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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scheinlösungen der Pandemie Drei Gründe für das Corona-Chaos
Es war der bislang längste Corona-Gipfel. Doch das Ergebnis wirkt genauso unbefriedigend wie bei den kürzeren Treffen zuvor. Das hat vor allem mit der entschlossen unentschlossenen Pandemie-Politik zu tun.
Es ist bereits nach zwei Uhr in der Nacht auf Dienstag, als die Kanzlerin sich endlich vor die Hauptstadtpresse setzt. Angela Merkel wirkt müde, als sie sagt: "Wir haben heute intensiv gearbeitet."
Das kann man wohl sagen. Einen Nachmittag und fast eine ganze Nacht hat sie mit den Ministerpräsidenten um die richtige Corona-Strategie gerungen. Schon wieder. Und erneut mit nur mäßig befriedigendem Ergebnis. Zumindest ist die Kritik an den Beschlüssen von fast allen Seiten groß.
Das hat auch damit zu tun, dass sich immer mehr der Eindruck festsetzt, Deutschland schleppe sich nur noch durch diese Pandemie.
Denn im deutschen Kuddelmuddel gibt es von allem etwas: ein bisschen mehr Schnelltests und etwas mehr Impfstoff. Gottesdienste an Ostern ja, aber nicht so richtig. Geschäfte erst auf, dann wieder zu. Und so weiter.
Der deutschen Politik, so die Erkenntnis nach gut einem Jahr Corona, fehlt der Mut für klare Entscheidungen: Die Infektionen einfach laufen zu lassen, ist für die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten genauso ein Tabu wie ein echter, harter Lockdown, der die Zahlen wirklich drückt.
Das Pandemiekonzept ist auch deshalb so entschlossen unentschlossen, weil es gerade in drei Bereichen keine klaren Lösungen gibt. Ob in der Wirtschaft, in der Bildung oder bei der Erholung: Überall schummelt sich die Republik durch.
1.) Wir spucken weiter munter in die Hände
Wer die aktuelle Situation mit der vor genau einem Jahr vergleicht, merkt schnell, dass wir inzwischen bestenfalls ein Lockdownchen praktizieren: U- und S-Bahnen sind im Berufsverkehr recht voll, in vielen Bürotürmen brennt abends Licht, in kleinen Agenturen sitzen mehrere Mitarbeiter auf engem Raum zusammen, hier und da stehen ein paar Kollegen vor der Tür und rauchen.
Das lässt sich in Berlin beobachten, aber eben nicht nur dort.
Klar, viele Branchen leiden extrem unter den Corona-Maßnahmen – sei es der Einzelhandel, die Gastronomie oder die Kultur. Aber weite Bereiche des wirtschaftlichen Lebens funktionieren dann doch vergleichsweise normal. Zumal wenn man bedenkt, dass wir eine Jahrhundertkrise durchmachen. Anders als im Frühjahr 2020 haben mehr Produktionsstätten offen und arbeiten weniger Arbeitnehmer von zu Hause aus. Entsprechend ist die Mobilität höher, und es gibt mehr Kontakte.
Das ließe sich ändern, wenn, ja wenn, es schärfere Regeln gäbe. Also etwa nicht nur die Pflicht für Arbeitgeber, Homeoffice anzubieten, sondern die echte Verpflichtung, alle Jobs, bei denen es möglich ist, tatsächlich nach Hause zu verlagern.
Auch bei der Testung von Mitarbeitern wären weitaus schärfere Regelungen möglich als die vereinbarte Selbstverpflichtung der Unternehmen, die Angebote auszuweiten. Um die Wirksamkeit solcher "Wir gucken mal"-Ankündigungen zu beurteilen, muss man nicht einmal die Selbstverpflichtung der Fleischwirtschaft für bessere Arbeitsbedingungen aus dem Jahr 2015 bemühen.
Kurzum: Es gäbe im Arbeitsleben viele Möglichkeiten für schärfere Regeln. Das ist auch der Politik bewusst. Dass sie diese jedoch nicht durchsetzt, dürfte vor allem zwei Gründe haben: Schärfere Maßnahmen schaden im Zweifel den Unternehmen, es werden also höhere finanzielle Hilfen notwendig, oder es drohen sogar Pleiten und damit der weitere Verlust von Jobs.
Hinzu kommt, dass die laschen Regeln auch ein wenig der Pandemiemüdigkeit entgegenwirken sollen. Viele Menschen könnten problemlos von zu Hause arbeiten, wollen aus diversen Gründen aber inzwischen wieder lieber ins Büro fahren.
2.) Wir öffnen einfach mal die Schulen
Immerhin wirken die Regeln gegenüber den Unternehmen noch halbwegs einheitlich: Es wird geschont, wo es nur geht.
