Vom Reitlehrer prostituiert Wie holt man seine Tochter aus dem Bordell?
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sie ist noch ein Teenager, als ihr Reitlehrer sie ins Rotlichtmilieu treibt. Heute – viele Jahre später – führt Katharina ein fast normales Leben. Dafür hat ihre Familie jahrelang gekämpft. Ein schmerzhafter Weg.
Die Eltern leben in einem kleinen Ort in Oberfranken. Sie sind inzwischen pensioniert, sie war Lehrerin, er Rechtsbeistand und Steuerberater mit einer eigenen Kanzlei, die er vor ein paar Jahren verkauft hat. Sie haben außer Katharina noch eine jüngere Tochter und zwei Söhne. Die Journalistin Barbara Schmid begleitet die Familie seit Jahren. Sie hat jetzt mit Katharina ein Buch geschrieben* – und für "chrismon" sprach sie mit den Eltern. Sie erzählen, wie sie ihre Tochter verloren und wie sie mit allen Mitteln versucht haben, sie zurückzugewinnen.
Der Reitlehrer war das Idol der Mädchen – er war um die 50 Jahre alt
Mutter: Katharina war ein tolles Kind, robust, zuverlässig, manchmal fast schon draufgängerisch, wenn sie mit dem Rad so lange über Rampen gefahren ist, bis wieder ein Rahmen kaputt war. Als sie etwa zehn Jahre alt war, entdeckte sie das Reiten für sich, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester. Der Reiterhof ganz in der Nähe wurde zum großen Sehnsuchtsort für meine beiden Mädchen.
Vater: Sie waren in Gedanken eigentlich immer im Stall. Beim Essen wurde über Turniere gesprochen, die Schleifen, die sie dort bei Wettbewerben gewonnen haben. Katharina hatte sich für das Springreiten entschieden, unsere jüngere Tochter für die Dressur.
Mutter: Beide schwärmten vom Leben auf dem Hof. Der Reitlehrer war das Idol aller Mädchen, die auf dem Hof ritten und ihre Pferde untergestellt hatten. Dabei war er kein junger Mann mehr. Um die 50 und damit ein paar Jahre älter als Katharinas Vater. Er lebte mit einer sehr attraktiven, 20 Jahre jüngeren Frau zusammen. Sie hatten ein kleines Kind und heirateten bald darauf. Sie feierten das mit einem großen Fest am Stall. Wir dachten damals, unsere Kinder wären dort gut aufgehoben. Viele ihrer Freundinnen waren auch auf dem Hof. Und schließlich haben wir unseren Töchtern auch ein Pferd gekauft. Die Mädchen hatten Schauergeschichten gehört, dass es zum Schlachter müsste, wenn es niemand kauft.
Um die Zeit ihrer Konfirmation hat sich Katharina sehr verändert. Ich habe das damals auf die Pubertät geschoben, sie zog sich immer mehr zurück und sonderte sich ab. Wir haben das nicht verstanden. Vielleicht hätte ich damals mehr fragen müssen? Aber ich bin kein Typ, der bohrt. Ich nehme mich da zurück. Vielleicht war das ein Fehler.
"Der alte Sack" hat Sex mit der Tochter
Vater: Katharina war 15, als uns jemand unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute: Der alte Sack fickt die Katharina. Gemeint war der Reitlehrer.
Mutter: Wir waren starr vor Schock. Ich dachte, mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Konnte das wirklich sein? Mein Kind und dieser alte Mann. Ich bin danach immer öfter mit zum Stall geradelt und habe mich umgeschaut. Ob ich etwas entdecke, sie in flagranti erwische. Ja, ich habe sogar ein paar Reitstunden genommen, um noch mehr Zeit dort verbringen zu können. Wir haben unsere jüngere Tochter gefragt. Sie hatte nichts von einem Verhältnis mitbekommen und konnte sich das auch nicht vorstellen.
