Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die nächste Gefahr aus Amerika
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen: Ein Jahrhundert ist es her, dass der Philosoph Ludwig Wittgenstein uns diese einfache, aber profunde Weisung mit auf den Weg gegeben hat. Als Journalist arbeite ich in einem wortreichen Beruf, dem der Hang zum Schweigen eher fremd ist. Doch manchmal ist es auch für uns ein guter Rat, die Hände von der Tastatur zu nehmen oder das Mikrofon beiseitezulegen. Aber nicht, weil man über ein Thema gar nicht sprechen kann. Sondern weil es verlockend einfach wäre, da anzubeißen.
Die Zwischenwahlen in den USA haben einen Mann ins Rampenlicht zurückgebracht, der diesen Moment kaum erwarten konnte. Noch hat sich die Welt nicht so recht von Donald Trump erholt, prompt ist er wieder da. So ganz war er sowieso nie weg, jedenfalls nicht aus der Republikanischen Partei, in der seine Leute die Strippen gezogen, Kandidaten durchgedrückt und Kritiker kaltgestellt haben. Der Ex-Präsident hat akribisch an seiner Rückkehr in die Schlagzeilen gearbeitet. Seit seiner Verbannung von Twitter und Facebook hat er sogar ein eigenes soziales Netzwerk gegründet, aus dem seine Lügen über angeblichen Wahlbetrug, Verschwörungsgeplapper, Beleidigungen und Drohungen in die etablierten sozialen Medien hinüberschwappen.
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Während seiner Amtszeit hat der Twitter-Präsident die Amerikaner, die Welt und auch uns Journalisten von Eklat zu Eklat gehetzt. Bei seinen nahezu täglichen Skandalen kam man kaum noch hinterher. Der Wahnsinn hatte Methode. Trump wollte den Nachrichtenzyklus komplett dominieren. Korrespondenten und Reporter jagten ihm atemlos hinterher – vorbei an seinen innerparteilichen Konkurrenten und den Demokraten in der Opposition, die man als Schatten am Wegesrand kaum noch wahrnahm. Trump, der Meister der permanenten Aufregung, hat im Amt nicht viel auf die Reihe gebracht, aber seine Medienmasche lief wie am Schnürchen. Die Gefahr ist groß, dass sich das Spiel nun wiederholt.
Es ist auch hierzulande ein übler Volkssport, pauschal über die Presse und das Fernsehen herzuziehen. Man braucht dazu gar nicht irgendwelchen rechten Wirrköpfen zu lauschen, die über "Lügenpresse" oder "Staatsfunk" schwadronieren. Oft und gerne prasselt die Kritik auf alles Mediale nieder, von der "Tagesschau" bis zum Lokalblatt, auch wir bei t-online bekommen unser Fett ab. Mal ist es berechtigte Empörung über Fehler, wie sie auch im Nachrichtengeschäft leider passieren, manchmal die Aufregung darüber, dass sich die eigene Meinung an den veröffentlichten Fakten reibt. Doch selbst die kritischsten Geister dürften erleichtert die blühenden Wiesen der heimischen Medienlandschaft genießen, nachdem sie kurz mal ins amerikanische Fernsehen rübergezappt haben.
Denn es ist leider so: In den USA hat sich auf vielen Kanälen ein marktschreierischer Nachrichtenjargon etabliert, ein Stakkato der "Breaking News", in dem ein endloser Schwarm von Mücken als Elefantenherde durch das Studio galoppiert. Dauernachrichtensendungen buhlen mit viel Lärm um nichts um die Aufmerksamkeit der Zuschauer, weil nur so Einschaltquoten möglich sind, die das wirtschaftliche Überleben eines Medienhauses garantieren. Und ja, auch das verehrte Publikum ist nicht ganz unschuldig daran. Medien hyperventilieren, weil das bei Zuschauern, Hörern und Lesern super ankommt.
