Wirbel um EM-Doku der ARD Ein folgenschwerer Fehler
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Die Doku "Einigkeit und Recht und Vielfalt" ist zu Unrecht in Verruf geraten. Nicht der Film ist ein Problem – sondern die Ergebnisse, die er ans Licht bringt.
Es läuft die letzte Minute. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen, das Ergebnis steht längst fest. Dann kommt Jonathan Tah ins Bild. "Es macht etwas aus, dass die Mannschaft vielfältig ist", sagt er. "Es macht etwas aus, dass wir alle unterschiedliche Perspektiven haben, aber am Ende trotzdem jeder Mensch sind (sic!) – egal wie wir aussehen, egal wo wir herkommen: Wir spielen für Deutschland und wir sind stolz darauf, für Deutschland zu spielen."
Es ist kein Spiel der Nationalmannschaft, bei dem sich der deutsche Innenverteidiger zu Wort meldet. Er äußert dies in der Dokumentation "Einigkeit und Recht und Vielfalt", die am Mittwochabend um 21.30 Uhr im Ersten zu sehen sein wird – und es ist das Ende eines 45-minütigen Films, der aufrüttelt und unter die Haut geht.
Doch das mitreißende Werk des WDR-Journalisten Philipp Awounou ist in Verruf geraten, noch bevor es im linearen Fernsehen ausgestrahlt wurde – und vermutlich auch, bevor es die meisten Menschen überhaupt gesehen haben. Grund ist eine Umfrage, die im Zuge der Arbeit an "Einigkeit und Recht und Vielfalt" vom WDR in Auftrag gegeben und anschließend über verschiedene Kanäle der ARD an die Medien gegeben wurde.
In der besagten Erhebung wurden rassistische Haltungen gegenüber der Fußballnationalmannschaft der Männer abgefragt. Eines der Ergebnisse: 21 Prozent der Deutschen finden, es sollten wieder mehr weiße Spieler für die Nationalmannschaft auflaufen.
Schnell war die Aufregung groß. Nationalspieler Joshua Kimmich empfand es als "absurd" und "kontraproduktiv", eine solche Umfrage in Auftrag zu geben und Bundestrainer Julian Nagelsmann brandmarkte sie gar als "rassistisch". Er sagte: "Wahnsinn, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender so etwas beauftragt", und schloss sein Urteil mit dem Satz: "Ich hoffe, in Zukunft nie wieder von so einer Scheißumfrage lesen zu müssen."
Umfrage ohne Doku-Kontext beurteilt
Das ist, gelinde gesagt, ein ungerechtfertigter Wutausbruch. Es ist aber auch und das gehört zur Wahrheit bei diesem Thema dazu: erschreckend kurzsichtig – und das gleich aus mehreren Gründen. Zuallererst muss gesagt werden, dass diese Kurzschlussreaktionen aus der Nationalmannschaft auf einem Fehlurteil beruhen, dem vermutlich auch viele Medien in den vergangenen Tagen aufgesessen sind.
Sie entrissen die Umfrage ihrem Kontext und skandalisierten sie, ohne zu wissen, in welche Erzählung sie eingebettet war und auf welchen Rechercheerkenntnissen sie fußte. Ein folgenschwerer Fehler, an dem der WDR zugegebenermaßen eine Mitschuld trug. Denn da er diese Dokumentation mit den Umfrageergebnissen bewarb, wurde eine falsche Erwartungshaltung geweckt – ein Umstand, den t-online-Sportredakteur David Digili an dieser Stelle bereits kritisierte.
Dabei ist Philipp Awounous Doku viel mehr als eine Datenauswertung. Der 29-jährige Filmemacher ist auf seiner Reise durch Deutschland immer wieder rassistischen Urteilen über die deutsche Nationalmannschaft begegnet. Menschen, mit denen er Interviews führte, sagten Sätze wie diese: "Ein richtiger Deutscher ist für mich hellhäutig" und "Wo bleiben die hellhäutigen Deutschen, die können doch auch Fußball spielen." Oder mit Blick auf die aktuelle Zusammensetzung des DFB-Teams: "Das sind doch eh keine Deutschen mehr."