Irgendwann haben wir es nicht mehr ausgehalten und Katharina zur Rede gestellt: Läuft da etwas mit deinem Reitlehrer? Doch Katharina hat alles abgestritten. Sehr entschieden. In der Zeit danach hat sie sich nur noch mehr von uns zurückgezogen. Ich habe mit dem Pfarrer gesprochen, der Caritas, dem Kunstlehrer, ihrer Vertrauenslehrerin. Irgendjemand, so habe ich gehofft, kann mir einen guten Rat geben.
Einer meinte, Katharina suche einen Vaterersatz. Mein Mann musste damals sehr viel arbeiten und hatte nicht immer Zeit für die Kinder. Die Lehrerin meinte, Katharina hätte Depressionen. Als ich das Katharina erzählt habe, hat sie sich fürchterlich aufgeregt: Sie sei nicht verrückt, und zu einem Arzt ginge sie auch nicht.
Vater: Ich habe immer wieder versucht, mit ihr zu sprechen. Der Mann ist doch so alt, er kann es doch nicht gut mit dir meinen. Aber sie saß nur da und hat keinen Ton gesagt. Irgendwann habe ich erfahren, dass es sich um einen Kriminellen handelt, mit 19 Vorstrafen. Das ist ein Verbrecher, habe ich sie gewarnt, aber sie hat auf Durchzug geschaltet. Ich musste sie doch warnen! Dann habe ich beschlossen, ich gehe zu ihm und rede mit ihm.
Der Reitlehrer war eiskalt, stritt alles ab
Mutter: Ich habe gedacht, das gibt Mord und Totschlag. Bloß keine Gewalt, habe ich gebeten, als mein Mann mit unserem ältesten Sohn zum Stall fuhr.
Vater: Der Reitlehrer war eiskalt und hat alles abgestritten. Er sei verheiratet und finge nichts mit seinen Reitschülerinnen an. Ich habe ihm kein Wort geglaubt. Aber wir kamen einfach nicht weiter.
Mutter: Es ist furchtbar, wenn man zusehen muss, wie einem das eigene Kind entgleitet. Unser Kind in den Händen dieses Mannes zu wissen, hat mich fast verrückt gemacht. Wir sind zur Polizei gegangen und haben ihn wegen sexuellen Missbrauchs einer Jugendlichen angezeigt. Katharina war damals 16 oder 17 Jahre alt. Die Polizei hat auch tatsächlich mit dem Reitlehrer gesprochen – aber herausgekommen ist nichts. Im Gegenteil, wir mussten uns anhören, dass es keine Straftat ist, wenn Jugendliche, die 14 Jahre sind und älter, einvernehmlichen Sex mit einem Erwachsenen haben.
Vater: Dann haben wir die Pferde vom Hof genommen und sie woanders untergestellt. Viele Eltern haben das damals so gemacht, es gab ja die Gerüchte über Katharina und den Reitlehrer.
Mutter: Ich dachte damals: Das ist die Lösung! Katharina wird automatisch mitkommen. Sie hing doch so an den Pferden. Unsere jüngere Tochter hat das so gemacht. Aber Katharina nicht. Dieser Mann hatte sie damals schon so in seiner Gewalt, er war übermächtig.
Vater: Sie hat ihr eigenes Pferd nicht ein Mal besucht. Nie. Wir haben das Pferd noch viele Jahre behalten, um ihr zu zeigen, dass wir es gut mit ihr meinen.
Mutter: Sie hat damals nur noch das Nötigste mit uns gesprochen, sie saß, wenn sie zu Hause war, allein in ihrem Zimmer und hörte Musik. In den Sommerferien nach ihrem 10. Schuljahr wollte sie nicht mit uns nach Italien fahren. Und sagte auf einmal, dass sie in eine WG ziehen wollte, mit einer Freundin. Ich hatte nichts dagegen, Hauptsache, sie kommt von diesem Mann los, habe ich damals gedacht.
Am letzten Urlaubstag habe ich sie zu Hause angerufen und vorgewarnt, dass wir kommen. Da hat sie mit Freundinnen zusammen bei uns gekocht. Schön, dachte ich. Als wir nachts nach Hause kamen, nahmen wir an, sie schläft in ihrem Zimmer, und wollten sie nicht wecken. Aber sie war gar nicht daheim.
