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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Staudamm in der Ukraine gebrochen "Das ist eine Panikreaktion von Putin"
Der gebrochene Kachowka-Staudamm wird in wenigen Stunden Dörfer und Städte in der Ukraine überfluten. Aber die ukrainische Großoffensive wird das wohl nicht aufhalten.
Es ist eine Eskalation mit womöglich katastrophalen Auswirkungen: Der Staudamm Nowa Kachowka im südukrainischen Oblast Cherson ist gebrochen. Drohnenaufnahmen zeigen am Dienstag, wie Wasser durch die Überreste des Dammes strömt. Mit 18,2 Milliarden Kubikmetern Wasser ist es einer der größten Stauseen in Europa, zahlreiche ukrainische Ortschaften in der Region drohen nun, von einer Flutwelle verwüstet zu werden. Für die Bevölkerung in der Region ist es eine Katastrophe.
Die Lage ist noch unübersichtlich, die Folgen des Dammbruchs sind noch nicht absehbar. Fest steht nur: Schon seit Sommer 2022 verdächtigte die Ukraine die russische Armee, den Staudamm sprengen zu wollen. Nun, ein Tag nach dem Beginn einer ukrainischen Offensive, kommt es zu der befürchteten Katastrophe. Ein Zufall?
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Der Verdacht im Westen und in der Ukraine fällt jedenfalls auf Russland. Doch die Zerstörung eines Damms und die Überflutung der Umgebung hätte kaum militärische Folgen für den Krieg in der Ukraine. Experten sehen darin eher eine Panikreaktion von Kremlchef Wladimir Putin.
Versuch, die ukrainische Offensive zu behindern?
Die ukrainische Regierung warf Moskau vor, den Damm gesprengt zu haben. Der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andriy Jermak, sprach von "der größten menschengemachten Katastrophe in der Welt seit Jahrzehnten". Unter den Folgen werden die Natur sowie Hunderttausende Menschen in den nächsten Jahren zu leiden haben. "Die Welt muss die Folgen des russischen Terrors gegen die ukrainische Zivilbevölkerung erkennen und darauf reagieren", so Jermak auf Twitter.
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Auch der Militärexperte Carlo Masala sieht den Verursacher in Moskau: "Alles spricht dafür, dass die Russen den Damm gesprengt haben", so Masala zu t-online. Schon im vergangenen Jahr habe es Berichte gegeben, denen zufolge die russische Armee den Staudamm großflächig vermint habe. Damals wie heute standen die Kremltruppen unter dem Druck einer ukrainischen Gegenoffensive.
Laut Masala verfolge die russische Militärführung mit der Sprengung einen doppelten Zweck: Einerseits soll die herbeigeführte humanitäre Katastrophe Chaos in der Ukraine stiften. Andererseits versuche Russland so, die Gegenoffensive der Ukraine zu behindern. An dem Frontabschnitt bei Cherson sei es nun für die ukrainische Armee "faktisch unmöglich", offensive Operationen auszuführen.
Doch die ukrainische Offensive aufhalten könne ein solches Manöver nicht, so der Experte: Es gebe zahlreiche andere Punkte, wo die Ukraine nun zuschlagen könne.
"Es ergibt aus taktischer Sicht keinen Sinn"
Von der Zerstörung des Staudamms profitiert Russland daher nur geringfügig. "Das ist eine Verwüstung des Landes, ohne militärischen Nutzen", sagt Militär- und Russlandexperte Gustav Gressel t-online. "Es ist Mord und dient höchstens dazu, ukrainische Ortschaften zu verwüsten. Eine Taktik der verbrannten Erde."
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Seit Sonntag haben die Angriffe der ukrainischen Armee auf zahlreiche Frontabschnitte im Osten des Landes rasant zugenommen. Die Ukraine bestätigte am Montag "offensive Aktionen" in einigen Frontabschnitten und Geländegewinne nahe der zerstörten Stadt Bachmut im Osten des Landes. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit dem "Wall Street Journal" erklärt: "Wir sind bereit für die Gegenoffensive."
