Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Vorwürfe gegen Rammstein Der kleine, dunkle Raum unter der Bühne
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
stellen Sie sich vor, es gäbe bei einem Rockkonzert einen kleinen Raum unter der riesigen Bühne. Etwa zwei auf zwei Meter, die Größe einer Umkleidekabine. Abgehängt mit dicken, schwarzen Vorhängen. Oben drüber wummern die Bässe aus den Boxen, davor jubelt die Menge, es sind Zehntausende. Ein ohrenbetäubender Krach. Und nun stellen Sie sich bitte vor, in diesem Raum wartet eine junge Frau. Ein Fan. Sie ist um die 20 Jahre alt, wurde eben dorthin geführt. Nun ist sie da. Und sie ist allein.
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Plötzlich betritt der Rockstar, der gefeierte Frontmann der Band, die Kabine. 60 Jahre alt, massig und weltberühmt. Er kommt direkt von der Bühne, gerade wurde er noch gefeiert von den Massen. Er fordert die junge Frau zum Sex auf. Jetzt, sofort. Während oben die Musik noch läuft. Was hat sie für Möglichkeiten? Wie freiwillig ist das, was dort gleich geschehen könnte?
Diesen Raum gibt es wirklich, seit vielen Jahren schon, berichtet "Zeit Online". Nur ist noch nicht belegt, welche Szenen sich dort im Detail abgespielt haben. Doch es gibt zahlreiche Berichte von jungen Frauen, die nahelegen, dass es so passiert ist wie eben geschildert. Und zwar nicht nur einmal. Sondern Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Malen. Immer wieder, weltweit.
Die Rockband, um die es geht, ist die Heavy-Metal-Gruppe Rammstein. Die berühmteste deutsche Band der Welt. Im Zentrum der Vorwürfe: ihr Sänger Till Lindemann.
Selbstverständlich gibt es einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen Fans und ihren Idolen. Und sicher gibt es auch etliche junge Frauen, die sehr gern mit dem Sänger schlafen würden. Das Problem ist: Für Rammstein spielte das möglicherweise nur eine untergeordnete Rolle. Manche Frauen erzählen, dass sie gefragt wurden, ob sie auch Sex mit Lindemann haben wollten. Andere beschreiben es so, dass sie völlig überrumpelt worden seien. Mal unter der Bühne, mal bei Aftershow-Partys, in einem separaten Bereich.
Gegen Lindemann stehen Vorwürfe des Machtmissbrauchs und der sexualisierten Gewalt im Raum. Er habe sich besonders junge Frauen "zuführen" lassen, berichten mehrere Medien. Noch ist nicht sicher, ob die Vorwürfe zutreffen. Doch bereits jetzt offenbart sich in der öffentlichen Diskussion eine Täter-Opfer-Umkehr.
Wer sich mit Bekannten unterhält, wer Facebook, Instagram oder Twitter öffnet, der hört oder liest oft einen Satz in verschiedenen Varianten. Mal geht er so: "Haha, was hatte die sich denn gedacht?" Ein anderes Mal schreibt jemand auf Twitter: "Was glauben diese Frauen eigentlich, was backstage passiert? Dass Till Lindemann sie mit Feenstaub bestäubt?" Zusammengefasst: Da müssen sich die Frauen auch nicht wundern.
Um es ganz klar zu sagen: Das ist gemeingefährlicher Unsinn. Und es stärkt indirekt das System, das Rammstein möglicherweise aufgebaut hat. Die Journalistin Anja Rützel schrieb dazu auf Twitter: "Die Frage 'was erwartest du auch, wenn du auf eine solche Party gehst' zeigt vor allem, was der Fragende selbst von Männern erwartet: nichts. Keine Hemmungen, keine Empathie, keine basic Regeln des menschlichen Miteinanders. Erbärmlich." Sie hat recht.
Dass junge Frauen eingeschüchtert sind, wenn sie ihr Idol treffen, das vor ihnen Gläser gegen die Wand schmettert (so wie es jetzt einige berichten), oder wenn ihnen die ganze Zeit vom Umfeld des Sängers bedeutet wird, dass das doch alles total normal sei, widerspricht der These, sie hätten auf Augenhöhe Nein sagen können. Es ist eine Asymmetrie. Ein Machtgefälle, wie es stärker kaum sein könnte. Und das offenbar von Lindemann ausgenutzt wurde.
Jetzt muss sich gesellschaftlich etwas maßgeblich verändern. Wenn sich die Vorwürfe bestätigen, geht es hier nicht um Geschlechtsverkehr zwischen Gleichberechtigten. Sondern um gezielten Machtmissbrauch. Wenn eine Gesellschaft dies achselzuckend mit den Worten "Die sollen sich mal nicht so anstellen" abtut, dann ist das verkommen und gefährlich. Und dann gibt es noch einen weiteren schwerwiegenden Vorwurf, der auch strafrechtlich relevant ist: Einige der jungen Frauen sollen unter Drogen gesetzt worden sein.
Rammstein streitet die Vorwürfe ab und bittet darum, nicht vorverurteilt zu werden. Die Band teilte am vergangenen Samstag mit: "Die Vorwürfe haben uns alle sehr getroffen und wir nehmen sie außerordentlich ernst." Man verurteile "jede Art von Übergriffigkeit", heißt es weiter. Ein Anwalt der Band sagte dem "Spiegel", es fehle an "Beweistatsachen". Es gilt die Unschuldsvermutung.
