Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Dramatischer Wahlkrimi in Amerika
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
nehmen Sie sich einen Kaffee, verschieben Sie Ihre ersten Termine und schauen Sie in den Fernseher oder auf t-online. Dieser Tag ist dramatisch, in den USA läuft ein Wahlkrimi. Aber bevor Sie weiterzappen, gönnen Sie sich bitte ein paar Minuten für den Tagesanbruch. Hier ist der kommentierte Überblick über die wichtigsten Themen:
WAS WAR?
Die amerikanischen Wähler sind für Demoskopen unberechenbar. Das ist die wichtigste Lehre der vergangenen Stunden. Die USA wählen ihren Präsidenten – und all die Prognosen der vergangenen Wochen, die auf einen Erdrutschsieg des Demokraten Joe Biden hindeuteten, erscheinen als Makulatur. So jedenfalls der Stand jetzt, in den frühen Morgenstunden deutscher Zeit. Wegen der vielen Briefwahlstimmen wird es noch dauern, bis ein eindeutiges Ergebnis vorliegt, bis dahin müssen beide Seiten zittern. Amerika wählt. Und zählt. Und zählt. Donald Trump siegt in Florida und in vielen Bundesstaaten im Mittleren Westen. Er ist stärker, als es viele Beobachter erwartet haben. Biden holt sich New York und die Westküstenstaaten Kalifornien, Oregon und Washington, aber das ist keine Überraschung. Die braucht er ohnehin für einen Sieg. Noch ist es zu früh für eindeutige Prognosen, aber das Rennen scheint sich auf vier Schlüsselstaaten zu fokussieren, in denen das Pendel im Halbstundentakt hin und herschwingt: Arizona (derzeit Biden vorn), Pennsylvania, Michigan und Wisconsin (in allen dreien derzeit Trump vorn). Es ist nicht nur eine Schicksalswahl für Amerika, sondern auch ein politisches Drama. Vor vier Jahren saßen wir Journalisten vor den Bildschirmen und trauten unseren Augen nicht, als dieser Immobilienmogul aus New York entgegen der meisten Umfragen einen Bundesstaat nach dem anderen holte. Diesmal sind wir vorsichtiger, trotzdem ist dieser Morgen eine Überraschung. Noch ist die Wahl nicht entschieden, aber Trumps Wiederwahl erscheint möglich.
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Wie kann es sein, dass so viele Amerikaner diesem Mann ihre Stimme geben, fragen sich hierzulande viele Menschen. In den kommenden Stunden werden wir auf t-online und in unserem Livestream für Sie hoch- und runteranalysieren, aber drei Gedanken habe ich schon jetzt für Sie:
Erstens: Vielen Amerikanern geht es heute besser als vor vier Jahren – trotz Corona. Trump hat vom Wirtschaftsaufschwung seines Vorgängers Barack Obama profitiert und ihn durch Steuerkürzungen und ein milliardenschweres Konjunkturpaket verstärkt. Die Arbeitslosigkeit ist so gering wie seit den 1960er Jahren nicht mehr, die Löhne sind auch in den unteren Einkommensschichten gestiegen, es gibt weniger Arme. Zwar müssen viele Bürger mit einfachen Jobs vorliebnehmen, sie stehen an der Supermarktkasse oder liefern Pakete. Aber immerhin haben sie Arbeit.
Zweitens: Viele Menschen mögen Donald Trump für einen ordinären Lügner halten, wählen ihn aber trotzdem – weil die Alternative für sie inakzeptabel ist. Sie halten den 77-jährigen Joe Biden für zu alt, schwach und unentschlossen. Eine Befürchtung konnte man in den vergangenen Wochen vielerorts vernehmen: Biden könnte keine komplette Amtszeit von vier Jahren durchhalten, dann käme seine Vize Kamala Harris ans Ruder. Gegen sie haben die Republikaner eine harsche Kampagne angezettelt und behauptet, mit ihr zöge der Sozialismus ins Weiße Haus ein. Ein rotes Tuch für viele konservative Wähler. Die Schmutzkampagnen auf Facebook, Twitter und Co. dürften dabei eine Rolle gespielt haben.
Drittens: Dass die Amerikaner einen amtierenden Präsidenten nach dessen erster Amtszeit abwählen, kommt selten vor. Das letzte Mal traf es George Bush (den Älteren), den der juvenile Bill Clinton 1992 überflügelte. In Zeiten einer tiefen Krise wie jetzt könnte der Wechselwille bei vielen noch weniger ausgeprägt sein als ohnehin schon – obwohl Trumps Corona-Management übereinstimmend als Desaster gebrandmarkt wird.
Drei kurze Erklärungen, vielleicht sind sie in drei Stunden schon wieder passé. Der Wahlkrimi in Amerika läuft weiter, und wir halten Sie auf t-online mit Nachrichten, Grafiken und Einordnungen auf dem Laufenden. Ich melde mich heute Nachmittag noch einmal bei Ihnen, falls es bis dahin mehr Klarheit gibt. Stay tuned!