Sollte es nur eine Trotzphase sein?
Vater: Wir dachten, sie ist jetzt in der Trotzphase, sie zeigt es uns jetzt und bleibt zwei, drei Tage weg. Aber Katharina kam nicht wieder nach Hause. Schließlich sind wir zur Polizei gegangen und haben Vermisstenanzeige erstattet, Katharina war damals siebzehneinhalb Jahre alt.
Mutter: Schlimm war es, als die Polizei ihren Roller fand und darin einen Abschiedsbrief. Wir sollten uns keine Sorgen machen, sie wollte als Bereiterin auf einem großen Gestüt arbeiten. "Eine Mutter hatte ich sowieso nicht gehabt", stand da. Das tat so weh. Das war ein Auseinandergehen ohne Abschied. Einfach verschwinden, ohne ein Wort. Das schmerzt immer noch. Mein Mann und ich haben uns damals angewöhnt, uns immer zu verabschieden, wenn einer auch nur ein paar Brötchen holen geht. Bis heute machen wir das so.
Vater: Ich bin jeden Abend auf meinem Roller zum Hof gefahren, hoch zum Reitplatz im Wald. Die Polizei fahndete auch schon nach ihr. Heute weiß ich, dass mich Katharina gesehen hat.
Mutter: Ich bin auch immer wieder Richtung Stall gefahren, es gab da eine Stelle an der Straße, von der aus man den Hof einsehen konnte. Wenn ich sie doch noch sehen könnte, habe ich mir so gewünscht. Einmal sah ich die Frau des Reitlehrers auf dem Hof und habe sofort mein Auto angehalten. Bitte, ich möchte mit meiner Tochter sprechen, habe ich zu ihr gesagt.
Da kam schon ihr Mann auf mich zugelaufen, und beschimpfte mich wütend. Er zog an meinem Zopf und zerrte mich ins Haus, schubste mich in eine dunkle Ecke. Ich sehe heute noch seine dicken Wurstfinger, mit denen er mich gewürgt hat. Meine Tochter bekäme ich erst wieder, wenn ich wieder normal würde. Dann hat er mich gehen lassen. Schlimmer als seine Gewalt war für mich, dass er zugegeben hatte: Er hatte meine Tochter in seiner Gewalt!
Der Vater sah die Tochter wieder – im Rotlichtmilieu
Vater: Wir haben ihn wegen Körperverletzung angezeigt, doch er wurde nur zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt. Das war eine vertane Chance, das Mädchen aus seinem Machtbereich zu entfernen. Vor der Gerichtsverhandlung kam eine Zahnarztrechnung aus Mannheim. Katharina war bei meiner Frau privat krankenversichert. Nun hatten wir endlich einen Anhaltspunkt, acht Monate nach ihrem Verschwinden.
Mutter: Wir sind nach Mannheim gefahren. Am Bahnhof habe ich Taxifahrern Fotos von Katharina gezeigt. Ich war so verzweifelt. Einer der Fahrer gab uns den Tipp: Lupinenstraße. Der Rotlichtbezirk von Mannheim. Ein großes Tor versperrt den Eingang zur Straße, nur mein Mann konnte da reingehen
Vater: Ich weiß nicht mehr, was ich dabei gefühlt habe. Ich war so sehr darauf konzentriert, mit den Mädchen dort zu sprechen. Ich habe den jungen Frauen, die dort in den Fenstern saßen, Fotos gezeigt: Kennen Sie Katharina, kennen Sie meine Tochter? Keine hat geholfen. Am Ende der Straße, links hinten, habe ich dann Katharina gefunden. Sie trug Shorts und ein knappes Oberteil, Strandmode, die wir in unserem letzten gemeinsamen Urlaub gekauft hatten. Katharina hat mich auch gesehen und ist sofort abgehauen. Ich habe versucht, ins Haus zu kommen. Aber es ging nicht. Dann kam ein Mann und sagte, ich solle verschwinden.
