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Beispiellose Heuchelei: Wie Europa den Planeten ausbeutet


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Tagesanbruch
Beispiellose Heuchelei

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.04.2021Lesedauer: 6 Min.
Mähmaschinen auf einem Sojafeld in Mato Grosso, BrasilienVergrößern des Bildes
Mähmaschinen auf einem Sojafeld in Mato Grosso, Brasilien (Quelle: imago images)
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Zeit für eine Zäsur

Es ist bitter, sich einen Selbstbetrug einzugestehen. Doch wenn der Schein größer ist als das Sein, ist es höchste Zeit. Die ganze Welt redet seit Jahren über den Klima- und Umweltschutz, und wir Europäer, vor allem wir Deutschen reden besonders laut darüber. Gerne zeigen wir auch mit dem Finger auf die Chinesen/Inder/Amerikaner, die so viel größere Sünder sind als wir. Schließlich trennen wir artig unseren Müll, haben sogar das CO2-Steuerchen hingenommen, und hat EU-Chefin von der Leyen nicht gerade erst einen "Green Deal" angekündigt? Klingt doch toll, ist doch fortschrittlich.

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Zwar wird auch uns gelegentlich mulmig zumute, wenn wir am Wochenende durch den Wald spazieren und in die lichten Kronen der Bäume hinaufschauen, aber anderswo auf der Welt sieht es ja noch viel übler aus. Rund 178 Millionen Hektar Waldfläche sind seit 1990 auf dem Erdball verloren gegangen, fast die fünffache Fläche Deutschlands. Besonders schlimm steht es um das Amazonasgebiet, seit der Rechtsextremist Jair Bolsonaro Brasiliens Geschicke lenkt: Der Mann pfeift auf den Umweltschutz und gestattete Agrarfirmen, im vergangenen Jahr rund 11.000 Quadratkilometer tropischen Regenwald abzuholzen, mehr als die vierfache Fläche des Saarlands. In einem Jahr, wohlgemerkt. Während Sie diesen Text lesen, fressen sich Flammen durch die grüne Lunge unseres Planeten, legen Großkonzerne auf den gerodeten Flächen riesige Plantagen an.

So ist Brasilien binnen weniger Jahre zum weltgrößten Sojaproduzenten aufgestiegen – und die EU-Staaten zählen zu seinen wichtigsten Abnehmern. Zig Millionen Tonnen Sojabohnen landen in Rotterdam, Hamburg und anderen Häfen, Güterzüge und Lastwagen verteilen sie auf dem Kontinent, wo sie als Tierfutter in Mastbetrieben enden. Die Milch vieler Kühe wiederum wird dann als Pulver nach China verkauft, es ist ein ebenso lukratives wie umweltschädliches Geschäft.

Doch das Problem sind nicht nur die Sojabohnen. Es ist auch das Rindfleisch, es sind Palmöl, Kakao, Kaffee und Holz, die EU-Länder massenhaft aus Brasilien beziehen – mit drastischen Folgen, wie die Umweltschutzorganisation WWF herausgefunden hat: Importe in die EU treiben demnach die Abholzung von Tropenwäldern massiv voran. Hinter China, aber vor Indien, den USA und Japan belegt die Europäische Union damit Platz zwei auf der "Weltrangliste der Waldzerstörer" – und innerhalb der EU liegt Deutschland ganz vorn. Für EU-Einfuhren wurden im Berichtszeitraum bis 2017 pro Jahr Tropenwälder von der vierfachen Größe des Bodensees vernichtet.

Hätten wir hierzulande nicht wieder von morgens bis abends über Corona und die CDU geredet, hätte der Bericht gestern wohl höhere Wellen geschlagen. So war es eher ein Wellchen. Dabei hat er die Wirkung eines Tsunamis verdient. Liest man die Details, kommt man aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Laut WWF haben die EU-Staaten durch die "importierte Entwaldung" gigantische Mengen an CO2-Treibhausgas verursacht, das allerdings in keiner offiziellen Statistik auftaucht. Auch zum Artensterben trägt Europa so bei. Das Freihandelsabkommen der EU mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer: Herr Bolsonaro beweist große Kunst darin, die wohlfeilen Klimaschutzversprechen des Vertrags zu unterlaufen.