Was im Detail bei den Aftershowpartys der Band oder in Konzertpausen passiert, hinter den Bühnen, wo keine Handys erlaubt sind, bleibt erst mal im Unklaren. Lindemann selbst hat, auch auf Anfrage von t-online, bislang nicht auf die Vorwürfe reagiert. Und juristisch steht das Verfahren ganz am Anfang. Doch investigative Journalisten berichten, dass immer mehr Frauen von solchen Erfahrungen mit Lindemann berichten.
Die Band Rammstein mit ihren martialischen Posen und Feuershows lebte schon immer von der Provokation. Von der Grenzüberschreitung. Lindemann reitet bei den Shows auf einem künstlichen Penis, schreibt Gedichte über die Vergewaltigung von bewusstlosen Frauen. Es gibt Texte, wo er über den "Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr" fantasiert oder darüber, eine Frau mit Nagetieren zu malträtieren. Das kann man abstoßend finden.
Andere sehen es als eine Kunstform. Die Konzerte der Band sind voll, auch jetzt auf der aktuellen Europatour. Doch das ändert nichts. Lindemann kann seltsame Lieder singen oder Goethe zitieren, entscheidend ist, was er jenseits der Bühne getan hat. Und ob er seine Berühmtheit eingesetzt hat, um Frauen zu missbrauchen. Menschen dürfen nicht unter Druck gesetzt werden, wenn es um Intimität gehen soll.
Statt die Frauen lächerlich zu machen, sollten wir ihren Mut würdigen. Zum Beispiel den der YouTuberin Kayla Shyx, die in dieser Woche ein Video veröffentlichte. Sie beschreibt darin, wie sie vor einem Jahr ein Rammstein-Konzert besuchte und anschließend zu einer Party nach dem Konzert gebracht wurde: "Vor dem Raum kontrollierten die Security-Männer, dass jede von uns ihr Handy auf einen Tisch legt. Da merkte ich, ich hätte umdrehen sollen. Aber die Security hat mich angestarrt (…) Ich war unter miesem Druck."
Sie habe dann von einem anderen Mädchen erfahren, dass sie sich in einer Vorauswahl mit Frauen befinde, die mit Lindemann Sex haben sollen. "Auf einmal checke ich: Ich bin hier als Sexobjekt. Panik, Panik." Und sie sagt: "Mir wurde nicht gesagt, dass ich hier gerade Teil einer potenziellen Orgie werde. Mir wurde gesagt, ich gehe zur ganz normalen Afterparty."
Heute spielen Rammstein ihr erstes Konzert in München. 60.000 Fans werden kommen. Viermal tritt die Band in der bayerischen Landeshauptstadt auf. Ganz so, als stünden keine ungeheuerlichen Vorwürfe im Raum. Der Veranstalter teilte lediglich mit, es werde keine Zone direkt vor den Musikern geben. Die Frauen hatten erzählt, dass sie für diese "Row Zero" gezielt angesprochen und eingeladen worden seien, um danach Lindemann "zugeführt" zu werden.
Auch eine Aftershowparty soll es nicht mehr geben. Wie das Konzert ansonsten ablaufen und ob Lindemann sich auf der Bühne zu den Vorwürfen äußern wird, ist noch unklar. Nur eines ist sicher: Der dunkle Raum unter der Bühne ist nun kein Geheimnis mehr.
Was steht an?
In Nürnberg beginnt heute der evangelische Kirchentag. Es wird eine Gedenkveranstaltung zur Rolle Nürnbergs in der NS-Zeit geben, der Kirchentagspräsident Thomas de Maizière und Steven Langnas, der Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, werden gemeinsam dabei sprechen. Anschließend gibt es zur offiziellen Eröffnung Reden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder.
In den USA wird heute erwartet, dass Mike Pence seine Bewerbung für das Amt des US-Präsidenten verkündet. Davon gehen zumindest etliche US-Medien aus. Pence war unter Donald Trump bereits Vizepräsident, jetzt will er selbst auf den Chefsessel. Ob das klappt? Auch sein ehemaliger Chef liebäugelt mit einem Comeback.
Zudem findet heute die Nationale Branchenkonferenz Gesundheitswirtschaft mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach statt. Auch die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, wird erwartet.
Lesetipps
Im südukrainischen Oblast Cherson ist ein Staudamm gebrochen, zahlreiche ukrainische Ortschaften in der Region drohen nun, von einer Flutwelle verwüstet zu werden. Ein Versuch Russlands, die ukrainische Gegenoffensive zu verhindern? Meine Kollegen Patrick Diekmann und Daniel Mützel berichten über die Hintergründe.
Was die Ukraine jetzt tun kann, um den Schaden durch den Dammbruch möglichst klein zu halten, erklärt Katastrophenforscher Wolf Dombrowsky im Interview mit meinem Kollegen David Schafbuch.
Und meine Kollegin Clara Lipkowski aus unserem Politikressort berichtet, wie die ukrainische und die russische Seite sich gegenseitig die Schuld zuweisen.
Das historische Bild
London ist für seinen Nebel berüchtigt, 1952 artete dieses Wetterereignis allerdings völlig aus. Mehr lesen Sie hier.
Zum Schluss
Der Konzern Apple hat am Montag eine sehr futuristische Virtual-Reality-Brille vorgestellt. Künftig können wir also eine Art Mini-Computer direkt vor unseren Augen tragen. Einige haben aber jetzt schon ein Alternativmodell gefunden:
Haben Sie einen guten Start in den Tag. Morgen schreibt an dieser Stelle wieder Florian Harms für Sie.
Herzliche Grüße
Ihr Tim Kummert
Politischer Reporter im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @TKummert
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Mit Material von dpa.
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