Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Bananenrepublik Deutschland
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
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Wir drehen uns im Kreis
In einem engen Gehege lebt es sich nicht gut. Man tigert im Kreis, wird gallig und gereizt, die Welt draußen ist weit weg. So fühlt sich das Leben derzeit an: wie in einem Gehege. Wir drehen uns von morgens bis abends im Kreis, ärgern uns über unlogische Vorschriften und kriegen kaum noch mit, was im Rest der Welt geschieht. Wir starren auf Politiker wie Schafe auf die Hütehunde, die ihre Herde heute zusammentreiben und morgen wieder auseinanderlaufen lassen. So trotten wir im Lockdown-Lockerungs-Lockdown-Teufelskreis umher und verstehen schon lange nicht mehr, was das alles soll; so wächst die Ratlosigkeit zum Groll und der Frust bei vielen zur Wut. Nun sollen wir also über Ostern brav im Heimgehege bleiben und darauf hoffen, dass wir so dem bösen Viruswolf entkommen, zum Trost gibt’s ein paar Schnapseier vor der Flimmerscheibe. Na, wohl bekomm’s.
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Während die Republik darüber rätselt, was die Kanzlerin wohl meinte, als sie den Gründonnerstag zum "Ruhetag" adelte (Feiertag oder Homeoffice?), während wir uns fragen, ob der Kanzleramtsminister wirklich glaubt, dass ein fünftägiger Jetzt-aber-echt-mal-Lockdown genügt, um die Corona-Zahlen zu senken, während Wohnwagen- und Ferienhausbesitzer überlegen, warum sie nicht dürfen, was die Malle-Urlauber dürfen, während Unternehmer die Vorschriften ihrer Landesregierung zu verstehen versuchen, während wir also alle weiter im Nebel umhertappen, drängt sich ein Verdacht auf: Das alles trägt nicht gerade zur Glaubwürdigkeit der demokratischen Prozesse bei, selten zuvor dürfte die Politikverdrossenheit so schnell gewachsen sein wie in diesem kalten Frühjahr des Jahres 2021.
Wir drehen uns im Kreis, wir sind der Corona-Mutation ausgeliefert, wir kennen die Waffen gegen seine Zerstörungswut, aber wir haben viel zu wenige in der Hand. Wer versucht, für sich selbst oder für einen Verwandten einen Impftermin zu ergattern, braucht nicht nur Glück und Geschick, sondern auch sehr, sehr gute Nerven: Start der Terminvergabe zum Beispiel um 16 Uhr, SOFORT anrufen – und zack: 20 Sekunden später ist man nur die Nummer 16.762 auf der Warteliste. All die verzweifelten Senioren, die sich nicht mehr aus dem Haus trauen, die ihre Lieben seit Monaten entbehren, die endlich an der Reihe für den Goldstoff von Biontech, Moderna, Johnson oder Astrazeneca sind, aber Mal um Mal an der Bürokratie oder der Technik scheitern, wer hilft denen, wer hält ihre Hand? Wer tröstet die Angehörigen, wenn sich so eine 75-Jährige das Virus vor der Impfung doch noch einfängt und daran zugrunde geht, Intensivstation, Lungenmaschine, Exitus? Wer erklärt ihnen, dass gleichzeitig in den Lagerhäusern Impfpakete verstauben, dass Zigtausende Dosen aus der EU ins ohnehin gut versorgte Großbritannien exportiert werden, dass dies alles auch das Ergebnis einer überforderten Politik ist? Man kann in diesen Märztagen gelegentlich ins Zweifeln kommen, ob Deutschland wirklich noch ein führendes Industrieland ist. Manchmal fühlt es sich an wie eine Bananenrepublik: schlecht gemanagt, schlecht versorgt, auf dem absteigenden Ast.
Aber wo es einen Weg nach unten gibt, da gibt es auch einen nach oben – wenn man starke Helfer hat. Die Europäische Union hat bei der Organisation der Impfkampagne bisher keine gute Figur gemacht, doch nun beginnt sie, die Interessen ihrer Mitgliedsstaaten vehementer zu verteidigen. Obwohl überall Impfstoff fehlt, wurden seit Anfang Februar mehr als 40 Millionen Dosen aus der EU exportiert – allein 10 Millionen nach Großbritannien, wo die Lage doch ohnehin besser ist. Es mehren sich die Zeichen, dass der britisch-schwedische Pharmakonzern Astrazeneca unter "Gleichbehandlung" seiner Kunden etwas anderes versteht als seine Vertragspartner: Zwar schickt er in Holland produzierten Stoff nach England, aber umgekehrt kommen vertraglich vereinbarte Dosen aus britischen Fabriken nicht in die EU.