Den Donald Trumps dieser Welt spielt solche Aufgeregtheit in die Hände. Niemand ist versierter auf der überschäumenden Medienwelle gesurft als der Star aus dem Reality-TV. Die Wirklichkeit abseits der Mattscheibe zeichnet sich nach den Zwischenwahlen hingegen durch etwas aus, was Donald Trump gar nicht behagt: Komplexität. Die Kandidaten, die er ausgewählt und unterstützt hat, haben deutlich schlechter als erwartet abgeschnitten. Parteifreunde hingegen, die zu ihm auf Abstand gegangen sind, haben Siege eingefahren. Während der Ex-Bewohner des Weißen Hauses sich auf dem sicheren Weg zum Wiedereinzug wähnte, ist in der eigenen Partei ein ehemaliger Zögling zum Konkurrenten herangewachsen, der einen fulminanten Wahlsieg eingefahren hat: Floridas Gouverneur Ron DeSantis kann jetzt vor Kraft kaum laufen und dürfte Trump bald den Platz an der Spitze streitig machen. Der Ron ist ein Populist wie der Donald, gilt jedoch als smart, kühl und kalkulierend. Sein schwächelndes Charisma kann er durch ein Plus an Kompetenz ausgleichen, berichtet unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.
Das Ende der Ära Trump ist damit aber noch lange nicht eingeläutet. Den Demokratiefeind und seine Entourage wird das enttäuschende Abschneiden bei den Kongresswahlen nicht abschrecken. Denn die Trumpisten zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus. Erstens pflegen sie ein distanziertes Verhältnis zur Realität: In Trumps Lager hat sich noch nicht einmal die Erkenntnis durchgesetzt, dass Joe Biden die Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren wirklich gewonnen hat. Ein mittelmäßiges Ergebnis bei den Zwischenwahlen ist in diesem Klub erst recht kein Fakt. Zweitens eint Trumps Truppe der unbedingte Wille zur Macht.
Und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Es mag wohl sein, dass die Kandidaten des Zampanos bei den Wählern nicht gut ankamen – zu extrem, manchmal auch einfach zu irre sind sie aufgetreten. Aber bei den engagierten Mitgliedern der Republikanischen Partei sind die Trump-Leute überaus beliebt. An der Basis geben vielerorts die Extremisten den Ton an. Für sie ist im Wahljahr 2024 nur ein einziges Ergebnis denkbar: die Wiederkehr ihres Messias. Alles andere kann nur Wahlfälschung sein.
Das endgültige Ergebnis der Zwischenwahlen wird noch immer ausgezählt (hier der aktuelle Stand). Eines aber ist jetzt schon klar: In der amerikanischen Politik wird es wieder lauter. Für uns Journalisten auf beiden Seiten des Atlantiks heißt das: aufpassen, dass wir nicht in die von Trump gestellte Falle tappen. Es gibt genug über ihn zu berichten und einzuordnen. Doch nicht jeder seiner Winkelzüge verdient begleitendes Tamtam. Trump hat die Hebel der Macht nicht in der Hand, also dürfen wir die Aufmerksamkeit auf das notwendige Maß zurückfahren. Und gelegentlich auch mal schweigen.
Ach so: Hatte ich eigentlich erwähnt, dass Trump für kommenden Dienstag ein wichtiges, aufregendes Statement angekündigt hat? Nein? Na so was! Ich schlage vor, wir warten erst mal ab.
Was steht an?
In zehn Tagen beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft. Absurd, dass sie in der Wüstendiktatur Katar stattfindet, aber sportlich dürfte sie spannend werden. Heute stellt Bundestrainer Hansi Flick seinen Kader vor. Unser Sportchef Andreas Becker und sein Team werden die Mannschaft sogleich analysieren.