Das ist er, der Selbstbetrug: Wir Europäer halten uns gern für vorbildlich, für verantwortungs- und rücksichtsvoll. Doch in Wahrheit beuten wir mit unserem Konsum und unserer Ignoranz den Planeten rücksichtsloser aus als die meisten anderen Weltregionen. Es wird Zeit, dass wir unsere Heuchelei erkennen. Und beginnen, etwas zu verändern.


Trauer ist leise

Die Debatte über Corona hat eine seltsame Wandlung durchlaufen: Seit einem Jahr reden wir tagtäglich über die Pandemie, aber von Monat zu Monat aus unterschiedlichen Blickwinkeln. In diesen Tagen drehen sich die Diskussionen vor allem um überfüllte Kliniken, tückische Impfstoffe und das zähe Ringen um die Bundesnotbremse. Die Regierung hat die neuen Regeln gestern auf den Weg gebracht, meine Kollegin Sandra Simonsen erklärt Ihnen hier, was nun wo gelten soll.

Es sind zweifellos viele wichtige Aspekte, um die wir da kreisen, aber müssten wir nicht viel öfter über jene reden, die gar nicht mehr mitreden können? Fast 80.000 Bundesbürger haben die Seuche mit ihrem Leben bezahlt, sie sind an oder mit Covid-19 gestorben. Eine ebenso monströse wie abstrakte Zahl. Was jeder einzelne Todesfall bedeutet, kann wohl nur nachempfinden, wer selbst einmal einen geliebten Menschen verloren hat, womöglich viel zu früh, womöglich in einer beängstigenden Lage: Eben hat man noch miteinander gesprochen, gemeinsam gelacht, vielleicht Pläne gemacht – und wenige Tage später kommt der Notarztwagen, Blaulicht, Lungenmaschine, Isolation. Viele Angehörige von Corona-Erkrankten konnten sich von ihren Lieben nicht einmal mehr verabschieden. Sie sahen sie erst wieder, als das Beatmungsgerät ausgeschaltet und das Bettlaken umgeschlagen war. Und dann lagen sie dort, in einem tristen Krankenhauszimmer, wächserne Haut, kalt, tot.

Die Aufregung der Lebenden ist laut, die Trauer der Überlebenden ist leise. Aber sie schmerzt, sie schmerzt so sehr. Deshalb mag Anteil nehmen, wer ein warmes Herz im Leibe trägt: ein bisschen Mitgefühl, ein offenes Ohr, ein liebes Wort, vielleicht eine Kerze. Zu zweit, im kleinen Kreis, aber auch als ganzes Land von 83 Millionen Menschen, die in dieser schwierigen Zeit zusammenhalten sollten. So wie am kommenden Sonntag: Da ruft Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Gedenken an die Opfer der Pandemie auf – an alle, ob sie nun an dem Virus, an einer anderen Krankheit oder an gebrochenem Herzen gestorben sind. Millionen Bürger können dann ihr Mitgefühl mit den Trauernden und Leidgeplagten ausdrücken. Das ZDF und der Deutschlandfunk übertragen die Gedenkveranstaltung ab 13 Uhr live aus Berlin.

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Urteil zum Deckel

Ist der Berliner Mietendeckel verfassungswidrig? Dieser Meinung sind die Bundestagsfraktionen von Union und FDP. Sie haben gegen das Prestigeprojekt des rot-rot-grünen Senats der Hauptstadt eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Mit dem 2020 in Kraft getretenen Gesetz, das den starken Anstieg der Mieten bremsen soll, habe das Land Berlin seine Kompetenzen überschritten, Mietrecht sei Sache des Bundesgesetzgebers. Heute wollen die Richter ihre Entscheidung veröffentlichen, Hunderttausende Mieter warten gespannt darauf: Sollten die Juristen das komplette Gesetz für verfassungswidrig halten und dem Land die Zuständigkeit entziehen, müssten sie die eingesparten Mieten wohl an ihre Vermieter zurückzahlen: Der Berliner Koalition stünden stürmische Wochen bevor.


