Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Der Tag danach
Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser, an diesem 17. Februar, dessen herausragende Eigenschaft die folgende ist: Es ist der Tag nach dem 16. Februar. Bevor Sie mir jetzt ein sarkastisches "ach was, wirklich!" entgegenschleudern: Das Datum hat Gewicht. Die russische Attacke auf die Ukraine hätte gestern losbrechen sollen, mit Luftangriffen, Artilleriebeschuss und Cyberkrieg, und dann rollen die Panzer. So hatten es uns die Terminkalenderexperten der CIA vorab freundlicherweise mitgeteilt.
Heute nun können wir das dramatische Geschehen im Rückspiegel betrachten: Die Website des ukrainischen Verteidigungsministeriums war gestern vorübergehend nicht erreichbar. Ein paar Banken hatten auch Probleme mit dem Internet. Und in Kiew kam die Sonne nicht so richtig raus. Soweit die atemberaubenden Ereignisse. Russland wird währenddessen nicht müde, den Abzug, jawohl Abzug, der ersten Einheiten aus der Grenzregion zu verkünden.
Embed
Der Krieg ist bisher zum Glück ausgeblieben, siegreich wollen aber schon viele sein. Zum Beispiel die Russen, die den US-Geheimdienst und dessen schrille Vorhersagen mit Häme überschütten ("Kriege in Europa starten selten an einem Mittwoch", spottete ein russischer Botschafter). Aber auch die Amerikaner haben ordentlich was zu feiern. Noch trauen sie zwar dem Frieden nicht, können sich aber schon mal vorgreifend auf die Schulter klopfen – weil sie die Angriffspläne der Russen schonungslos offengelegt und so den Aggressor abgeschreckt haben. Zwei Seiten, zwei gegensätzliche Interpretationen: Das ist typisch für den Konflikt. Eindeutige Wahrheiten gibt es derzeit nicht.
Dass man sich auf die Lage keinen eindeutigen Reim machen kann, ist für Krisenmanager kein Fehler, sondern ein Feature. Der Westen wedelt mit Androhungen drakonischer Strafen herum – mal ist vom Stopp für die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 die Rede, mal heißt es, man könne die Russen vom weltweiten Zahlungssystem Swift ausschließen, vielleicht kommt beides oder doch etwas anderes. "Strategische Mehrdeutigkeit" nennt man das Bemühen, den Gegner im Unklaren zu lassen: Wladimir Putin soll nicht wissen, womit genau er zu rechnen hat, wenn er die Ukraine attackiert, damit er Kosten und Nutzen nicht kalkulieren kann. Schlimm wird es werden, lautet die Botschaft, aber konkret werden westliche Politiker nicht. Manche von uns kennen das Prinzip aus den eigenen vier Wänden, zum Beispiel wenn der Nachwuchs mal wieder keinen Bock aufs Aufräumen des Zimmers hat. Dann kann man präzise ein Handyverbot für den Rest des Tages androhen – und muss später vielleicht zähneknirschend entdecken, dass die Kids es sich zwar ohne Handy, dafür aber mit dem Lieblingshörspiel im Chaos bequem gemacht haben. Besser also, man verkündet mit säuerlicher Stimme, dass es "echt Ärger gibt", wenn der Saustall nicht bald aufgeräumt ist. Schön unkonkret. Schwer kalkulierbar. Das hat schon manches Zimmer neu erstrahlen lassen.
Meisterlich hantiert mit der Mehrdeutigkeit vor allem der Kreml. Dort hat man es seit Beginn der Krise verstanden, den gewaltigen Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine als gewöhnliche Truppenbewegungen kleinzureden, mit bissigen Kommentaren über die westliche "Kriegshysterie" zu versehen, zugleich die brandgefährliche Situation zu beschwören und von "militärisch-technischen" Gegenmaßnahmen zu raunen. Niemand weiß, was Putin vorhat. Es besteht keine Einigkeit darüber, was ihn antreibt und was er überhaupt erreichen will. Die Expansion der Nato auf Russlands Kosten sitzt ihm wie ein Stachel im Fleisch, aber ist das alles? Oder geht es ihm auch darum, die Ukraine wieder unter russische Kontrolle zu bekommen? Wie viel Aufgepluster für das heimische Publikum ist mit im Programm? Welches dieser Ziele hat wie viel Gewicht? Alles unklar. Scholz, Biden und Macron ringen um eine gemeinsame Linie, was nicht einfach ist, wenn der Gegner einem unentwegt Sand in die Augen streut.
