Was heute wichtig ist Das haben wir uns selbst eingebrockt
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
die Woche geht zu Ende, das Jahr neigt sich dem Ende zu. Gut so. Etwas Ruhe wird uns allen in diesen aufgeregten Zeiten guttun. Aber vorher gibt es noch ein paar Dinge zu klären. Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Es ist schon merkwürdig: Fast täglich sieht und hört man Markus Söder irgendwo in den Medien. Trotzdem ist es nicht so einfach, ihn zu treffen. Jedenfalls dann nicht, wenn man sich ausführlich mit ihm unterhalten möchte. Erst im Interview, dann im "Hintergrund", wie wir Journalisten das nennen. Dann schalten wir unsere Aufnahmegeräte aus und reden vertraulich über alles, was so ansteht. Das Kandidatenrennen in der CDU. Die Frage, ob er selbst Kanzler werden möchte. Seine Meinung über andere Politiker. Aus diesem Teil eines Gesprächs darf man nicht zitieren, Vertraulichkeit ist Teil der Absprache. Aber der "offizielle" Teil ist interessant genug. Schließlich zählt der bayerische Ministerpräsident zu Deutschlands beliebtesten Politikern.
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Deshalb hatten unser Reporter Tim Kummert und ich ein Interview in der Staatskanzlei in München angefragt. Schnell kam die Zusage. Doch dann wurde auf denselben Tag kurzfristig eine Corona-Runde der Ministerpräsidenten und der Kanzlerin gelegt. Also Verschiebung. Neuer Termin. Prompt auch da wieder ein kurzfristiger Corona-Gipfel. Wieder Verschiebung. Und dann tatsächlich noch ein weiteres Mal. Gestern Morgen dann endlich ein neuer Termin in München. Flug gebucht, eingecheckt, alles klar. Kurz vor dem Abflug der Anruf: noch mal alles anders. Neuer Ort jetzt: Nürnberg, Söders Heimatstadt. Also ab in den Zug. Und so fanden wir uns am Donnerstagmorgen in einem schmucklosen Besprechungsraum im bayerischen Heimatministerium wieder. Eine Mitarbeiterin servierte Brezen und stellte dem Chef seine Star-Wars-Tasse mit Frischgebrühtem hin. Kurz darauf kam sie noch mal und räumte die Tasse wieder ab. Der Ministerpräsident verspäte sich leider. Ok, kein Problem, wir sind ja geduldige Menschen. Etwas später kam die Mitarbeiterin zurück und stellte die Chef-Tasse wieder hin, mit neuem Kaffee darin. Und dann kam er wirklich, der Chef, in Jeans und Strickjacke. Ja, und dann konnten wir dem Corona-Bekämpfer endlich unsere Fragen stellen. Er beantwortete sie freimütig. Erklärte seine Corona-Strategie für die kommenden Tage und Wochen. Prangerte seine Kritiker an: "Aktuell gehen zwei Viren durchs Land: Das eine ist das Coronavirus, das andere ist das Virus der Verunsicherung und Hetze." Und: "Corona legt auch offen, wie herzlich oder herzlos der eine oder andere ist." Was nach der Autorisierung aus dem Interview geworden ist, lesen Sie hier.
WAS STEHT AN?
Wie geht es nun weiter mit dem Corona-Bekämpfungs-Dauerzustand? Die Lockerungspropheten sind verstummt, die Hart-gegensteuern-Beschwörer haben Rückenwind, aber das heimliche Motto dieser Tage scheint ein anderes zu sein: "Wir müssen da schnell mal was machen." Jetzt. Auf einmal. Ad hoc.
Dass die Corona-Regeln "passgenau" und "maßgeschneidert" sein sollen, haben wir inzwischen verstanden, auch wenn viele Entscheider damit vor allem eine beschönigende Umschreibung für "bloß nicht zu viel!" meinten. Wir wollen uns dem Pandemieverlauf möglichst flexibel anpassen, statt mit dem Holzhammer durch die Republik zu ziehen. Aber bis auf wenige Ausnahmen wie beispielsweise Tübingen funktioniert dieses Konzept fast nirgendwo, und was wir im Moment erleben, hat mit Flexibilität nichts mehr zu tun. Weihnachten muss stattfinden können, mit Oma, Opa, Enkeln, Tanten, Onkeln, Nichten, Neffen, wir dürfen uns von dem Virus nicht die Lebensfreude nehmen lassen: So tönte es bis vor wenigen Tagen aus allen Megafonen.