Noch ein Richterspruch

Mit hohen Erwartungen begannen vor bald drei Jahren die Ermittlungen in der "Bamf-Affäre": Die ehemalige Leiterin der Bremer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurde beschuldigt, zahlreichen Zugewanderten zu Unrecht Asyl gewährt zu haben. Von mehr als 1.000 Fällen angeblichen Asylmissbrauchs war die Rede, die Boulevardpresse überschlug sich, die AfD keifte vom Untergang des Abendlands.

Viel ist von den Vorwürfen nicht übrig geblieben. Bereits vor fünf Monaten hat das Bremer Landgericht die Anklage zurechtgestutzt. Wenn heute in der Hansestadt der Prozess beginnt, muss sich die ehemalige Amtsleiterin wegen folgender Unregelmäßigkeiten verantworten: Von 2014 bis 2018 soll sie in zwei Fällen Vorteile angenommen haben, weil sie sich von einem mitangeklagten Rechtsanwalt Hotelübernachtungen bezahlen ließ. Außerdem soll sie in sechs Fällen Daten in Asylakten gefälscht und in sechs weiteren Fällen interne Dokumente an den Mitangeklagten weitergeleitet haben. Na dann.


Wiederauferstehung in Paris

Heute vor zwei Jahren hielt Europa den Atem an: Die Kathedrale Notre-Dame, das Wahrzeichen von Paris, brannte lichterloh. Stundenlang währte der Kampf gegen das auf dem Dachboden ausgebrochene Feuer, zwischenzeitlich drohte die komplette Zerstörung. Schließlich die erlösende Nachricht: Haupttürme gerettet, Erhalt der Struktur möglich. Heute besucht der französische Präsident Emmanuel Macron zusammen mit Bürgermeisterin Anne Hidalgo die Baustelle, um den Rettern von damals zu danken – und all jenen, die nun am Wiederaufbau arbeiten. Ob der Staatschef sein Versprechen halten kann, die Kirche bis 2024 wiederaufzubauen?


Was lesen?

Wer geimpft ist, soll erleichterte Corona-Regeln genießen: Zwei Bundesländer preschen vor, doch es hapert an der Umsetzung. Wieder mal droht ein deutscher Flickenteppich, berichtet meine Kollegin Annika Leister.


China betreibt gnadenlose Machtpolitik mit einem Corona-Impfstoff: Er ist nur wenig wirksam, doch viele Länder setzten aus Verzweiflung darauf. Ein fataler Fehler, meint mein Kollege Patrick Diekmann.


In der App Telegram gärt der Protest gegen Corona-Regeln und "das System". Unser Rechercheur Lars Wienand hat gemeinsam mit Kollegen des ARD-Magazins "Kontraste" eine Schlüsselfigur aufgespürt: den Mann, der alle Umsturzideen vernetzt.


Der Machtkampf zwischen Armin Laschet und Markus Söder lähmt CDU und CSU. Das hat gravierende Folgen für den Kampf gegen Corona, analysiert unser Reporter Tim Kummert.


Digitalkonzerne, aber auch Staaten wie China setzen künstliche Intelligenz ein, um Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren. Die EU schiebt den Machenschaften jetzt einen Riegel vor, berichtet die "FAZ".


Auf den glorreichen Titelreigen 2020 folgt die Ernüchterung in diesem Jahr: Mein Kollege Benjamin Zurmühl erklärt Ihnen, was sich beim FC Bayern München nun dringend ändern muss.


Was amüsiert mich?

Was ist denn das für eine Knallerei?

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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