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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russischer Rückzug aus Cherson Putins Kartenhaus bricht zusammen
Nun also doch: Die russische Führung kündigt den Rückzug ihrer Streitkräfte aus der Stadt Cherson an. Für Wladimir Putin ist das die nächste schmachvolle Niederlage.
Eigentlich war der Rückzug lange überfällig. Die russische Armee befand sich in der ukrainischen Provinz Cherson in einer katastrophalen Lage – sie saß teilweise in der Falle. Tausende russische Soldaten sollten die Frontlinie im Süden stabilisieren. Sie standen mit dem Rücken zum Dnepr, und die Versorgungsbrücken über den Fluss wurden immer wieder von ukrainischer Artillerie erfolgreich attackiert. Kein Ausweg und keine Aussicht auf schnelle Verstärkung.
Russische Generäle forderten deswegen laut westlichen Sicherheitsdiensten schon seit Wochen die Erlaubnis, sich auf das Ostufer des Dnepr zurückziehen zu dürfen, um dort eine neue Verteidigungslinie zu etablieren. Doch was als militärisch vernünftig galt, wurde vom Kreml aus politischen Gründen abgelehnt. Wladimir Putin soll die Verteidigung der Stadt Cherson persönlich befohlen haben, berichteten westliche Geheimdienstkreise vor Wochen. Doch nun scheint das Kartenhaus des russischen Präsidenten mit einem Paukenschlag zusammengebrochen zu sein.
Russland will sich vom gesamten besetzten Gebiet westlich des Dnepr zurückziehen, kündigte das russische Verteidigungsministerium am Mittwoch an. Natürlich kann es sich dabei um eine Kriegslist von Putin handeln. Doch der Schaden für die russische Kriegspropaganda ist schon jetzt katastrophal. Allein die Ankündigung kommt einem Offenbarungseid gleich: dem Eingeständnis, eine der größten seit Februar eroberten Städte militärisch nicht halten zu können.
Damit droht dem Kremlchef eine weitere militärische Demütigung durch die ukrainischen Streitkräfte. Der Druck auf Putin wird größer.
Symbolische Ohrfeige für Russlands Präsidenten
Immerhin geht es um Cherson. Es war die einzige Regionalhauptstadt, die die russische Armee seit Beginn von Putins Invasionsbefehl besetzen konnte. Eine strategisch wichtige Stadt, die über den Nord-Krim-Kanal die russisch besetzte Krim mit Wasser versorgt. Hier gab es Proteste gegen die Besatzer, bei denen russische Soldaten das Feuer auf Demonstranten eröffneten. Doch auch nach der Niederschlagung kehrte im besetzten Teil von Cherson keine Ruhe ein.
Hinter den feindlichen Linien waren ukrainische Untergrundkämpfer aktiv. Immer wieder kam es zu Entführungen, Attentaten und Bombenanschlägen auf Mitglieder der von Russland eingesetzten Verwaltung. Zuletzt starb der Vize-Verwaltungschef Kirill Stremoussow, laut russischen Besatzungsbehörden angeblich bei einem Verkehrsunfall. Auch militärisch wurde der Kampf um die Stadt Cherson in der Propaganda beider Seiten zu einer Schlacht erklärt, die den Krieg entscheiden könnte.
Der Rückzug der russischen Armee, sollte er sich bewahrheiten, wäre demnach zunächst eine große symbolische Niederlage, die eigentlich überhaupt nicht vorgesehen war. Erst Ende September ließ der russische Präsident die gesamte ukrainische Region Cherson annektieren. Man könnte aus russischer Perspektive sagen: Putin zieht russische Soldaten aus Russland ab. Eine Schmach.
Dabei sollte Cherson laut Angaben der russischen Armee eigentlich bis zum letzten Mann verteidigt werden. Die Bevölkerung wurde evakuiert, damit diese laut Putin aus der Kampfzone gebracht wird. Häuser wurden besetzt, Verteidigungslinien eingerichtet. Nun plötzlich die Einsicht? Skepsis ist angebracht.