Nach zwei Jahren wurden die schlimmsten Ängste wahr
Mutter: Damals bin ich in alle kleinen Läden und Buden gegangen, die rund um die Bordellstraße lagen, und habe dort Fotos von Katharina da gelassen und unsere Telefonnummer. Habe wildfremde Menschen um Hilfe gebeten. Briefe an Katharina geschrieben und in den Läden deponiert, mit der Bitte, sie ihr zu geben, wenn sie sich vielleicht mal Zigaretten oder was zum Essen holt. Eine der Frauen hatte sich damals wirklich um mich gekümmert. Sie kam wohl aus der Türkei und hat mir versprochen, ihren Schwager immer wieder mal in die Straße zu schicken, um nach Katharina zu schauen.
Vater: Wir waren tief getroffen. Wir wussten jetzt, Katharina ist in diesem Milieu. Das haben wir sofort der Polizei mitgeteilt. Aber dort hat man uns nur erklärt, in ein paar Monaten sei Katharina volljährig, und dann könne man eh nichts mehr machen.
Mutter: Fast genau zwei Jahre nach ihrem Verschwinden bekamen wir eine Arztrechnung aus Bayreuth: Katharina war furchtbar zusammengeschlagen worden, ihre Nase war gebrochen, sie hatte viele Prellungen und Schürfwunden. Es war also so schlimm gekommen, wie wir immer gefürchtet haben.
Ich weiß ja, dass Ärzte nicht über ihre Patienten reden dürfen. Aber ich habe den behandelnden Arzt, einen Professor der Uniklinik, einfach angerufen. Wir machten einen Termin aus, und er hat in den nächsten Jahren immer wieder versucht zu helfen. Einmal wollte er sie sogar mit ein paar schweren Jungs aus dem Bordell holen.
Vater: Das haben wir uns nicht getraut. Vielleicht wenn wir gewusst hätten, was noch alles passiert.
Katharina wollte sich melden – in ein bis zwei Jahren
Mutter: Dann haben wir einen Detektiv eingeschaltet, und wenig später wussten wir, wo Katharina war: in einem Club, einem Bordell mit einer Bar.
Vater: Meiner Frau ließ das keine Ruhe, und sie fuhr immer wieder zu diesem Club und legte sich auf die Lauer. Auch Katharinas Schwester war oft dabei. Irgendwann musste Katharina doch rauskommen.
Mutter: Dort habe ich dann eine Frau aus Osteuropa getroffen. Sie parkte vor meinem Auto, und ich habe sie einfach angesprochen. Sie versprach, sich zu erkundigen, und ein paar Tage später hatte sie wirklich Kontakt zu einem Taxifahrer, der Katharina kannte. Bei einem Kaffee erzählte sie mir, dass er gesagt habe, Katharina ginge es gut, und sie würde sich selbst bei uns melden, in ein, zwei Jahren. Wir sollten sie in Ruhe lassen. Sie käme auf uns zu. Das war nicht das, was wir uns erhofft hatten. Aber wenigstens gab es jetzt jemanden, der mit ihr gesprochen hatte.
Vater: Wir wollten es nur einmal selbst von ihr hören, dass sie nichts mehr mit uns zu tun haben wollte und dass sie das alles freiwillig macht. Darum kamen unsere Söhne auf die Idee, abends mal zum Club zu fahren.
Mutter: Mein ältester Sohn sagte danach: Mama, vergiss es, der Katharina steht so ein Hass auf uns in den Augen. Ich habe das nicht akzeptieren können. Diese Arbeit macht doch niemand gerne. Damals habe ich immer noch gedacht, sie hätte so viel Freiheit, dass sie mal rausgehen kann. Ich hatte ja eine Adresse und habe ihr oft mitgeteilt, ich hätte in Bayreuth zu tun und wäre dann und dann für zwei Stunden im Einkaufszentrum. Stunden habe ich dagesessen und hinter jeder Frau hergeschaut, die Ähnlichkeit mit Katharina hatte.