Die Ampelkoalition im Bundestag will nicht nur die Wohngeldreform und das erhöhte Kindergeld, sondern auch das neue Bürgergeld beschließen, das Hartz IV ersetzen soll. Meine Kollegin Frederike Holewik erklärt Ihnen den Unterschied. Allerdings haben CDU und CSU im Bundesrat eine Blockade angekündigt, am Ende läuft es also vermutlich entweder auf eine Verschiebung oder auf einen Kompromiss hinaus. Außerdem wird der Bundestag voraussichtlich entscheiden, dass die letzte Bundestagswahl in Berlin wegen gravierender Mängel wiederholt werden muss. Das Ergebnis dürfte an der Zusammensetzung des Parlaments aber wenig ändern.
Wofür gibt der Staat all das Steuergeld aus? Darüber berät der Haushaltsausschuss des Bundestags in einer Nachtsitzung bis morgen früh. Unser Reporter Tim Kummert beschreibt das Tauziehen um die Milliarden.
Die katholischen Kirchenoberen sinken immer tiefer in den Morast aus Missbrauch, Vertuschung und Scheinheiligkeit: Die Kölner Staatsanwaltschaft Köln hat Ermittlungen gegen Rainer Maria Woelki eingeleitet. Eine ehemalige Mitarbeiterin hat ihr jahrelanges Schweigen gebrochen, der Erzbischof könnte bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen gelogen haben. Unsere Bayern-Korrespondentin Meike Kreil berichtet außerdem von gravierenden Vorfällen in Bamberg, wo der Erzbischof soeben zurückgetreten ist.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach will Marihuana legalisieren. Viele Polizisten halten das für eine Schnapsidee. Das Bundeskriminalamt berichtet heute, wie und warum die Rauschgiftkriminalität zunimmt. Anschließend will die Drogenbeauftragte der Bundesregierung erklären, wie Hilfsangebote künftig die Strafverfolgung ersetzen sollen.
Haben Sie auch den Eindruck, dass Sie nach Ihrer Corona-Infektion noch nicht wieder hundertprozentig fit sind? Heute erfahren wir, wie vielen Menschen es ähnlich geht: Die Uniklinik Dresden hat die Daten Tausender Erkrankter im Hinblick auf Post-Covid-Symptome untersucht.
In Hamburg versuchen sich Weltrekordhalter an neuen Bestleistungen: Es geht um die meisten mit der Hand zerschlagenen Getränkedosen, die meisten mit dem Ellenbogen zerkloppten Getränkedosen und die meisten mit der Hand zerschmetterten Kokosnüsse. Sachen gibt's.
Was lesen?
Ausgerechnet am Jahrestag des Mauerfalls ist der Bürgerrechtler Werner Schulz überraschend während einer Feier im Schloss des Bundespräsidenten gestorben. Mehr deutsche Symbolik ist kaum denkbar, meint unser Kolumnist Gerhard Spörl.
Die russische Führung hat den Rückzug ihrer Streitkräfte aus der ukrainischen Stadt Cherson angekündigt. Putins Kartenhaus bricht zusammen, schreiben unser Kiew-Reporter Daniel Mützel und unser Außenpolitikexperte Patrick Diekmann.
Wer Zerstörung verursacht, muss zahlen: Dieses Prinzip wollen viele Staaten auch auf die Folgen der Erderhitzung anwenden. Für Deutschland könnte es richtig teuer werden, berichtet meine Kollegin Sonja Eichert.
Promi-Sternchen Cathy Hummels weiß sich clever zu vermarkten. Wie dreist die "Influencerin" dabei ernste Themen instrumentalisiert, zeigt Ihnen unsere Kolumnistin Nicole Diekmann.
Was amüsiert mich?
Ich gestehe: Meine allerliebste Lieblingsfernsehsendung war "Herzblatt". Umso mehr freue ich mich, dass über ein Comeback der Vorabend-Show nachgedacht wird. Dann bekommen wir endlich wieder Höhepunkte wie diesen hier serviert.
Ich wünsche Ihnen, mit Verlaub, einen Tag voller Höhepunkte.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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