Es wäre ein Einfaches gewesen, darüber hinwegzugehen – oder diese Aussagen anekdotisch im Film stehenzulassen. Doch das wäre dem Gegenstand der Auseinandersetzung nicht gerecht geworden. Im Gegenteil, es wäre Folgendes passiert: Medien hätten "Einigkeit und Recht und Vielfalt" als journalistisch unsauber beurteilt und der Doku vorgeworfen, Einzelbehauptungen eine zu große Bühne zu geben, ohne dafür empirische Belege zu liefern, wie verbreitet sie tatsächlich sind.
Diese Umfrage im Rahmen der Dokumentation zu machen, war also nur folgerichtig. Sie lieferte den Nachweis für eine gefühlte Wahrheit, die der Filmemacher während seiner Arbeit erlebte. Und so erschreckend wie beschämend das Ergebnis der Erhebung auch ist: Nein, Herr Nagelsmann, nicht die Umfrage ist "rassistisch" oder "scheiße" – es sind die nackten Zahlen, die auf erschütternde Weise vor Augen führen, wie verbreitet Rassismus ist. Deshalb möchte man den DFB-Granden zurufen: "Don't shoot the messenger!" Verurteilen Sie also nicht den Überbringer der schlechten Nachrichten, sondern gehen Sie dem Kern des Problems auf den Grund.
Die Umfrage kommt einmal vor – nach 37 Minuten
Jeder Fünfte in Deutschland möchte mehr hellhäutige Fußballer in der Nationalmannschaft sehen – und das im Jahr 2024. 47 Prozent der AfD-Wähler stimmen der Aussage zu: "Ich fände es besser, wenn wieder mehr weiße Spieler in der deutschen Nationalmannschaft spielen." Dass darüber nun debattiert wird, dass Aufklärung dringend nötig ist und dass Vielfalt in diesem Land offenbar immer noch hart erkämpft werden muss, ist auch eine Lehre aus diesem Film.
Um rassistische Haltungen zu prüfen, muss man rassistische Haltungen abfragen.
Philipp Awounou
Philipp Awounou begründet die Vorgehensweise für seinen Film in einem Gastbeitrag für den "Spiegel" so: "Um rassistische Haltungen zu prüfen, muss man rassistische Haltungen abfragen. Das ist in der wissenschaftlichen Meinungserhebung ein normaler Prozess." Er hat recht. Als Beleg führt er ein prominentes Beispiel an: "Nehmen Sie etwa die sehr renommierte Studie der Mitte, die regelmäßig erhoben wird. Dort werden Zustimmungen zu zutiefst rechtsextremen Thesen abgefragt, bis hin zu 'Der Nationalsozialismus hatte auch gute Seiten'."
Philipp Awounou hat die heftig kritisierte Umfrage von Infratest dimap übrigens nur ein einziges Mal in seinem Film eingeblendet: nach mehr als 37 Minuten, in denen Gerald Asamoah erschütternde Erinnerungen über rassistische Anfeindungen in Stadien mit den Zuschauern teilt, die ehemalige Profi-Spielerin Tuğba Tekkal auf herzzerreißend-berührende Weise über Ausgrenzung spricht oder Weltmeister Shkodran Mustafi einen Appell für das Menschsein hält.
Diese Dokumentation, auf diesen kurzen Ausschnitt zu reduzieren, ist unangemessen: Sie ist auf so vielen Ebenen gelungen – von der Emotionalität her, dem informativen Mehrwert, der ausgeruhten Erzählstruktur und den überzeugenden Protagonisten. Und nein, weder ist es "kontraproduktiv", wie Kimmich sagt, noch ist es "Wahnsinn, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender" diese Zahlen innerhalb dieses Films präsentiert: Es ist geboten in diesen Tagen, so kurz vor EM-Start.
Denn der Journalismus ist nicht dafür da, für den DFB die Jubelstimmung im Land anzuheizen. Er ist dafür da, genau hinzuschauen und den Finger in die Wunde zu legen. Der Aufschrei des Bundestrainers zeigt also nur, wie schmerzhaft die Wahrheit ist.
- Eigene Recherchen
- ardmediathek.de: "Einigkeit und Recht und Vielfalt – Die Nationalmannschaft zwischen Rassismus und Identifikation"
- spiegel.de: "Die Doku, die Umfrage und ich" (kostenpflichtig)