Diese Aussagen und die jüngsten ukrainischen Angriffe könnten Gressel zufolge einer der Auslöser für die neueste Entwicklung gewesen sein. "Das ist eine Panikreaktion von Putin", sagt er mit Blick auf die Staudamm-Explosion. "Russland hätte mit der Sprengung eigentlich warten müssen, bis ukrainische Verbände über den Dnipro vorstoßen. So ergibt es aus taktischer Sicht keinen Sinn."
Kaum Folgen für den Krieg?
Inwiefern der Dammbruch das Kriegsgeschehen langfristig beeinflusst, ist noch offen. Klar ist den Experten zufolge allein: Wenn die russische Armee den Staudamm tatsächlich gesprengt hat, war es wahrscheinlich als ein Ablenkungsmanöver gedacht, um die Organisation und Durchführung der Gegenoffensive zu stören – mit dem Chaos, die eine Flutkatastrophe mit sich bringt.
Das aber, da sind sich Masala und Gressel einig, dürfte für Russland nur kurzfristig Abhilfe schaffen. "Die Ukraine braucht zur Eindämmung der Katastrophe die Nationalgarde und Pioniere. Das sind nicht die Sturmtruppen, die weiter im Osten kämpfen", meint Gressel.
Zwar könne es der Kreml der ukrainischen Armee damit erschweren, Entlastungsangriffe über den Fluss Dnipro durchzuführen. Aber das auch nur für kurze Zeit, glaubt Gressel: "Nach einem Monat wird die Ukraine wieder in der Lage sein, Entlastungsangriffe über den Fluss zu starten. Das Wasser wird wieder zurückgehen."
Nach der Einnahme der Stadt Cherson durch die Ukraine im Spätsommer 2022 und dem Rückzug der russischen Truppen auf die südöstliche Dnipro-Seite ist es vergleichsweise ruhig an dieser Front geworden.
Durch den breiten Fluss erschienen groß angelegte Offensiven als nur schwer durchführbar. Deshalb werden in diesem Frontabschnitt lediglich Entlastungsangriffe erwartet, die die Ukraine durchführt, um russische Truppen zu binden und sie damit an anderen Abschnitten zu schwächen.
Krim: ein strategischer Albtraum für Russland
Welche politischen Folgen der Dammbruch hat, hängt auch davon ab, wer für die Eskalation verantwortlich ist. Sollte der russischen Armee eine Sprengung nachgewiesen werden können, hätte die internationale Gemeinschaft ein erneutes Beispiel für russische Kriegsverbrechen. Es würde wieder zu hitzigen Debatten bei den Vereinten Nationen kommen, und Putins letzter Verbündeter China geriete weiter unter Druck. Das wäre ein Eigentor für den Kremlchef.
Hinzu kommt, dass der Dammbruch auch den Kreml vor große Herausforderungen stellt. Schließlich war Nowa Kachowka auch für die Wasserversorgung der von Russland annektierten Schwarzmeerhalbinsel Krim wichtig. "Die Wasserversorgung der Krim wird dadurch zusammenbrechen, und Russland wird nun vor allem versuchen, die Versorgung mit Lastwagen zu organisieren", erklärt Gressel.
Zwar hat Moskau die Bevölkerung auf der Krim schon evakuieren lassen, aber die schwierige Versorgungslage erschwert die strategische Lage für Russland auf der Schwarzmeerhalbinsel zusätzlich. Sollte eine Offensive Kiews so erfolgreich sein, dass die ukrainische Armee bis an Asowsche Meer vorrücken und von dort die Krim-Brücke attackieren kann, wäre das ein strategischer Albtraum für Russland. Militärexperte Gressel sagt dazu: "Schon seitdem Putin die russische Bevölkerung auf der Krim evakuieren musste, ist sie kein Urlaubsparadies mehr. Auch an dieser Stelle kollabiert die russische Propaganda."
- Gespräch mit Carlo Masala
- Gespräch mit Gustav Gressel
- kyivindependent.com: "Ukraine war latest: Zelensky says Ukraine ready for counteroffensive; Russian attack near Dnipro kills 2-year-old" (englisch)
- kyivpost.com: "EXPLAINED: Russia Claims to Have Repelled ‘Large-Scale Ukrainian Offensive’, Rumors of Counteroffensive Swirl" (englisch)
- understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, June 5, 2023 (englisch)
- spiegel.de: "Wasser in Nowa Kachowka könnte um bis zu zwölf Meter steigen"
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP