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Das Schreckenshaus des Sektengurus von Wesel


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Schläge und Vergewaltigungen
Das Schreckenshaus des Sektengurus von Wesel


Aktualisiert am 19.11.2020Lesedauer: 7 Min.
Mit diesem Bild (links) warb W. für seine Angebote: Im "Haus Constanze" in Wesel soll der Sektenführer seine Gemeinschaft drangsaliert haben.Vergrößern des Bildes
Mit diesem Bild (links) warb W. für seine Angebote: Im "Haus Constanze" in Wesel soll der Sektenführer seine Gemeinschaft drangsaliert haben. (Quelle: J. Mueller-Töwe/t-online/Screenshot: Balance-Recovery)
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Er versprach Menschen in Lebenskrisen tiefgreifende Heilung – und soll ihr Vertrauen gnadenlos ausgenutzt haben. Vorwürfe gegen einen Sektenführer in NRW sind ein Protokoll des Grauens.

Gerede gab es. Aber Gerede gibt es in Dörfern immer. Besonders über die Gasthäuser, die ihnen Geschichte und Identität geben, die Menschen seit ihrer Kindheit kennen und mit denen sie Erlebnisse verbinden. In den Restaurants und Hotels kleiner Städte werden Hochzeiten und Konfirmationen gefeiert, nach Beerdigungen die Verwandtschaft empfangen. Die Älteren wissen noch, wie dort einst das Eis geschmeckt und wie viel es gekostet hat.

Gasthäuser sind etwas sehr Persönliches. Das ist in Diersfordt, einem kleinen Stadtteil von Wesel am Niederrhein, nicht anders.

"Balance-Recovery" kommt in die Stadt

Deswegen war es auch nicht verwunderlich, dass Gerüchte die Runde machten, als vor drei Jahren neue Pächter von auswärts in das "Haus Constanze" einzogen und das Ausflugslokal seither mit dem Zusatz "Selbstheilungszentrum" bewarben. 150 Jahre war es in Familienbesitz. Am Rande des Waldes erhebt sich der wuchtige rot-braune Ziegelbau aus dem 19. Jahrhundert. Durch die Rundbogenfenster, den turmartigen Aufsatz und die Spitzdächer wirkt er fast wie ein herrschaftlicher Sitz.

Und in gewissem Sinne trügt dieser Eindruck nicht: Seit die neuen Pächter einzogen, blieb zwar vordergründig mit Hotel, Café und Restaurant alles beim Alten. Mutmaßlich errichtete aber ein kleiner Herrscher ein kleines Reich. Mit Buddha vor der Tür und Qualen dahinter. Mit Windgöttin an der Wand und Demütigungen im Alltag. Mutmaßlich mit Missbrauch und Vergewaltigungen.

Dies ist die Geschichte des Hauses, das sich mehrere Jahre "Balance-Recovery Life-Center" nannte, und die Geschichte seines mutmaßlichen Anführers, den manche Beobachter einen Sektenguru nennen.

Tatvorwürfe und Unschuldsvermutung

W. sitzt nach Informationen von t-online seit August in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft Duisburg hat Anklage erhoben. Sie zählt 38 konkrete Tatvorwürfe auf, darunter: 20 gefährliche Körperverletzungen, Misshandlung von Schutzbefohlenen, Freiheitsberaubung, drei sexuelle Nötigungen und fünf Vergewaltigungen. Insgesamt soll es zehn Opfer geben.

Bis zu einem rechtskräftigen Urteil gilt die Unschuldsvermutung. Sein Verteidiger äußerte sich auf mehrfache Anfrage binnen einer Fünf-Tage-Frist bislang nicht zu den Vorwürfen. Sollten sie allerdings zutreffen, war das sogenannte "Selbstheilungszentrum" im kleinen Diersfordt eher W.s persönliches Schreckensregime.

"Wir werden Dich in tieferen Kontakt mit deinen Gefühlen, Emotionen, Erwartungen und Überzeugungen bringen. In einer liebenden Umgebung werden wir Dich inneren Frieden, Harmonie und Gleichgewicht von Herz, Verstand und Gefühlen erfahren lassen." (Selbstbeschreibung der Gemeinschaft)

Esoterische oder quasi-religiöse Gemeinschaften gibt es in Deutschland viele. Oft sind sie so klein, das sie einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt nicht bekannt sind. Die meisten sind harmlos und wenden sich an Menschen, die in ihrem Leben nach Sinn suchen. Manche werben damit, Brüche im Lebenslauf heilen zu können. Verletzungen vergessen, nach vorne schauen, Dinge zum Positiven verändern. Das ist das, was Menschen sich zu Recht wünschen dürfen. Und W. versprach es ihnen.

Der Niederländer, heute 57 Jahre alt, ist ein stämmiger Mann mit breitem Gesicht. Auf Fotos lässt sein Lachen eine Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen durchblitzen, das dunkle Haar ist stets etwas verwuschelt. Die Bilder, mit denen er für seine Therapien warb, zeigen ihn so, wie er sich selbst gern der Öffentlichkeit präsentierte: Das Hemd bis zur Brust aufgeknöpft, legt er Menschen die Arme um die Schultern, streichelt ihnen über den Nacken, kniet vor Kindern. Und stets lacht er, hält Augenkontakt.

Gut bezahltes Gottesgeschenk

Einfühlsamkeit, "unbedingte Liebe", das war bis dato der Markenkern des selbst ernannten "Transformations- und Bewusstseinstrainers", der in einem Video-Interview mit einer Anhängerin seinen angeblichen Erweckungsmoment beschrieb: "Plötzlich fühlte ich all meine Macht, alle nur mögliche Macht, und ich sagte zu Gott: Das ist so viel Macht, damit kann man die Welt zerstören, das kann ich nicht. (...) Doch dann sagte etwas in mir: Wenn Du die Welt zerstören kannst, kannst Du sie auch heilen." Das klingt nach Allmachtsfantasie.

Die "gottgegebene" Gabe, von der er seine Seminarteilnehmer überzeugte, ließ sich W. fortan jedenfalls gut bezahlen. Eine Preisliste für einen zweitägigen Gruppen-Workshop ist auch Wochen nach seiner Verhaftung noch zu finden: Erwachsene 149 Euro, Studenten 109 Euro, Kinder 89 Euro. 50 Prozent Anzahlung erforderlich. Mit den Angeboten ging er auch auf Reisen ins Ausland, nach Litauen, Tschechien, in die Türkei. Zusätzlich gab es Skype-Sessions und private Sitzungen zu zweit gegen Honorar. Auch Videos wurden verschickt.

"W. bei einem Balance-Recovery Selbstheilungsmoment zu treffen ist lebensverändernd und zutiefst heilsam. Du wirst das Leben selbst treffen." (Selbstbeschreibung der Gemeinschaft)

Und manche derjenigen blieben, die mit ihm diese – laut Eigenwerbung "lebensverändernden" – Momente durchlebten. Sektenexperten sagen, es seien traumatisierte Menschen, Kranke, verletzliche Charaktere gewesen, laut Anklage auch ein Minderjähriger. Zumindest waren es genug, um W.s Traum vom eigenen "Zentrum" wahr zu machen. Mit Geschäftspartnern pachtete er 2017 das "Haus Constanze" und zog mit seiner Gemeinschaft dort ein. Fortan war es nicht mehr allein Hotel und Gaststätte, wie die 150 Jahre zuvor, sondern auch Sitz der "Balance-Recovery Life-Center GmbH".

Die Neuen bleiben für sich

Im Dorf muss das eine Weile für Aufsehen gesorgt haben. Die neuen Pächter dekorierten um, stellten Statuen im Garten auf. "Das mochten einige und einige nicht so recht", heißt es dazu in der Nachbarschaft, wo Reporter freundlich empfangen, zum Kaffee eingeladen und mit schönem Gruß weitergeschickt werden. Auch wenn das Frühstück im Gasthaus wohl eine Zeit lang noch ansehnlich war – so recht warm wurde man nicht mit "dem Holländer", wie sie W. dort nennen.

Die Neuen im "Haus Constanze" blieben bis auf Kontakt mit Gästen und Geschäftspartnern für sich. Gastfreundlich und höflich zwar – von der guten Nachbarschaft alter Tage, als Gastwirtin "Tante Edith" noch alle Besucher beim Namen kannte und die "Weselaner" noch ihre Vereinsversammlungen dort abhielten, war aber nichts mehr zu spüren. Dazu trug wohl auch ein Stück weit das Geschäftskonzept bei.

Denn mit der Esoterik dahinter hielten die neuen Gastwirte nicht hinterm Berg. Zumindest stellte auch eine Lokalzeitung zur Eröffnung vorsichtige Fragen. "Es heißt, wir sind eine Sekte", sagte die junge Geschäftsführerin A. daraufhin. "Dabei wollen wir das Gegenteil: Menschen sollen wieder selbstständig werden, nicht mehr abhängig sein." t-online hat den abgekürzten Namen der zierlichen jungen Frau geändert. Ein Foto zeigt sie mit schulterlangen rotbraunen Haaren strahlend im Garten des Hauses. Doch die ersehnte Ruhe stellte sich offenbar nicht ein.

Die verschwundene Geschäftsführerin

"Seit Freitag (02.03.2018) wird die 35-jährige A. aus Wesel vermisst", hieß es wenige Monate später in einer Mitteilung der Kreispolizei. Familie und Freunde hatten die junge Frau nicht mehr erreichen können und Anzeige erstattet. Wochenlang galt sie als vermisst, die Polizei fahndete öffentlich. Als sie wieder auftauchte, "wohlbehalten", wie die Polizei mitteilte, schied sie aus der Geschäftsführung des "Life-Centers" aus. Die Hintergründe des Zwischenspiels liegen bis auf Gerüchte noch im Dunkeln.