Der islamistische Terror plagt uns seit Jahrzehnten. Ich habe ihn mehrfach aus der Nähe erlebt. Im Sommer 1997 zündeten palästinensische Attentäter auf einem jüdischen Markt in Jerusalem zwei Bomben. 15 Menschen wurden getötet, 170 verletzt. Ich war kurz zuvor in der Nähe gewesen. Im Mai 2003 griffen Selbstmordattentäter in Casablanca mehrere jüdische Einrichtungen an. 33 Menschen wurden getötet, mehr als 100 verletzt. Ich war fünf Stunden zuvor an einem der Häuser vorbeigegangen. Bei einem weiteren Anschlag zwei Jahre später hörte ich die Explosion. Diese Erinnerungen kamen mir in den Sinn, als ich die Bilder vom Terroranschlag in der Wiener Innenstadt sah. Dazu Assoziationen aus den vergangenen 20 Jahren. Die einstürzenden Zwillingstürme in New York. Der zerbombte Bus in London. Die zerfetzten Vorortzüge in Madrid. Das Blutbad im Pariser Club Bataclan. All die Anschlagsorte in so vielen Metropolen in Europa, Arabien, Afrika, Asien. Der islamistische Terror ist eine Geißel, und er hat Tausende Opfer gefordert.
In den vergangenen zwei, drei Jahren schien die Terrorgefahr in Europa kleiner geworden zu sein, der Sieg über die Terrorbande "Islamischer Staat" in Syrien und im Irak schwächte die Dschihadisten. Doch der IS hat sich längst verlagert, heute operiert er aus Nordafrika und aus dem Internet. Und er hat seine Strategie geändert, nicht mehr die Herrschaft über ein quasistaatliches Territorium steht heute im Mittelpunkt. Eher ist der IS zu einem losen Netzwerk von Kämpfern mutiert, die mal mit Banditen und Schmuggelbanden paktieren, mal christliche Minderheiten angreifen, mal Propaganda fabrizieren, die sinnsuchende junge Männer zu Terrortaten im Namen eines pervertierten Religionsverständnisses animieren soll. So wie in Nizza, in Dresden und nun in Wien.
Viele dieser "einsamen Wölfe" verschreiben sich der "Propaganda der Tat", darin ähneln sie den NSU-Terroristen: Nicht die Person des Täters zählt, sondern ausschließlich seine Bluttat. Sie bleiben als "Schläfer" in der Deckung, bis sie plötzlich zuschlagen. Deshalb sind sie so schwer zu identifizieren – ob im Nahen Osten, in Nordafrika oder in Mitteleuropa. Die Sicherheitsbehörden bemühen sich mit großem Aufwand, die Szene im Blick zu behalten, doch das gleicht einer Herkulesaufgabe. Mehr als 600 islamistische Gefährder gibt es in Deutschland, das gesamte dschihadistische Umfeld könnte bis zu 2.000 Personen umfassen. Nicht alle können nach geltendem Recht abgeschoben werden.
Auch einer der mutmaßlichen Täter von Wien war den Behörden bekannt. Trotzdem wäre es schwierig gewesen, den Anschlag im Vorfeld zu verhindern. "Wenn es sich um Einzeltäter oder kleine Gruppen handelt, die nicht weiter in Kontakt mit anderen Dschihadisten treten, ist es sehr schwierig, diese zu enttarnen. Genau so war es in Nizza, Paris und Dresden auch", sagt der Terrorismusexperte Guido Steinberg. "Die Anschlagsgefahr ist in jedem Fall unberechenbarer als in der Vergangenheit, weil wir es aktuell mit Einzeltätern zu tun haben. Das macht es besonders schwierig, präventiv vorzugehen." Allerdings berichtet der "Spiegel", dass der mutmaßliche Täter von Wien vermutlich vor zwei Jahren im türkisch-syrischen Grenzgebiet Kontakt zu deutschen Islamisten hatte. Damit stellt sich die Frage nur noch lauter, was effektiv gegen den Terror im Namen des Islams getan werden kann. Mit den Antworten lassen sich ganze Bücher füllen. Fünf Erkenntnisse stechen heraus:
Erstens: Datenschutz ist wichtig, aber er sollte die Sicherheitsbehörden nicht daran hindern, Verbrecher zu enttarnen. Der Bundesnachrichtendienst und der Verfassungsschutz wünschen sich schon länger, Botschaften in Messenger-Diensten wie WhatsApp mitlesen zu dürfen. Die Bundesregierung hat ein entsprechendes Gesetz auf den Weg gebracht. Noch wichtiger wäre es, das föderale Wirrwarr zwischen dem Bundeskriminalamt, den 16 Landeskriminalämtern, Bundes- und Landesverfassungsschutzämtern zu entwirren.