Und ich habe angefangen, ihr Briefe zu schreiben. Ich bin eigentlich keine große Briefeschreiberin, aber ich musste auf irgendeine Weise mit ihr in Kontakt bleiben. Fotos habe ich dazugelegt, von ihren Geschwistern und Familienfesten aller Art. Kontakt hielt sie damals nur locker zu ihrem Großvater, dem Vater meines Mannes. Ein pensionierter Pfarrer. Wenigstens einen aus unserer Familie konnte ihr dieser Verbrecher nicht aus dem Gedächtnis löschen.
Kleine Schwester stellt Fluchtwagen vor die Tür
Vater: Ihre Schwester hat ihr ihren alten Renault als Fluchtauto vor die Türe gestellt.
Mutter: Und ich habe ihre alte Katze im Korb im Club abgeben lassen. In der Hoffnung, dass sie sich von dem sterbenskranken Tier verabschieden kann. Und dass es aufrüttelt und sie nach Hause kommt. Sie hat doch so an dem Tier gehangen. Alles vergebens. Bekannte, die als Gäste in die Bar gingen, haben Briefe und Päckchen für sie abgegeben, nichts hat geholfen. Ihr Zuhälter hat das meiste, auch die arme Katze, nachts bei uns auf die Auffahrt geworfen.
Vater: Dann habe ich diesem Herrn geschrieben, dass ich mit Katharina sprechen möchte. Sie hätte nichts zu befürchten. Ich wollte von ihr selbst hören, dass sie das, was sie macht, freiwillig tut. Daraufhin kam ein Brief, den ein Anwalt im Namen unserer Tochter schrieb: Katharina hätte unsere Versuche, mit ihr Kontakt aufzunehmen, als Psychoterror empfunden. Sie hätte Angst, dass wir sie mit Gewalt entführen wollten. Sie sei volljährig, und wir müssten ihren Wunsch respektieren.
Ich teilte daraufhin dem Kollegen meinen Eindruck mit, dass unsere Tochter den Brief nicht aus freien Stücken geschrieben hätte. Er möge mir doch bitte sagen, ob Katharina allein bei ihm war und ob er glaubte, dass sie sich der Tragweite des Inhalts bewusst war? Eine Antwort habe ich nie bekommen. Irgendwann habe ich aufgegeben. Ich hatte die Kanzlei, ich musste die Familie am Laufen halten. Meine Frau hat immer weitergekämpft, so lange, bis sie selbst schwer krank wurde.
Und dann kam sie wieder
Mutter: Mein Mann ist der Nüchterne von uns. Einer musste ja auch einen kühlen Kopf behalten. Er sagte damals: Katharina muss erst im Dreck liegen, bis sie merkt, was los ist. Ich habe mir weiter den Kopf zerbrochen. Eines Tages war eine Anzeige bei uns in der Zeitung, von diesem Club: Von 14 Uhr bis fünf Uhr morgens würden die Frauen dort ihre Gäste verwöhnen, darunter auch der Name Sonja. Das war ihr Name im Milieu. So etwas tut einem als Mutter schon sehr, sehr weh.
Vater: Und dann kam sie von allein. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet. Nach acht Jahren, zwei Monaten und vier Tagen.
Mutter: Es war am Geburtstag meiner jüngeren Tochter. Abends klingelte das Telefon, und eine Frauenstimme fragte nach meinem Mann. Der war beim Training. Konnte das Katharina gewesen sein, dachte ich? Sie würde sich in einer Stunde noch mal melden. Das musste Katharina gewesen sein! Ich habe gleich angefangen zu kochen, Spaghetti und Ragout. Ihre Schwester hat sich sofort ins Auto gesetzt und kam nach Hause. Als mein Mann kam, haben wir besprochen, dass er an die Türe geht, weil ich für sie ja immer das rote Tuch gewesen bin.
Und dann war sie plötzlich da, eine Kollegin hat sie gefahren. Sie kam mir riesengroß vor, mit weißblonden Haaren. Sie hat gezittert am ganzen Körper. Die Frau, die da vor mir stand, hatte nichts mehr zu tun mit meiner Tochter. Ein talentiertes Mädchen war weggegangen, und eine gebrochene Frau war zurückgekommen. Als hätte man sie zum Sterben nach Hause gebracht.