Während der brillante Taktiker im Kreml über den roten Teppich schreitet, um seinen Lorbeerkranz entgegenzunehmen, muss er allerdings aufpassen, dass er nicht über seine eigenen Füße stolpert. Bei so viel strategischer Mehrdeutigkeit kann einem nämlich schnell schwindelig werden. Als Moskau zum Beispiel ankündigte, Mitarbeiter der russischen Botschaft in Kiew heimzuholen, blieb manchen Beobachtern die Luft weg: Das konnte ein entscheidender Hinweis auf den bevorstehenden Angriff sein! Andere spekulierten, der Rückzug sei nur ein Bluff. Nicht ohne Reiz ist aber auch die Theorie, dass die Diplomaten vorsichtshalber abgezogen wurden, weil selbst das russische Außenministerium nicht mehr im Bilde ist, was die Sphinx im Kreml als Nächstes im Schilde führt.
Denn das ist der Haken am superstrategischen Spiegelfechten: Ob etwas ein genialer Schachzug ist oder aber eine Panne, was Brillanz ist und was Inkompetenz – es lässt sich kaum noch unterscheiden. Haben die Meisterspione der CIA recht gehabt und die Katastrophe abgewendet, oder hat ihre Vorhersage peinlich danebengelegen? Soll uns die vielstimmige russische Diplomatie vorsätzlich verwirren, oder mangelt es ihr an Koordination? Vielleicht spielt Putin, der den Konflikt eben noch eskalieren ließ, nun aber den Friedensengel gibt, ein atemberaubendes strategisches Spiel. Oder er eiert rum wie ein mittelmäßiger Hinterhof-Taktierer.
Eines aber können wir sicher sagen: Putin hat hoch gepokert mit seiner Verunsicherungstaktik. Sein Säbelrasseln treibt die Menschen in der Ukraine an, sich nun erst recht dem Westen zuzuwenden. Die Nato ist geeinter denn je. Und vor lauter Spiegelfechterei läuft Russlands starke Verhandlungsposition Gefahr, in sich zusammenzufallen. Man kennt das Phänomen aus dem Kinderzimmer. Die Kids sind nicht blöd. Die registrieren die Schwäche der strategischen Mehrdeutigkeit. Und fragen sich irgendwann, ob der angekündigte "Riesenärger" vielleicht doch nur Getöse ist. Dann ist sie futsch, die Autorität.
Schneller lockern
Die Corona-Regeln sollen schrittweise enden (hier ist der Überblick über die gestrigen Beschlüsse). Dabei ist die Lage in den Krankenhäusern offenbar besser, als es die offiziellen Daten des Robert Koch-Instituts nahelegen. Eine Umfrage der "Zeit" unter leitenden Ärzten in mehr als 20 Kliniken zeigt: Mindestens die Hälfte der stationär aufgenommenen Corona-Patienten wird nicht wegen einer Covid-Erkrankung behandelt, sondern aus einem anderen Grund – trotzdem landen viele als Covid-Fälle in der RKI-Statistik. "Wir haben geboosterte Patienten, die eine Handgelenksfraktur haben, weil sie beim Radfahren gestürzt sind – und jetzt als Corona-Fälle gelten", berichtet ein Infektiologe. Weil alle Patienten getestet werden, ergeben sich eben zufällig viele positive Befunde. Sogar Intensivmediziner fordern nun ein schnelles Ende sämtlicher Corona-Regeln. Das will etwas heißen.
