Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das ist nicht die Zeit für Denkzettel
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
der Endspurt beginnt: Sechs Tage noch und es wird ernst, richtig ernst. Dann nämlich entscheiden 400 Millionen Menschen über ihre Zukunft und die des Kontinents. Sie finden es übertrieben, die Europawahl als so eminent wichtig darzustellen? Ich nicht.
Denn es steht bei dieser Wahl verdammt viel auf dem Spiel. Die Stimmung im Land ist schlecht, die Wirtschaft schwächelt und die Ampelregierung bietet, statt eines überzeugenden Rezeptes dagegen, vor allem Streit. Die Gefahr ist daher groß, dass viele die Europawahl dazu nutzen werden, der Regierung einen Denkzettel zu verpassen – mit weitreichenden Folgen.
Noch immer wird unterschätzt, wie groß der Einfluss der Europapolitik ist. Nur knapp ein Viertel der Deutschen hält sie für sehr wichtig für ihr Leben, doppelt so viele dagegen sagen das über die Bundespolitik, wie eine aktuelle ZDF-Befragung ergab.
Schuld daran haben viele. Wie sehr Europapolitik unser aller Leben bestimmt, vermitteln die Parteien immer nur dann, wenn es um Negatives geht – so auch jetzt im Wahlkampf. Da wird zwar durchaus zu Recht die überbordende Bürokratie bemängelt und bei allem, was schiefläuft, auf Brüssel verwiesen. Aber wer betont, wie sehr die EU auch das Leben jedes Einzelnen verbessert? Zum Beispiel beim Verbraucherschutz: Den Anspruch auf eine Entschädigung, wenn ein Flug ausfällt, haben wir Brüssel zu verdanken. Ebenso wie die entfallenen Roaminggebühren. Oder bei Arbeitnehmerrechten: Dass pflegende Angehörige Anspruch auf fünf Tage Urlaub haben, hat Brüssel durchgesetzt.
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Auch die Ampelregierung hat Mitschuld am Europafrust. Von gestaltender "aktiver Europapolitik", wie sie es in ihrem Koalitionsvertrag einst versprach, war in den vergangenen Monaten nichts zu spüren: Bei wichtigen Entscheidungen enthielt sich Deutschland oft in letzter Minute – etwa weil die FDP sich plötzlich beim Verbrenner-Aus oder beim Lieferkettengesetz querstellte – oder sie verzögerte Entscheidungen wie beim Asylkompromiss, weil die Grünen plötzlich Bedenken hatten. Das kostete Deutschland nicht nur Glaubwürdigkeit bei den EU-Partnern – sondern hat auch in der Bevölkerung den Eindruck verstärkt, dass Europa nicht so wichtig sei. Warum sonst verzichtet die größte Volkswirtschaft Europas wohl darauf, europäische Politik aktiv zu gestalten?
Wer nun aber glaubt, die Europawahl am 9. Juni wäre eine gute Gelegenheit, "der Politik" oder der Ampelkoalition eine Lektion zu erteilen, ohne dass dies reale Konsequenzen hätte, täuscht sich gewaltig.
Schon bei der letzten Europawahl 2019 haben die anti-europäischen Kräfte im EU-Parlament dazugewonnen. Vieles deutet darauf hin, dass die Rechtspopulisten diesmal noch stärker werden – von Italiens Fratelli d’Italia der Postfaschistin Georgia Meloni über Frankreichs Rassemblement National von Marine Le Pen bis zu Ungarns Fidesz-Partei des Autokraten Viktor Orbán. In Deutschland kommt die AfD aktuell auf gut 15 Prozent der Stimmen. Aber auch von links drohen Populisten wie Sahra Wagenknecht und ihre Partei BSW das Parlament weiter zu zersplittern.
Einer aktuellen Studie der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) zufolge könnten europakritische Kräfte in einem Drittel aller EU-Länder auf dem ersten Platz landen, in einem weiteren Drittel auf Platz zwei. Damit würden sie stärker als je zuvor bei einer Europawahl abschneiden.