Der Zustand von Katharina war sehr schlecht
Vater: Wir waren alle entsetzt über ihren Zustand. Sie wollte nichts essen, nur immer wieder ein Bier. Die Kollegin ist dann gefahren, wir mussten ihr noch versprechen, Katharina nicht in eine Klinik zu bringen. Sie wollte nicht zum Arzt. Wir haben stundenlang geredet und immer überlegt, was wir nur mit ihr machen. Sie brauchte medizinische Hilfe, dringend.
Mutter: Am Vormittag habe ich sie gefragt, ob sie frühstücken will. Nein, sie wollte nur noch ein Bier. Wir haben ihr altes Kinderzimmer fertig gemacht. Sie erzählte uns von den Halluzinationen, die sie hat, wenn sie zu wenig trinkt. Wir haben wirklich Angst bekommen. Deshalb baten wir eine Ärztin, die Katharina von früher kannte, vorbeizukommen. Die sagte uns ganz klar: Katharina stirbt, wenn sie nicht ins Krankenhaus kommt.
Nach dem jahrelangen Alkoholmissbrauch war ihre Leber stark geschwollen und der ganze Körper in einer besorgniserregenden Verfassung. Ihre Schwester hatte ein paar Freundinnen von Katharina angerufen, und wir alle haben mit ihr geredet und versucht, sie zu überzeugen. Irgendwann hat sie zugestimmt. Gegen Abend, die Ärztin hatte ihr einen Platz in der Klinik besorgt, sind wir alle zusammen in die Klinik gefahren.
Vater: Dort wurde dann der Alkoholwert gemessen: 3,7 Promille! Ganz ehrlich, wir waren erleichtert, dass Fachleute sie übernommen haben.
Katharina wollte nur raus
Mutter: Ich bin jeden Tag in die Klinik gefahren. Sie war in der geschlossenen Abteilung. Anfangs hat sie mich nicht immer erkannt. Mal kam mein Mann mit, mal eines der Geschwister. Aber auch der Zuhälter muss sie dort besucht haben. Ich war damals selbst in psychologischer Betreuung. Und meine Therapeutin hatte mich gewarnt: Sie müssen sich auf Rückschläge einstellen! Die kamen dann auch. Den Mann konnte sie noch lange nicht aufgeben. Ein Glück, dass ich damals nicht wusste, dass es noch einmal fast drei Jahre dauern sollte, bis dieser Verbrecher in Haft und meine Tochter endlich frei war.
Vater: Nach einigen Tagen in der Klinik wurde sie entlassen und sollte sich ambulant weiter behandeln lassen. Das hat sie aber nie gemacht. Sie wollte nur raus.
Mutter: Ein paar Wochen später saßen wir beim Kaffee in unserer Küche und waren froh, dass Katharina alles so gut überstanden hatte und wieder bei uns zu Hause war. Dann aber sagte sie unvermittelt: Ich habe jetzt zwei Familien, euch und den Club. Und ich gehe wieder zurück in den Club. Ich muss mich auch um die Frauen dort kümmern.
In mir ist damals etwas zerrissen, ich habe mir den Hund geschnappt und musste an die frische Luft. Wie konnte sie nur zu diesem brutalen Mann und in ihr elendes Leben zurückwollen? Erst später ist mir klar geworden, dass in dem Moment, in dem sie wieder bei uns angedockt hat, der Täter auf der Verliererstraße war. Er hat es nicht mehr geschafft, ihr Vertrauen in uns zu zerstören. Aber es war noch ein langer Weg.
Das Misstrauen war groß
Vater: Er hat auf der Straße außer Sichtweite auf sie gewartet, war zu feige, reinzukommen. In den Monaten danach war es ein Hin und Her. Mal kam sie, mal besuchte sie ihre Schwester. Der Kontakt ist aber nie mehr abgerissen.