Stürmischer Tag
Gleich zwei Orkane fegen über Nord- und Mitteldeutschland. In Nordrhein-Westfalen bleiben heute die Schulen geschlossen, die Deutsche Bahn rechnet vielerorts mit Verspätungen. Unsere Reporter sind in Berlin, Hamburg und Köln unterwegs. In unserem Newsblog finden Sie alle Informationen.
Bidens Frau in Berlin
Bundespräsident Steinmeier akkreditiert heute die neue US-Botschafterin Amy Gutmann. Die bisherige Hochschulpräsidentin gilt als brillanter Kopf und hervorragende Netzwerkerin. Genau die Qualitäten, die es braucht, um den seit zwei Jahren verwaisten Posten in Berlin wiederzubeleben.
Grüne Logik
Die Grünen wollen die Energiewende durch ein "Klimageld" voranbringen: Strom, Gas und Benzin sollen teurer werden, dafür die Bürger aber Geld vom Staat bekommen. Ob das organisatorisch und rechtlich funktioniert, ist umstritten. Deshalb haben Fachleute eine Machbarkeitsstudie erstellt, die sie heute in Berlin vorstellen. Praktischerweise gelten die Auftraggeber – die Klima-Allianz Deutschland und der Deutsche Naturschutzring – selbst als Grünen-nah. Das Ergebnis dürfte also in die Kategorie überraschungsfrei fallen.
Endlich Aufarbeitung
Diese Studie ist gewichtiger: Wissenschaftler haben die niederländischen Kriegsverbrechen in Indonesien untersucht. Im Unabhängigkeitskrieg der einstigen Kolonie sollen holländische Soldaten zwischen 1945 und 1949 mehr als 100.000 Zivilisten umgebracht haben. Jahrzehntelang behauptete die Regierung in Den Haag, dass es nur einzelne "Übergriffe" gegeben habe. Heute soll die Wahrheit ans Licht kommen.
Von Mannheim nach China
Mannheim eröffnet eine Güterzugverbindung in seine chinesische Partnerstadt Qingdao: Auf der 12.300 Kilometer langen Strecke rollen nun durchgehende Züge, quer durch Polen, Belarus, Russland und die Mongolei. Nach 20 Tagen sind chinesische Smartphones bei uns und deutsche Maschinenteile in China. So sieht sie aus, die Globalisierung. Und die wechselseitige Abhängigkeit.
Wichtiges Urteil
Der Unfall im September 2019 mitten in Berlin sorgte über die Stadt hinaus für Entsetzen: Ein SUV-Fahrer raste auf den Gehsteig; fuhr vier Passanten tot, darunter einen dreijährigen Jungen. Die Anklage wirft dem Fahrer fahrlässige Tötung vor: Er habe sich trotz einer Epilepsie und einer Gehirnoperation kurz zuvor ans Steuer gesetzt. Heute fällen die Richter ihr Urteil.
Was lesen?
Dieses Hilfsangebot sorgte für Häme: Als Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ankündigte, der Ukraine 5.000 Schutzhelme zu spendieren, sahen viele Beobachter darin ein Symbol für die halbherzige deutsche Unterstützung. In der Bundesregierung hoffte man, mit einer schnellen Geste punkten zu können. Jetzt hat unser Reporter Fabian Reinbold herausgefunden: Die versprochenen Helme sind noch gar nicht geliefert worden.
Manuela Schwesigs Mauscheleien rund um die Gaspipeline Nord Stream 2 werden immer dubioser. Nun schalten sich Korruptionsbekämpfer ein, berichtet unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe.
Seit Wochen blockieren Klimaaktivisten immer wieder Autobahnen: Sie setzen sich auf die Fahrbahn, kleben sich am Asphalt fest. Was soll das? Meine Kollegin Marianne Max hat es sich von einer Aktivistin erklären lassen.
Offiziell veranstaltet China die günstigsten Winterspiele seit Langem. Tatsächlich dürften die Kosten viel höher sein – nicht nur für China. Meine Kollegen Theresa Crysmann und Alexander Kohne haben nachgeforscht.
Was amüsiert mich?
Die sind clever, die Schweden!
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.