Das will die EU-Kommission nicht mehr hinnehmen. "Ich kann europäischen Bürgern nicht erklären, warum wir Millionen Impfstoffdosen in Länder exportieren, die selbst Impfstoff produzieren – und von denen nichts zurückkommt", wettert Ursula von der Leyen und droht Astrazeneca mit einem Exportverbot. Schon auf dem morgen beginnenden EU-Gipfel könnte es beschlossen werden. Die Drohung zeigt Wirkung: Premierminister Boris Johnson dreht eilig bei und will bei Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron dafür werben, die Ausfuhr nicht zu blockieren. Schließlich hat er seinen Landsleuten versprochen, dass sie bald frisch geimpft den Sommer ihres Lebens feiern können. Wenn also Frau Merkel und Herr Macron klug sind, und davon dürfen wir ausgehen, kommen sie dem Mann aus London entgegen – aber nur unter einer Bedingung: Dass er ebenfalls Druck auf Astrazeneca macht, alle Vertragspartner wirklich gleich zu behandeln. Dann sollten auch hierzulande schon bald mehr Impfdosen ankommen.
Merke: Mit vereinten Kräften ist man stärker als allein. Und kommt den Ast auch wieder hoch.
Es wird noch teurer
Nicht nur der jüngste Lockdown-Beschluss verdient Kritik, sondern auch sein Zustandekommen: Wenn Politiker sich die Nächte um die Ohren schlagen, bis sie irgendwann übermüdet einen Kompromiss gebären, muss man sich nicht wundern, wenn der mehr schlecht als recht ausfällt. Das Krisenmanagement braucht dringend einen neuen Modus. Vielleicht sagt Frau Merkel ja etwas dazu, wenn sie sich heute im Bundestag der Regierungsbefragung durch die Abgeordneten stellt.
Was beim Verdruss über das Corona-Management in den Hintergrund gerät, sind die enormen Kosten der Pandemie. Je länger die Krise dauert, desto mehr Geld muss sich der Finanzminister borgen. Heute will Olaf Scholz einen weiteren Nachtragshaushalt ins Bundeskabinett einbringen: Er braucht noch mal gut 60 Milliarden Euro mehr als bisher geplant, um die Kosten des längeren Lockdowns zu decken. Somit erhöht sich die Schuldenaufnahme in diesem Jahr auf den Rekordwert von 240 Milliarden Euro. Auch fürs kommende Jahr plant der SPD-Kanzlerkandidat eine Neuverschuldung von 81,5 Milliarden. Erst ab 2023 soll die Schuldenbremse wieder gelten. Dabei können die 50 Milliarden Euro helfen, die zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zurückgelegt, aber nie angezapft wurden – doch selbst damit bleibt eine Lücke. Ob sie durch ein Sparprogramm oder Steuererhöhungen geschlossen wird, muss der nächste Finanzminister entscheiden. Nach der Bundestagswahl.
Herr der Zahlen
Nach dem Wirecard-Skandal braucht die deutsche Finanzaufsicht einen neuen Chef: Am Montag wurde Mark Branson als Nachfolger des gescheiterten Felix Hufeld präsentiert, heute stellt er sich einer Fragestunde im Finanzausschuss des Bundestags. Der 52-Jährige soll die ramponierte Bafin reparieren. Gute Voraussetzungen bringt er mit: Als bisheriger Chef der Schweizer Marktaufsicht kennt sich der Mathematiker bestens in den Labyrinthen der internationalen Finanzmärkte aus.
Was lesen?
Während wir unter der Corona-Geißel ächzen, verändert sich unser Land: Der Plan für die künftige Verteilung der EU-Agrarmilliarden dürfte dazu führen, dass noch mehr Bauern ihre Höfe aufgeben müssen und wir Grundnahrungsmittel am Ende nur noch von wenigen Agrarkonzernen erhalten. Michael Bauchmüller hat die bedenkliche Entwicklung in der "Süddeutschen Zeitung" präzise erklärt. Auch deshalb sollte uns der gestrige Bauernprotest im Berliner Regierungsviertel nicht kaltlassen. Die Landwirte prangern das Insektenschutzprogramm, die Düngeverordnung und den wachsenden Import von Billigprodukten an. Meinen Kollegen Sophie Loelke und Axel Krüger haben sie erklärt, was sie von der Politik brauchen, damit es in Deutschland auch in Zukunft noch Bauernhöfe geben kann.
Was sind die Probleme der deutschen Corona-Politik, warum steigen die Infektionszahlen trotz Lockdown? Meine Kollegen Johannes Bebermeier, Sven Böll und Tim Kummert haben die Antworten.
Die britische Corona-Mutante verbreitet sich rasant – aber wie und wo genau? Meine Kollegen Arno Wölk und Sandra Sperling zeigen Ihnen, welches Szenario uns in den kommenden Wochen droht.
Über Ostern bleibt also alles zu. Na ja, fast alles: Am Samstag dürfen Supermärkte aufmachen. Aber das gibt doch einen Ansturm von Einkäufern! Was auf Sie zukommt, erklärt Ihnen meine Kollegin Sandra Simonsen.
Ob Feier- oder Ruhetag: Stehen am Gründonnerstag die Fließbänder in den Fabriken still, kostet das Geld. Ökonomen warnen, dass den Firmen bis zu sieben Milliarden Euro flöten gehen. Unsere Wirtschaftskolumnistin Ursula Weidenfeld bleibt trotzdem gelassen.
Was amüsiert mich?
Endlich kennen wir die Corona-Strategie der Bundesregierung!
Lassen Sie sich trotzdem nicht verdrießen, irgendwann klettern wir den Ast wieder hoch. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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