Mutter: Einmal, als sie bei uns war, hat sie einen Brief da gelassen, der zeigte, wie misstrauisch sie noch war: "Liebe Eltern, ich bin jetzt doch schon nach Hause gefahren, weil ich kein Fan von Abschieden bin. Ich traue dem Frieden noch nicht. Ich bin gewarnt worden, irgendwas Linkes läuft gegen mich. Wenn es so ist, werde ich den Kontakt sofort wieder abbrechen." Dieser Mann hat sie jahrelang gegen uns, besonders gegen mich, aufgehetzt. So was bekommt man nicht so schnell wieder raus aus einem Menschen.
Vater: Sie konnte ihn nicht verlassen. So schlecht es ihr auch ging. Darum waren wir erleichtert, als sie im April 2011 endlich Anzeige erstattete, nachdem er sie brutal zusammengeschlagen hatte. Unsere jüngere Tochter, die Polizistin geworden war, um Katharina einmal zu helfen, hat sie im Krankenhaus in Empfang genommen.
Mutter: Ich war erleichtert, als sie ihn in Untersuchungshaft gesteckt haben. Katharina ging es ganz furchtbar schlecht. Sie hat regelrecht um ihn getrauert. Anfangs hat sie bei ihrer Schwester gewohnt und musste sich erst einmal an einen normalen Tagesablauf gewöhnen.
Die Strafe für den Reitlehrer: Neun Jahre Gefängnis
Vater: Von Oktober bis Ende Dezember 2011 lief der Prozess, wir waren nur zur Eröffnung und zur Urteilsverkündung dabei, Katharina wollte es so.
Mutter: Als er mit Handschellen hereingeführt wurde, hat er noch versucht, das mit einem Aktenordner zu kaschieren. Ich dachte damals: Mit diesen schrecklichen Händen kann er nicht mehr gewalttätig werden.
Vater: An der Urteilsverkündung durfte Katharina nicht teilnehmen, es ging ihr zu schlecht. Neun Jahre hat er bekommen, wegen Menschenhandels, Zuhälterei, Vergewaltigung, Körperverletzung und Betrug. Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. Uns allen ist ein Stein vom Herzen gefallen.
Mutter: Aber wenn er Sicherungsverwahrung bekommen hätte, wäre Katharina für immer vor ihm sicher gewesen. Dann müssten wir uns jetzt nicht fürchten, wenn er in ein paar Monaten entlassen wird.
Heute führt Katharina ein normales Leben – mit ihrer Familie
Vater: Katharina ist heute 37; sie hat noch Jahre gebraucht, bis sie ein normales Leben führen konnte. Sie war alkoholkrank und schwer traumatisiert, musste dringend in stationäre Therapie.
- Als Kind missbraucht: "Es waren viele Männer"
- Kirchenasyl: Wie Pfarrer sich gegen den Druck der Politik wehren
- Warnsignale: Wie Sie Kindesmissbrauch erkennen
Mutter: Wir haben erst mal nur Absagen bekommen. Auch da hat uns der Chefarzt vom Bayreuther Klinikum geholfen. Heute, neun Jahre nach ihrer Befreiung, ist Katharina eine starke junge Frau geworden. Sie hat ihre Ausbildung geschafft und arbeitet bei einem Steuerberater. Das Unglaubliche ist: Wir sind wieder eine Familie geworden. Auch wenn Narben bei uns allen geblieben sind.
Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen bei – unter anderem "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: www.chrismon.de
Weiterführende Links auf chrismon.de
Mit zwölf war sie Prostituierte, ihr erster Zuhälter war die eigene Mutter. Jetzt hat sie ein neues Leben angefangen.
Gehört Prostitution verboten? Ja, sagt die ehemalige Prostituierte. Nein, die Vorstandsfrau von der Diakonie. Ein Gespräch über Prostitution und den Weg raus.
Am schlimmsten ist schweigen: Bertha Pappenheim, Sozialpolitikerin und Frauenrechtlerin, kämpfte gegen die Zwangsprostitution. Den Text finden Sie hier.
*Barbara Schmid, langjährige „Spiegel“-Redakteurin, begleitet Katharina und ihre Eltern seit sechs Jahren und wurde Zeugin der Familienzusammenführung. Jetzt hat sie zusammen mit Katharina M. ihre Geschichte aufgeschrieben: „Schneewittchen und der böse König“ (mvg, 16,99)