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Bekannt ist hingegen, dass die Vorgänge in Diesfordt im Laufe des Jahres "erneut intensiven Beratungsbedarf" bei der Sektenberatungsstelle in Nordrhein-Westfalen auslösten. In ihrem damaligen Bericht warnte sie vor W.: "Es finden sich keine Hinweise auf eine anerkannte pädagogische, medizinische oder psychotherapeutische Ausbildung." Seine Theorie zur Heilung von Krankheiten berge die Gefahr, "dass Menschen eine schulmedizinische Behandlung vernachlässigen oder Schuldgefühle entwickeln, da man sich als selbst verantwortlich dafür fühlt, krank geworden zu sein".

Was sich im "Selbstheilungszentrum" zu dieser Zeit tatsächlich abspielte, glaubt die Staatsanwaltschaft Duisburg mittlerweile aufgeklärt zu haben.

"Der Weg zu Gnade und Glückseligkeit führt oft durch Schmerz, Verzweiflung und Leid." (Selbstbeschreibung der Gemeinschaft)

Über Jahre soll das "Haus Constanze" Tatort schwerster Misshandlungen gewesen sein. Die vermeintlichen Therapiemaßnahmen waren demnach häufig sexueller Natur. W. habe seine Opfer zu sexuellen Handlungen gezwungen, zum Teil mit ihm selbst, zum Teil untereinander, heißt es in der Anklage. Den Vorwürfen zufolge beinhaltete das erzwungenen Oralverkehr. Bis zu fünf Tage lang sollen Opfer in ein Gartenhäuschen gesperrt worden sein. Zu den Therapiemaßnahmen gesellten sich körperliche Züchtigungen.

Ein Schreckensregime hinter den Kulissen also, während im Gastraum und im Biergarten Ausflügler und Wanderer bedient wurden? Hotel- und Restaurantbesucher lobten im Bewertungsportal von Google oft die Atmosphäre oder die freundliche Bedienung, doch mit der Zeit mischten sich auch andere Stimmen darunter. Die schöne Kulisse wurde brüchig. "Nachdem wir am Abend positiv erfreut waren über das Ambiente und die Gastfreundschaft in der schönen Lage, mussten wir am Morgen leider beobachten, wie das Küchenpersonal aggressiv und handgreiflich behandelt wurde", schilderte dort ein Gast vor etwa einem Jahr. "Das geht gar nicht!"

W. habe immer dann zugeschlagen, wenn er mit den Arbeiten in Küche und Haus nicht zufrieden war oder sein Zorn anderweitig geweckt wurde, heißt es nun seitens der Ermittler: mit Metallstangen, mit Pfannen, mit Schöpfkellen, offenbar mit allem, was gerade zur Hand war. Einige der mutmaßlichen Opfer soll er getreten, einige mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen haben. Anderen fügte W. den Schilderungen zufolge Brandwunden mit einem Bunsenbrenner zu. Nach den Misshandlungen soll er ein Opfer gezwungen haben, das eigene Blut aufzulecken. Von Demütigungen durch Ankoten und Urinieren ist die Rede.

Sie haben Hinweise zu dieser Recherche? Verfügen Sie über Einblicke in Bereiche, die anderen verschlossen sind? Sie möchten Missstände mithilfe unserer Reporter aufdecken? Kontaktieren Sie uns unter hinweise@stroeer.de

Bis zum Sommer 2020 sollen die Misshandlungen im "Haus Constanze" angedauert haben. Bis die Polizei mit mehreren Mannschaftswagen anrückte. Das Haus war nach Querelen mit den Pächtern versteigert worden, das "Selbstheilungszentrum" stand vor dem Aus. "Abgesetzt von einem auf den anderen Tag", habe sich W. daraufhin, heißt es in der Nachbarschaft. Tatsächlich zog er in einen Bungalow auf einem nahegelegenen Campingplatz.

Dort nahmen Beamte W. nur wenige Wochen später fest. Ein mutmaßliches Opfer hatte ihn angezeigt und Ermittlungen ausgelöst. Seitdem sitzt er wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft. Das Landgericht Duisburg entscheidet derzeit über die Zulassung der Anklage, die Verteidigung hat Gelegenheit zur Stellungnahme. Bis zum Urteil gilt die Unschuldsvermutung. Gegen mehrere Mitglieder des "Balance-Recovery Life-Centers" besteht außerdem der Verdacht der unterlassenen Hilfeleistung.

In Diersfordt am Waldesrand ist derweil von den seltsamen Neuen im alten "Haus Constanze" nichts mehr zu sehen. Die Statuen sind aus dem Vorgarten verschwunden, kleine bemalte Steine hat dafür jemand kürzlich am Gartentor hinterlassen. "Jesus liebt Dich", steht auf einem. Im Hinterhof liegt Schutt und Müll. Findet der Ziegelbau mit neuen Eigentümern irgendwann wieder zur neuen Blüte? "So wie bei Edith früher wird es sicher nicht mehr", sagt eine Nachbarin. Gasthäuser sind auch in Diersfordt etwas Persönliches. Das Dorf würde diese Episode sicher gern schnell vergessen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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