An ihnen vorbei Politik zu machen, wird dann zunehmend schwer. Mehr noch: Ein nach rechts gerücktes Europaparlament könnte versuchen, mühsam errungene Kompromisse zurückzudrehen. Nicht nur Mindestlohngarantien oder Arbeitszeitrichtlinien könnten dann in Gefahr sein, sondern auch der Verteilmechanismus im Rahmen des Asylkompromisses und vieles mehr.
Schon jetzt bereiten die eigentlich pro-europäischen Kräfte der gemäßigten Konservativen um EVP-Chef Manfred Weber und Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen eine Zusammenarbeit mit den rechten Populisten vor – und lassen sich dabei von Melonis vermeintlich pro-europäischem Kurs blenden. Dabei sägt auch sie, wie all die anderen Populisten, an den Fundamenten der europäischen Erfolgsgeschichte. Dafür muss man nur mal nach Italien schauen, wo Meloni sich gerade anschickt, das Land nach ihren Vorstellungen umzubauen – auf Kosten von Grundrechten wie der Pressefreiheit oder Frauenrechten. Oder mal nachzählen, wie oft ihre Partei im Europaparlament mit der AfD gestimmt hat.
Europa ist gewiss nicht perfekt und viel bleibt noch zu tun. Aber angesichts der vielen Krisen unserer Zeit ist ein starkes und geeintes Europa notwendiger denn je. Weder die Folgen des Klimawandels lassen sich mit einer Denkzettelwahl wirkungsvoll bekämpfen noch die schwächelnde Wirtschaft oder die Bedrohung durch imperialistische autoritäre Mächte wie Russland und China. Oder glaubt im Ernst irgendwer, dass Deutschland im Alleingang den globalen Mächten in Ost wie West etwas entgegensetzen könnte, wie es etwa die AfD mit ihren "Unser Land zuerst"-Parolen suggeriert?
Land unter
Gebrochene Dämme, schlammige Fluten, überschwemmte Straßen und Häuser: Etliche Gebiete Süddeutschlands sind am Wochenende zum Katastrophengebiet erklärt worden. Tausende Menschen mussten ihre Häuser verlassen, viele Orte wurden evakuiert.
Mindestens ein Mensch kam bislang ums Leben, in der Nacht waren wegen Überflutungen zahlreiche weitere Personen in Gefahr. Dass es nicht noch mehr Tote und Vermisste wurden, lag sicherlich auch an der frühzeitigen Warnung und der entsprechenden Vorbereitung. Zehntausende Helfer sind im Einsatz. Doch während viele von ihnen schon am Ende ihrer Kräfte sind, ist in etlichen Hochwassergebieten erst ab Dienstag mit einer Entspannung zu rechnen.
Während Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bereits am Sonntag in besonders betroffene Kommunen reisten, wollen sich Kanzler Olaf Scholz und Innenministerin Nancy Faeser (beide SPD) heute ein Bild von der Lage machen. Alle wichtigen Entwicklungen zum Hochwasser finden Sie in unserem Liveblog.
Mit Besuchen allein und Hilfszusagen wird es jedoch nicht getan sein. Die Abstände zwischen den Jahrhundert-Hochwassern werden immer kürzer. Die Politik muss daher endlich Antworten darauf geben, wie sie das Land künftig besser rüsten will für derartige Extremwetter-Ereignisse. Warum es dabei auch darauf ankommt, die Klimaerwärmung endlich konsequenter einzudämmen als bisher, erklärt Klimaexpertin Michaela Koschak.
Islamisten gefährden die Demokratie
Zwei Tage lang kämpfte ein junger Polizist aus Mannheim um sein Leben. Am Sonntag ist der 29-Jährige seinen schweren Verletzungen erlegen. Er war eingeschritten, als ein 25-jähriger Afghane am Freitagmittag den Islamkritiker und Pegida-Aktivisten Michael Stürzenberger und vier weitere Männer auf einem Mannheimer Marktplatz mit einem Messer angriff. Stürzenberger erlitt schwere Verletzungen, ist aber außer Lebensgefahr. Noch ist das genaue Motiv des Afghanen zwar unklar, er war von einem Polizisten angeschossen worden und deshalb am Sonntag noch nicht vernehmbar. Doch viel spricht für eine islamistische Tat, wie auch der Psychologe und Integrationsexperte Ahmad Mansour sagt.