Nun erleben wir die 180-Grad-Kehrtwende, und die Ministerpräsidenten überbieten sich mit Vorschlägen für harte Einschränkungen: Ausgangssperre, Kontaktverbot außerhalb des eigenen Hausstands, bis auf Lebensmittelläden alle Geschäfte zusperren, auch Schulen zu, Kitas zu, Büros zu. Die Wissenschaftsakademie Leopoldina serviert die Argumentationsgrundlage, und die Lockdown-Vorreiter greifen beherzt zu. Sachsen macht den Anfang, Bayern zieht schnell nach, dort ist man ungern Zweiter. Epidemiologisch mag das alles sinnvoll sein, kommunikativ ist es ein Armutszeugnis. In unserer neuen Zeitrechnung nähern wir uns dem Jahr eins nach Erscheinen des Erregers – und noch immer erleben wir einen Schlingerkurs, als wäre das Virus erst gestern frisch eingetroffen. Angemessene Anpassung an die aktuelle Situation ist das nicht. Eher Rumgeeier.
Warum eigentlich? Warum diskutieren wir über Corona, bis wir nicht mehr können? Warum finden wir keine gemeinsame Linie, sondern lavieren uns nur noch irgendwie durch? Auf der Suche nach einer Antwort ist mir eine Äußerung von Peter Tschentscher aufgefallen. Hamburgs Erster Bürgermeister hat das politische Dilemma so formuliert: "Wir sollen in Deutschland vieles gleichzeitig erreichen. Wir sollen die Wirtschaft schonen. Wir sollen die Freiheitsrechte sichern. Wir sollen demokratische Mitwirkung sicherstellen. Und dann müssen wir auch noch die Pandemie bekämpfen." Ein permanenter Balanceakt. Der so selbstverständlich klingt, dass man darüber fast überhört, welche radikale Position sich hinter diesen Worten verbirgt.
In der Regel nehmen wir es hin, dass unsere Tage in der Pandemie von einem unauflösbaren Gegensatz geprägt sind. Auf der einen Seite die Jobs und die Wirtschaft, Schule und Bildung, Freizeit und Freunde. Auf der anderen der Kampf gegen das Virus. Diese Dichotomie ist zum Markenzeichen Europas geworden: die Zweiteilung des Lebens in "Corona" und "Sonstiges". Aber naturgegeben ist sie nicht. Nationen, die der Pandemie erfolgreich die Stirn geboten haben, scheren sich nicht um diese Abgrenzung. Weder die Corona-Klassenbesten aus Asien, die übrigens keinesfalls alle Diktaturen sind, siehe Japan, siehe Taiwan. Noch Länder wie Neuseeland, die in einer europäischen Kulturtradition stehen. Ihr Erfolg ist nicht allein damit zu erklären, dass sie von ihrer Insellage profitieren. Vielmehr liegt er in einer grundlegend anderen Haltung begründet: Sie verstehen die erfolgreiche Corona-Bekämpfung nicht als Gegenspieler, sondern als Grundlage des ökonomischen Erfolgs und der gesellschaftlichen Freiheiten. Wer das Virus wirklich im Griff hat, der kann auch im Gedränge shoppen gehen.
Freiheit und Vergnügen erkauft man sich allerdings nicht mit Herumlavieren. "Das Virus im Griff haben“: Darunter versteht man in den erfolgreichen Corona-Bekämpferstaaten keine Mogelpackung mit einem halbwegs akzeptablen Restniveau von Infektionen. Das Ziel ist die Null. Wortwörtlich: null Infektionen. Entschlossene Maßnahmen und vollständige Lockdowns schnellen wie der Knüppel aus dem Sack, sobald eine nach unseren Maßstäben geradezu lächerliche Zunahme der Fallzahlen zu beobachten ist – aber nicht einfach überall, sondern exakt dort, wo es nötig ist. Und auch nicht erst dann, nachdem man das Problem in sieben politischen Profilierungsrunden und fünfundzwanzig Talkshows durchgekaut hat. Überall gelten dieselben klaren Regeln, doch angewandt werden sie nur dort, wo es nötig ist: in einzelnen Regionen oder einzelnen Städten, manchmal auch nur in einzelnen Stadtvierteln. Aber eben schnell und konsequent. Eine funktionierende Kontaktverfolgungs-App auf dem Handy zu haben, ist in den meisten dieser Länder keine Option, sondern eine Selbstverständlichkeit. Und wer aus dem Ausland einreisen will, muss zuerst in Quarantäne. Buchstäblich jeder. Bei Verstößen drohen harte Strafen.
