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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Entscheidung naht
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
seit fast zehn Wochen führt Olaf Scholz die deutsche Regierung, heute bricht er zu seiner bisher schwierigsten Reise auf. Ein Besuch im Kreml ist für jeden Kanzler eine Herausforderung, aber seit Wladimir Putin dort der Hausherr ist, müssen ausländische Gäste mit allem rechnen. Freundliches Umschmeicheln, brüskes Auflaufenlassen oder gar gemeines Lächerlichmachen: Der russische Präsident beherrscht die Klaviatur der taktischen Machtspielchen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gesten.
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Angela Merkel, die Hunde fürchtet, ließ er bei ihrem ersten Besuch (allerdings in Sotschi) von seinem Labrador beschnüffeln. Den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer bat er zum Gespräch, um ihn dann mit einem Telefonat im Kreml-Vorzimmer abzuspeisen. Den türkischen Präsidenten Erdogan ließ er minutenlang vor der Tür warten und die Szene im russischen Fernsehen vorführen. Vor wenigen Tagen sorgte das Foto von Emmanuel Macrons Besuch im Kreml für Schlagzeilen, bei dem Putin den französischen Präsidenten mit einem vier Meter langen Tisch auf Abstand hielt, Angst vor Corona angeblich.
Was auch immer die Gründe für die jeweilige Inszenierung sind: Auf symbolträchtige Gesten versteht sich der russische Präsident wie kein Zweiter. Daher darf man heute gespannt sein, was er sich für Olaf Scholz ausgedacht hat. Jedenfalls dürften die Berater des Kanzlers akribisch darauf achten, dass ihr Chef in der Höhle des Löwen nicht als Mäuschen abgelichtet wird.
Abgesehen von der Inszenierung geht es heute in Moskau um die heikelste Frage, die Politiker beschäftigen kann: Krieg oder Frieden? Putin hat rund 130.000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine geschickt, der Aufmarsch ist weitgehend abgeschlossen. Ab jetzt können die Kommandeure jederzeit losschlagen. Manche europäischen Diplomaten stellen die Frage, ob der Kremlchef den Angriff überhaupt noch abblasen kann, ohne vor seinen Generälen das Gesicht zu verlieren. Auf der anderen Seite der Front hat Kiew seine Armee und zahlreiche Freiwillige mobilisiert, deren Selbstvertrauen allerdings größer ist als ihre militärische Stärke. Kaum jemand bezweifelt, dass Putins Truppen die ukrainischen Linien im Handumdrehen überrennen würden. Riskanter wäre eine anschließende Besetzung, in der russische Soldaten zum Ziel von Guerillakämpfern werden könnten.
So oder so: Was bei diesem Szenario herauskäme, mag man sich lieber nicht ausmalen. Ein wochen- oder gar monatelanger Krieg mit unzähligen Opfern, Flüchtlingsströme Richtung Westen, eine neue Eiszeit zwischen Ost und West, wirtschaftlicher Einbruch: Diese Eskalation könnte Europa Wunden zufügen, die jahrelang nicht heilen. Die ohnehin fragile Ordnung seit dem Ende des Kalten Krieges wäre passé.
Ist es womöglich genau das, was Putin will? Über die Intentionen des Kremlchefs werden in diesen Tagen viele Artikel geschrieben. Mal wird er als isolierter Autokrat skizziert, der nur noch auf stramme Jasager in seinem Kriegskabinett hört. Mal gilt er als genialischer Taktiker, der den Westen mit einem Bluff zu Zugeständnissen zwingen will. Und mal erscheint er als Opfer seiner eigenen Großmannssucht, ein Nachfahre der Zaren, der Russland zu alter Größe zurückführen möchte. In jedem Bild mag ein Körnchen Wahrheit stecken, doch jedes für sich ist auch ein Zerrbild. Klarere Konturen erkennt, wer die Krise im Lichte der historischen Entwicklungen betrachtet.
Vor über 30 Jahren haben der Westen und die Nato den Kalten Krieg gewonnen. Entgegen anderslautenden Beteuerungen ("Ausgleich", "keine Erweiterung gen Osten") taten sie, was Sieger eben tun: Sie nahmen sich, was sie haben wollten – und die aus dem sowjetischen Griff befreiten osteuropäischen Staaten eilten ihnen euphorisch entgegen. So wurde Russland an seiner Westflanke nach und nach von der Nato eingehegt, und es war jahrelang zu schwach, dieser Herausforderung nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen. Das änderte sich erst, als die USA ihre Macht überspannten. Die von Bill Clinton entfesselten Investmentbanker lösten die globale Finanzkrise aus, die Amerika und weitere Länder fast ruiniert hätte. George W. Bush beantwortete die Anschläge vom 11. September 2001 mit dem brutalen Einmarsch im Irak und stürzte den Nahen Osten ins Chaos. Barack Obama bombte Gaddafis Regime in Libyen weg, ohne einen Plan für die Zeit danach zu haben. Dafür verhöhnte er Russland als "Regionalmacht", was die Wut in Moskau schürte. Donald Trump ließ Putin in Syrien einfach machen; vielleicht, weil er ihn bewunderte, vielleicht, weil ihn die Region nicht interessierte. Man kann die Geschichte amerikanischer Präsidenten auch als eine Geschichte gescheiterter Außenpolitik erzählen.