Denn eines steht fest: Nur wenige Informationen dringen aus Cherson nach außen, der Nebel des Krieges dort ist undurchschaubar. Bei der Rückzugsankündigung könnte es sich um Kriegstaktik handeln, die eine Offensive der Ukraine hinauszögern soll. Oder Russland könnte die Ukraine zu einem überstürzten Angriff bewegen wollen. All das ist möglich, aber unwahrscheinlich.
Ukrainische Regierung wittert Falle
Die Ukraine geht ohnehin sehr misstrauisch mit Verkündungen aus Moskau um. Ob die ukrainischen Truppen bereits innerhalb der nächsten Tage ein Gelände von über 4.000 Quadratkilometern Größe zurückerobern können, ist unklar. Der Selenskyj-Berater Mychajlo Podoljak warnt, es sei zu früh, um schon von einer "Befreiung Chersons" zu sprechen. "Wir sehen keine russischen Truppenbewegungen, die die Aussagen der russischen Militärführung bestätigen würden", so Podoljak zu t-online. Die Lage vor Ort wird zeigen, ob sich die russischen Truppen tatsächlich zurückziehen oder ob dies nur eine Falle sei, um die ukrainischen Kräfte in Sicherheit zu wiegen, bevor ein harter Häuserkampf beginne.
Tatsächlich passiere derzeit das Gegenteil, so Podoljak: "Die russische Armee verstärkt ihre Truppen in der Region, unter anderem mit einer signifikanten Zahl mobilisierter Soldaten, einschließlich schwerer Waffen." Während die Kreml-Propaganda von einem Rückzug spreche, verstärkten russische Truppen ihre Verteidigungslinien am linken Dnepr-Ufer, um ein weiteres Vordringen der Ukraine zu verhindern, warnt der Selenskyj-Berater.
"Cherson wird definitiv befreit", so Podoljak. Aber man beurteile die Lage anhand von realen Gegebenheiten und Geheimdienstinformationen, nicht anhand von russischen Ankündigungen im Fernsehen. "Wir sprechen erst von einer Befreiung Chersons, wenn die ukrainische Flagge wieder über der Stadt weht."
"Beginnen Sie mit dem Abzug"
In Cherson drohen auch weiterhin schwere Kämpfe. Noch sind Zehntausende russische Soldaten in der Region, und deren Vorbereitungen auf einen Abzug sind offenbar noch nicht erkennbar. Die Ukraine weiß: Ihre Truppen müssten auch nach einem russischen Rückzug über den Dnipro, wenn sie weitere Teile des Südens befreien möchten.
Aber welchen Plan hat Putin? Militärisch wäre Cherson aus strategischer Perspektive für Moskau nur schwer über den Winter zu verteidigen. Der Kreml hätte sich außerdem in eine weitere Sackgasse manövriert, weil Verteidigungsminister Sergej Schoigu im Zuge des Rückzuges erklärte, dass man mit dieser Maßnahme die eigenen Soldaten schützen wolle. Wenn Russland seine Soldaten nun doch in einen blutigen Häuserkampf in Cherson schickt, wäre das eine Katastrophe für die Kampfmoral.
Der Druck auf den russischen Präsidenten wird nach diesem Offenbarungseid weiter steigen. Russische Nationalisten, die schon seit Monaten den Einsatz von Massenvernichtungswaffen fordern, werden sich durch die nächste Niederlage ihrer Armee bestätigt fühlen. Die russische Führung wird sich dazu gezwungen fühlen, militärische Stärke zu demonstrieren. Es könnte wieder massive Angriffe auf ukrainische Infrastruktur geben, so wie nach der ukrainischen Attacke auf die Krim-Brücke.
Putin dagegen versucht, sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen. Für die Rückzugsankündigung schickte er Schoigu und den russischen Befehlshaber in der Ukraine, Sergej Surowikin, vor. Womöglich, um sie als Sündenböcke zu präsentieren, damit nichts von der schmachvollen Niederlage am Präsidenten hängenbleibt. "Beginnen Sie mit dem Abzug der Soldaten", sagte der russische Verteidigungsminister auf seiner Pressekonferenz an die Adresse der russischen Offiziere. Das ist ein Befehl, auf den im Angesicht dieses Krieges viele Menschen in der Ukraine warten – nicht nur in Cherson, sondern im ganzen Land.
- Eigene Recherche