Aber geht diese Rechnung wirklich auf?, mögen Sie fragen. Tut sie. Anhand ökonomischer Daten hat sich gezeigt, dass sich gutes Krisenmanagement auszahlt: siehe hier und hier und hier. Die erfolgreichen Krisenbekämpfer schwimmen im Ländervergleich obenauf.
Hierzulande rudern wir dagegen heftig mit den Armen, um wenigstens den Kopf über Wasser zu halten. Da mag die Kanzlerin noch so emotional um Vernunft bitten und Herr Söder noch so eindrucksvoll den Krisenbekämpfer geben. Wer genau hinsieht, erkennt, wie wackelig die deutsche Corona-Strategie in Wahrheit ist. Nicht erst seit gestern, sondern seit Monaten. Der Mangel an klaren Konzepten wird durch enorme Summen an Steuergeld übertüncht, vor allem deshalb kommen wir im Vergleich zu anderen europäischen Ländern immer noch vergleichsweise gut durch den Schlamassel. Manche Milliarde hätte man sich sparen können, wäre früher entschlossen gehandelt worden. Die abrupten Kurswechsel, die Dauerdebatten um diese Maßnahme oder jene, das ständige Für und Wider haben wir uns eingebrockt, weil wir den Grundkonflikt um die richtige Strategie zur Corona-Bekämpfung elf Monate nach Ausbruch der Seuche in Deutschland immer noch nicht ausgetragen haben.
Es wird noch viele Monate dauern, bis der Impfstoff uns allen Erleichterung bringt. Wollen wir wirklich bis dahin weiter um Einzelmaßnahmen streiten, bis auch die letzte Seele wund und die Geduld vieler Bürger vollends erschöpft ist? Inzwischen hält die Mehrheit der Bundesbürger den halbgaren Kurs für falsch, wie uns das Politbarometer zeigt. Die Infektionszahlen gehen und gehen nicht runter, Silvester ist schon längst gestrichen, Weihnachten wankt. Seien wir ehrlich: Wir stecken in der Sackgasse. Aber vielleicht ist das ja ein guter Moment, um noch einmal alle Kraft zusammenzunehmen und den Dingen ins Auge zu sehen. Um uns zu fragen, wie wir aus der Falle herauskommen und wie ein besserer Weg aussieht. Bisher haben wir kein klares Ziel. Wir brauchen dringend eines. Vorbilder gäbe es.
Die semiautokratischen Regierungen in Ungarn und Polen haben die anderen EU-Staaten ausgetrickst, und die deutsche Bundesregierung hat ihnen dabei geholfen: So lässt sich die Einigung im Streit um Corona-Milliarden versus Rechtsstaatsprinzipen zusammenfassen. Politiker und Diplomaten werden sich auf dem heutigen EU-Gipfel in Brüssel gegenseitig beglückwünschen, dass sie den Konflikt beigelegt haben. Viele Bürger hingegen werden sich an den Kopf greifen und sich fragen, wann die EU endlich beginnt, ihre eigenen Werte ernst zu nehmen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier startet ein neues Projekt: die "Bürgerlage". Dafür hat er sieben Menschen mit unterschiedlichen Biografien eingeladen, regelmäßig per Videokonferenz über ihre persönliche Lage in der Pandemie zu sprechen. Heute um 10.30 beginnt die erste Runde, hier können Sie zusehen und auch selbst Fragen stellen.
Länger nichts von Fridays for future gehört. Heute sind die Aktivisten wieder da. Bei weltweiten Protesten fordern sie einen entschlosseneren Einsatz für den Klimaschutz. Gut so.
WAS LESEN?
Die Corona-Zahlen steigen und steigen. Was muss eigentlich noch passieren, damit die Politik endlich entschlossen handelt?, fragt sich meine Kollegin Sonja Eichert.
Hendrik Streeck zählt zu den bekanntesten Virologen Deutschlands. Seit Monaten erforscht er das Virus – und wirbt dafür, angstfrei und lockerer mit ihm umzugehen. Damit zieht er heftige Kritik und Anfeindungen auf sich. Im Interview mit meiner Kollegin Melanie Weiner spricht er über die Hintergründe.
WAS AMÜSIERT MICH?
Endlich wissen wir, wie Merkels Videokonferenzen mit den Ministerpräsidenten wirklich ablaufen!
Ich wünsche Ihnen einen wohlgeordneten Tag. Ab morgen gibt es wieder unseren Wochenend-Podcast. Mein Kollege Marc Krüger und ich unterhalten uns über … na, lassen Sie sich überraschen.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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