Trotzdem baute die Nato ihre Strukturen in den ehemaligen Sowjetstaaten in Osteuropa immer weiter aus. Stationierte Soldaten und schwere Waffen, plante einen Raketenabwehrschild, bandelte mit weiteren Ländern in unmittelbarer Nachbarschaft Russlands an, darunter die riesige Ukraine. Es war die archaische Logik des Stärkeren gegen den Schwächeren, des Oben gegen Unten, des Wir gegen Die. Daran ändert auch nichts, dass gleichzeitig Vermittlungsmissionen mit Moskau liefen, dass Russland zeitweise in die G8-Runde aufgenommen wurde und im OSZE-Kreis mitwirkte. Wenn es hart auf hart kam, setzte der Westen seine Interessen durch.
Das ging so lange so, bis Russland seine Schwäche überwunden hatte. Putin investierte Unsummen in die Modernisierung des Militärs, heute sind seine Truppen gut gerüstet, haben in Syrien Kampferfahrung gesammelt und verfügen mit der Hyperschallrakete "Avangard" über eine furchteinflößende neue Waffe. Die Kremlstrategen haben sich die Krim und den Donbas nicht nur aus geostrategischen Gründen geschnappt oder weil sie von innenpolitischen Problemen ablenken wollten – sondern auch, weil sie es einfach können. Die halb garen Sanktionen der EU und der USA dürften sie darin bestätigt haben, dass die Nato zwar stark ist, wenn sie ihre eigene Agenda verfolgt. Aber schwach, wenn sie außerhalb ihres Bündnisgebietes in Krisen verwickelt wird. Siehe Afghanistan, siehe Libyen und siehe eben auch die Ukraine.
Diese Schwäche nutzt Putin aus. Mit dem Aufmarsch an der ukrainischen Grenze hat er nicht nur einen gefährlichen Konflikt provoziert, sondern auch die Schwäche des Westens offengelegt. Biden, Baerbock, Johnson und Macron übertrumpfen sich nun mit scharfen Worten, können damit aber nicht verhehlen, dass die Nato die Sicherheit der Ukraine nicht verteidigen kann und in letzter Konsequenz auch nicht verteidigen will. Weder amerikanische noch westeuropäische Soldaten werden gegen Russen in die Schlacht ziehen, und das ist gut so.
Auch deshalb versuchen Washington, Berlin, Paris und London nun mit hektischer Reisediplomatie nachzuholen, was sie jahrelang versäumt haben: Erstens die russischen Motivationen zu verstehen. Zweitens auszuloten, wie eine gemeinsame Konfliktlösung mit Moskau aussehen könnte. Drittens und am schwierigsten: sich selbst die Frage zu beantworten, zu welchen Zugeständnissen man bereit ist, um Moskaus Sicherheitsinteressen zu wahren und den verletzten russischen Stolz zu heilen.
Wie also lässt sich der Krieg im letzten Moment noch verhindern und wie könnte eine Lösung für den Dauerkonflikt um die Ukraine aussehen? Der Schweizer Topdiplomat Thomas Greminger hat geholfen, die Eskalation nach der Krim-Annexion 2014 zu beruhigen. Im Interview mit der "Neuen Zürcher Zeitung" nennt er drei mögliche Auswege aus der gegenwärtigen Krise:
"Einer ist Neutralität für die Ukraine, aber realistischerweise ist das, unter russischem Druck erzwungen, keine Option. Theoretisch wäre es eine – mit entsprechenden Sicherheitsgarantien. Österreich ist ein Beispiel. Ein anderer sind verschiedene Formen von Moratorien, die man Kiew auferlegt. Ich bin allerdings skeptisch, dass das für die USA oder die Ukraine akzeptabel ist. Ein drittes Modell ist der 'Zwei-plus-Vier-Vertrag' von 1990 anlässlich der Wiedervereinigung Deutschlands. Das Land war Nato-Mitglied, garantierte aber, dass in der ehemaligen DDR keine Infrastruktur und keine fremden Truppen des Bündnisses stationiert würden. Das gilt bis heute. Übertragen auf die Ukraine und verbunden mit regionalen Rüstungskontrollmaßnahmen könnte das den russischen Sicherheitsbedenken Rechnung tragen. Diese haben eine gewisse Legitimität und sollten ernstgenommen werden."
Im Klartext: Die Nato und die EU müssten Moskau erstens vertraglich zusichern, dass die Ukraine in den kommenden zehn Jahren weder Mitglied des einen noch des anderen Bündnisses wird. Ohnehin könnten sie den Beitritt eines so großen, instabilen Landes derzeit weder organisatorisch bewältigen noch die nötige Rückendeckung in den Bevölkerungen der westlichen Länder finden. Nach Ablauf der Dekade könnte ein Forum vereinbart werden, in dem die Nato-Länder gemeinsam mit Moskau und Kiew und mit offenem Ergebnis über eine Mitgliedschaft der Ukraine verhandeln – möglicherweise unter der Bedingung, dass im Friedens-, also Normalfall dort weder Soldaten noch Waffen anderer Nato-Staaten stationiert werden. Russland müsste überdies in die europäische Sicherheitsarchitektur eingebunden werden.
Könnte das der Ausweg sein? Womöglich wird im Hintergrund bereits um Details gefeilscht. Wer Optimist ist, mag daran glauben, dass nach Abschluss des russisch-belarussischen Großmanövers am kommenden Sonntag der erste Schritt zu einer Verhandlungslösung erfolgen könnte. Pessimisten hingegen erwarten nun quasi stündlich den russischen Angriff. Aber wie sagte mir mal ein hochrangiger ukrainischer Regierungsfunktionär? Nur Pessimisten sterben.
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Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
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Mit Material von dpa.
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