Diese grauenvolle Attacke zeigt einmal mehr: Nicht nur Rechtspopulisten gefährden unsere Demokratie, auch Islamisten tun es. Beide verabscheuen die freie Gesellschaft. Doch während Teile der Zivilgesellschaft sich über die einen maximal empören, sorgen sie sich bei den anderen offenbar vor allem darum, Forderungen nach einem härteren Vorgehen gegen Islamisten könnten als islamfeindlich missinterpretiert werden.
Selbst wenn die Sorge berechtigt ist, wie die Junge Alternative Baden-Württemberg, die rechtsextreme Jugendorganisation der AfD, am Sonntag bewies: Sie rief zu einer Mahnwache auf, unter dem Motto "Remigration hätte diese Tat verhindert". Selbst dann muss klar benannt und bekämpft werden, was schiefläuft im Islam: Es gibt zu viele Hassprediger, die im Netz, auf Plätzen und in Moscheen offen eine fundamentalistische Ideologie verbreiten. Sie gilt es, konsequent zu bekämpfen. Sie müssen genauso gesellschaftlich geächtet werden wie alle anderen Demokratiefeinde. Vor allem aber sind diejenigen zu schützen, die von ihnen bedroht werden: Juden genauso wie Islamkritiker.
Der Meister des ersten Satzes
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.
So beginnt eines der berühmtesten Werke von Franz Kafka: "Die Verwandlung". Genau 100 Jahre ist es her, dass Kafka, gerade einmal 40 Jahre alt, in einer Heilanstalt in Kierling bei Wien an Tuberkulose starb.
Kaum jemand anderem gelang es so treffend, den Irrsinn der Moderne in Worte zu fassen. Kafka lebte und schrieb in einer Welt, die aus den Fugen geraten war: technologische Revolutionen, der Erste Weltkrieg, millionenfache Zerstörung, totalitäre Ideologien – Krisen und Umbrüche allerorten. Das beherrschende Lebensgefühl: Unsicherheit.
Sein Werk gehört bis heute zu den meistgelesenen weltweit. Wie ein Popstar wird er gefeiert, mit TV-Serien (etwa in der ARD-Mediathek), in den sozialen Medien, mit Ausstellungen. Kein Wunder, ist seine Literatur doch aktueller denn je, in dieser Zeit voller Krisen und Absurditäten.
Das historische Bild
Beim Ersten Weltkrieg denken viele Menschen an die Westfront, doch auch an den osmanischen Dardanellen wurde gekämpft. Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Wer wird nach der Europawahl die EU-Kommission anführen? Die FDP hält sich alle Optionen offen – macht ihre Zustimmung im EU-Parlament jetzt aber von konkreten Forderungen abhängig, die die Parteispitze am Montag beschließen will. Meinem Kollegen Florian Schmidt liegt das Fünf-Punkte-Papier exklusiv vor.
Ende mit Schrecken oder endloser Schrecken? US-Präsident Joe Biden geht ein großes Risiko mit seinem Vorschlag für einen Waffenstillstand in Gaza ein, schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl.
Putin will dem Westen Angst einjagen: Aber nicht nur deshalb befindet sich Europa in einer Krise. Den Europäern fehle etwas Entscheidendes, sagt der Historiker Philipp Ther meinem Kollegen Marc von Lüpke.
Schlechte Nachrichten für die Ukraine: Eigentlich hochpräzise westliche Waffen treffen ihre Ziele nicht mehr. Welche besondere Fähigkeit der russischen Armee dahinter steckt, erklärt Politik-Redakteur Simon Cleven.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen guten, vor allem trockenen Start in die Woche. Passen Sie auf sich auf. Morgen schreibt Florian Harms für Sie.
Herzliche Grüße
Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
X: @HVowinkel
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Mit Material von dpa.
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