Doch bei den Schulen sind die Regeln so divers wie der deutsche Föderalismus. Das zeigt sich schon bei den Corona-Tests: Manche Länder testen die Schüler einmal die Woche, manche zwei Mal. In einigen Bundesländern ist das Prozedere vorgeschrieben, in anderen freiwillig. Wieder andere sind für möglichst viel Unterricht von zu Hause aus.
Die Hoheit der Länderfürsten zeigt sich nirgendwo so deutlich wie beim Schulsystem. Und nirgendwo sonst pochen sie so vehement darauf, dass jeder seine eigenen Regeln machen kann. Das haben sie die Kanzlerin auch dieses Mal wieder spüren lassen.
Die Folgen des Bildungsflickenteppichs der Bundesrepublik waren wohl noch nie so weitreichend.
Dabei haben alle Ministerpräsidenten ein Ziel: Sie wollen möglichst viel Präsenzunterricht zulassen. So sollen allzu große Wissenslücken vermieden werden und Kinder einen halbwegs strukturierten Tagesablauf erhalten.
Das ist verständlich, ja sogar sympathisch. Einerseits. Andererseits gelten Schulen auch als Infektionstreiber. Man muss kein Experte sein, um zu wissen, dass Kinder natürlich keinen Abstand halten und das Virus so von einer Familie auf viele andere überspringen kann.
Eine nachvollziehbare Strategie wäre es deshalb gewesen zu sagen: Wir öffnen Schulen und Kitas wieder, sobald wir alle Kinder zweimal wöchentlich testen können und die Mitarbeiter im Optimalfall bereits einmal geimpft sind.
Doch Schulen und Kitas wurden bereits Anfang März geöffnet. Da gab es noch nicht ausreichend Tests und die Impfungen für das Personal liefen gerade erst an. Nun lautet die implizite Hoffnung von Kanzlerin und Ministerpräsidenten: In fast allen Bundesländern starten kommende Woche die Osterferien. Damit gewinnen wir wenigstens ein bisschen Zeit.
3.) Wir lassen uns das Reisen nicht verbieten
Es muss im Grundgesetz einen geheimen Artikel geben, der den Deutschen ein Grundrecht auf Urlaub garantiert. Wenn schon nicht auf Mallorca, dann wenigstens auf Rügen.
Denn das Reisen war einer der größten Streitpunkte in der jüngsten Runde, mal wieder. Die "Küstenländer" setzten sich schon vor Beginn für Lockerungen ein: Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) schlug vor, Reisen im eigenen Bundesland mit einem Negativtest und auf der Basis einer Selbstversorgung zu ermöglichen. Niedersachsen dürften demnach nach Cuxhaven, Schleswig-Holsteiner nach Sylt, Mecklenburg-Vorpommer nach Rügen – aber Berliner eben nicht.
Ärger hatte vorher ausgelöst, dass Reisen nach Mallorca wieder möglich geworden waren. Warum aber sollten die Deutschen nach Palma dürfen, aber nicht nach Binz? Juristisch mag es darauf eine Antwort geben. Verständlich ist sie allerdings kaum. Und erhöht damit den Druck auf die Länderchefs, den sie aus ihrer heimischen Tourismusindustrie ohnehin bekommen. Denn Urlaub ist nicht nur eine schöne Abwechslung für Lockdown-geplagte Deutsche – sondern ein riesiger Wirtschaftsfaktor.
Der Kompromiss, den mehrere Bundesländer deshalb durchsetzen wollten, lautete "kontaktarmer Urlaub". Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt wollten das im Zweifel durch eine Protokollerklärung deutlich machen, die eben auch offengelegt hätte: Wir sind uns da nicht einig.
Die Bundeskanzlerin und Länderchefs wie der Hamburger Peter Tschentscher (SPD) hielten das für das völlig falsche Signal: Öffnen, während das exponentielle Wachstum zurück ist. Und somit die Mobilität erhöhen, statt sie weiter zu senken.
Einen Offenbarungseid in Form einer Protokollerklärung gab es am Ende nicht. Aber eben auch keine klare Linie: "Bund und Länder appellieren weiterhin eindringlich", heißt es im Beschluss, "auf nicht zwingend notwendige Reisen im Inland und auch ins Ausland zu verzichten." Was die Länder aus dieser weichen Formulierung nach dem Osterlockdown machen, bleibt abzuwarten. Im Zweifel geht es eben nach Palma.
Appelle, nicht zu reisen, Schulöffnungen ohne Konzept und die implizite Botschaft an die Unternehmen, es werde schon keine harten Maßnahmen geben – in den nächsten Wochen wird sich zeigen, inwiefern das deutsche Rezept ausreicht, um die Pandemie einzudämmen.
- Eigene Recherche