Zweitens: Die religiöse Bildung darf hierzulande nicht allein muslimischen Gemeinden und Moscheen überlassen werden. Stattdessen sollte sie wie bei den Kirchen unter staatlicher Aufsicht in die Schulen integriert werden. Vielerorts gibt es bereits ermutigende Pilotprojekte, unsere Kolumnistin Lamya Kaddor unterrichtet selbst an Schulen und berichtet regelmäßig über ihre Erfahrungen.
Drittens: Einflussreiche islamische Gelehrte müssen das Verhältnis des Islams zur Gewalt klären und ein friedfertiges Verständnis der Religion als einzigen legitimen Weg definieren. Die meisten tun das bereits, aber vielerorts können Imame immer noch ungestört zum "heiligen Krieg" aufrufen. Viele werden vom saudischen Staat gefördert. Politischer Druck kann dagegen helfen, aber die theologische Debatte kann der Westen der islamischen Welt nicht aufoktroyieren, sie muss dortselbst entspringen.
Viertens: Solange der Nahe Osten und Nordafrika von Kriegen und Krisen, von Ungerechtigkeit und Armut erschüttert werden, wird der Terrorismus immer einen Nährboden finden. Die Befriedung der arabischen Welt ist ein Jahrhundertprojekt, das von vielen Parametern abhängt. Aber beharrliche Diplomatie und Unterstützung für Reformer, statt für Diktatoren wie Ägyptens Sisi können helfen.
Fünftens: Wir Europäer sollten unsere Werte und unsere freie Lebensart verteidigen – gegen politische Extremisten genauso wie gegen religiöse Fanatiker. Das gelingt nicht, indem wir aus falsch verstandener Toleranz unsere Prinzipien aufgeben, sondern indem wir selbstbewusst, aber nicht überheblich für sie eintreten. Dazu gehören die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst. Deshalb ist es ein Unding, dass im EU-Land Belgien ein Lehrer suspendiert worden ist, weil er Mohammed-Karikaturen im Unterricht gezeigt hat. Und deshalb ist es alarmierend, dass sich auch hierzulande viele Lehrer nicht trauen, mit ihren Schülern über religiöse Prinzipien kontrovers zu diskutieren. Wer sich selbst kleinmacht, den werden die Feinde der Toleranz verzwergen.
WAS STEHT AN?
Österreich begeht nach dem Terroranschlag mit vier Toten und vielen Verletzten heute den zweiten Tag der dreitägigen Staatstrauer. Alle Schulen sollen zu Beginn des Unterrichts eine Gedenkminute einhalten. Da könnten sich die deutschen Schulen anschließen, finde ich.
In Celle wird der Prozess gegen den mutmaßlichen Anführer des "Islamischen Staats" in Deutschland fortgesetzt. Die Bundesanwaltschaft hat gegen Abu Walaa aus Hildesheim und drei weitere Islamisten Anklage erhoben, weil sie Freiwillige für den IS rekrutiert haben sollen.
In Israel wird des früheren Regierungschefs Izchak Rabin gedacht, der heute vor 25 Jahren von einem jüdischen Fanatiker erschossen wurde. Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus: Gewalttätigen Fundamentalismus gibt es in allen großen Religionen.
Der Castor-Transport mit deutschem Atommüll soll heute weiter in Richtung Biblis (Hessen) rollen. Atomkraftgegner wollen an vielen Orten demonstrieren.
Berlin hat endlich einen Flughafen, der den Namen verdient, und ab heute heben auch von der südlichen Startbahn reguläre Flüge ab. Damit ist nun alles geritzt. Dass wir das noch erleben dürfen!
In Bremen wird das kleinste Haus verkauft: sieben Quadratmeter für 77.777 Euro. Und so sieht es aus.
WAS LESEN?
Unter dem Populisten Donald Trump hat sich Amerika weiter polarisiert. Aber was ist eigentlich Populismus? Und warum kann er eine Demokratie langfristig sogar zerstören? Darüber spricht unsere Moderatorin Ursula Weidenfeld in der neuen Folge unseres Podcasts "Tonspur Wissen" mit der Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff. Hörenswert!
Inmitten des Grauens von Wien gab es Momente der Menschlichkeit: Zwei junge Männer brachten eine Frau und einen verletzten Polizisten in Sicherheit. Unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe hat die Geschichten der beiden Helden aufgeschrieben.
Viele Bürger glauben, Deutschland komme besser durch die Corona-Pandemie als andere Länder. Stimmt das wirklich? Im Vergleich zu den wirklich erfolgreichen Staaten ist die Bilanz ernüchternd, berichtet mein Kollege Maximilian Kalkhof.
Ist der zweite Lockdown nötig? Kritiker der Beschlüsse hätten lieber weiterhin auf freiwillige Einschränkungen gesetzt. Doch das funktioniert nicht effektiv, wie meine Kollegin Laura Stresing anhand der Bewegungsdaten von Smartphones zeigt.
WAS AMÜSIERT MICH?
Oh Gottogott, diese Alpträume!
Ich wünsche Ihnen ein sorgenfreies Erwachen.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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