 2006: Wird es einen Anschlag geben? Auch 2006 gab es natürlich Terror auf der Welt, erst ein Jahr zuvor hatten sich Islamisten in der Londoner U-Bahn in die Luft gesprengt. Doch Angst davor, zu Großevents wie Public-Viewings zu gehen, hatte in Deutschland kaum einer. Das ist heute anders. Fast die Hälfte der Deutschen fürchtet laut einer aktuellen Umfrage des Sinus-Instituts, dass es zu einer Terrorattacke kommt. "Die Sicherheitslage ist angespannt", sagte auch Innenministerin Nancy Faeser (SPD) am Montag. Sie wies aber darauf hin, dass es keine konkreten Hinweise auf geplante Anschläge gebe.
Die Bedrohungen aber sind vielfältig: Islamisten wie vom IS-Ableger "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK) drohen mit Anschlägen auf Stadien, und auch ein sogenannter "Einsamer Wolf", also ein Radikaler ohne konkrete Anbindung an eine Terrorgruppe, könnte zuschlagen – das hat Mannheim gezeigt. Gewaltbereite Hooligans bereiten sich seit Monaten auf die EM vor. Und für die ukrainische Mannschaft und deren Fans gelten besonders hohe Sicherheitsvorkehrungen. Das zeigte schon das Länderspiel zwischen der Ukraine und Deutschland am Montag. Die Polizei entdeckte im Stadion einen "verdächtigen Gegenstand", rief eine Gefahrenlage aus. Kurz darauf aber Entwarnung: Der Koffer stellte sich als harmlos heraus.
Kein Wunder, dass in dieser Gemengelage kaum Feierstimmung aufkommt. Laut der bereits erwähnten Umfrage des Sinus-Instituts überwiegt derzeit die Gleichgültigkeit, nur rund ein Drittel freut sich auf das Sportevent – obwohl sich mehr als die Hälfte der Deutschen grundsätzlich für die EM interessiert. Und nur 28 Prozent glauben demnach an ein neues Sommermärchen. Rausgehen wollen ohnehin nur die wenigsten: Die Deutschen schauen der Umfrage zufolge die Spiele hauptsächlich zu Hause, nur 9 Prozent haben vor, in Kneipen oder zu Public-Viewing-Events zu gehen.
Auch in der Politik wird die Verunsicherung wahrgenommen. Heute Vormittag um 9 Uhr wird sich Kanzler Olaf Scholz im Bundestag zur Sicherheitslage äußern. Ob das die Stimmung im Land heben wird? Dafür hoffen wir dann doch besser auf den Start der EM.
Wende bei der EZB
Große Nachrichten könnten heute auch aus Frankfurt kommen: Denn ziemlich wahrscheinlich wird die Europäische Zentralbank (EZB) am Mittag eine Zinswende verkünden, es ist die zweite in nur zwei Jahren. Seit Sommer 2022 hatte die EZB den Leitzins immer weiter angehoben, um der extrem gestiegenen Inflation zu begegnen. Seit September verharrt er nun bei 4,5 Prozent – dem höchsten Wert seit dem Jahr 2000. Experten gehen davon aus, dass der Zins nun um 0,25 Prozentpunkte sinken wird.
Das ist zunächst ein vorsichtiger Schritt. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hofft auf weitere Senkungen in diesem Jahr. Das könne der Bauindustrie deutlich helfen, sagte er gestern beim Tag der Bauindustrie. Darauf wies auch Finanzminister Christian Lindner (FDP) hin. Ob das so kommen wird, ist offen, die EZB will diesen Schritt dafür nutzen, um Daten für weitere Entscheidungen zu sammeln.
Dennoch: Experten weisen darauf hin, dass jetzt ein guter Zeitpunkt zum Immobilienkauf ist. Denn noch sind die Preise günstig. Wer hingegen mit Tages- und Festgeld spart, könnte bald wieder enttäuscht werden. Für Renditen braucht es also doch den Aktienmarkt.
Die weiteren Termine
Heute beginnt die EU-Wahl. Den Auftakt machen die Niederländer, bis Ende der Woche stimmen dann die Bürger aller EU-Staaten ab. Deutschland wählt wie gewohnt am Sonntag. Eine Besonderheit aber gibt es: Erstmals dürfen auch 16- und 17-Jährige abstimmen. Nicht vergessen: Jede Stimme zählt! Die Briefwahlunterlagen können übrigens noch bis Freitag, 18 Uhr beantragt werden.
Bundeskanzler Olaf Scholz reist nach seiner Regierungserklärung heute nach Frankreich, genauer in die Normandie. Dort wird er gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, US-Präsident Joe Biden, dem britischen König Charles III. und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj des D-Days gedenken – des Tages, an dem die Alliierten an der nordfranzösischen Küste landeten. Adolf Hitler hatte diesen Moment damals herbeigewünscht. Doch seine Hoffnung, die Alliierten besiegen und vertreiben zu können, war völlig illusorisch, schreibt mein Kollege Marc von Lüpke.
Das historische Bild
Sichere Übermittlung von Nachrichten ist im Krieg unabdingbar, im Zweiten Weltkrieg hatten die USA eine "Geheimwaffe". Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Die tödliche Messerattacke in Mannheim hat eine Debatte darüber ausgelöst, inwiefern solche Angriffe mit dem Islam zu tun haben. "Wieder einmal stehen wir unter Generalverdacht", kommentiert mein Kollege Amir Selim. "Losgelöst vom Islam lässt sich das nicht betrachten", meint hingegen Murat Kayman, Mitbegründer der muslimischen Alhambra-Gesellschaft.
Die AfD beherrsche die Plattform TikTok, heißt es oft. Eine neue Studie zum Europawahlkampf kommt nun zu einem anderen, durchaus überraschenden Ergebnis, wie mein Kollege Florian Schmidt exklusiv berichtet.
Gestern strahlte die ARD ihre EM-Doku "Einigkeit und Recht und Vielfalt" aus. Wegen einer Umfrage ist sie schon vorher in Verruf geraten. Nicht aber der Film ist ein Problem – sondern die Ergebnisse, die er ans Licht bringt, schreibt mein Kollege Steven Sowa.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Donnerstag. Morgen schreibt Ihnen wieder Florian Harms.
Camilla Kohrs
Ressortleiterin Politik und Wirtschaft
Twitter: @cckohrs
Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.
Mit Material von dpa.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.