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Angriff auf Deutschlands Demokratie: Extremisten kapern Corona-Proteste


Meinung
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Was heute wichtig ist
Angriff auf Deutschlands Demokratie

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 31.08.2020Lesedauer: 7 Min.
Polizisten sicherten am Wochenende das Reichstagsgebäude, konnten aber nicht verhindern, dass Extremisten auf die Stufen stürmten.Vergrößern des Bildes
Polizisten sicherten am Wochenende das Reichstagsgebäude, konnten aber nicht verhindern, dass Extremisten auf die Stufen stürmten. (Quelle: Lutz Jäkel)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut. Wer sich an die demokratischen Spielregeln hält, darf in Deutschland jederzeit für sein Anliegen auf die Straße gehen und wird dabei auch noch von Polizisten beschützt. Menschen in Belarus oder Russland wären froh, genössen sie dieselben Freiheitsrechte wie die Bürger hierzulande. In unserem pluralistischen System stellt der Staat sicher, dass Minderheiten sich Gehör verschaffen können.

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Zugleich hat der Staat aber auch die Verpflichtung, die demokratischen Institutionen und die Mehrheit der Bürger vor Chaoten, Hetzern und Verfassungsfeinden zu schützen. Das ist am Wochenende in Berlin gründlich misslungen. Tausende Corona-Leugner zogen ohne Masken dicht an dicht durch die Straßen der Hauptstadt. Rechtsextremisten versuchten, das Reichstagsgebäude zu stürmen und drangen bis auf die Stufen vor, wo ihnen nur drei Polizisten entgegentraten. Anhänger der Identitären Bewegung, der AfD und anderer Extremisten keiften Parolen zum Sturz der demokratisch gewählten Bundesregierung. Begleiter des Verschwörers Attila Hildmann bedrohten Journalisten. Der amerikanische Anti-Impf-Aktivist Robert F. Kennedy durfte trotz Corona-Beschränkungen in Deutschland einreisen und seine Propaganda verbreiten. Aufwiegler huldigten vor der russischen Botschaft dem Kremlchef und skandierten: "Putin! Putin! Putin!" "So viel Liebe für den Autokraten gibt es selbst in Russland selten", berichtet unser Reporter Jan-Henrik Wiebe. Zwischendrin schwadronierten Esoteriker, Impfgegner, Friedensbewegte und Verschwörungsjünger, Corona sei eine "Erfindung" der "Eliten", um das "Volk" zu unterjochen. Auch die absurde QAnon-Theorie, der zufolge ein geheimer Pädophilen-Zirkel aus Politikern und Wirtschaftsbossen Kinder gefangen halte, um deren Blut zu trinken, gewinnt in Deutschland rasant Anhänger. Haben diese Leute noch alle Tassen im Schrank? Das wird man sich am Wochenende in Millionen deutschen Wohnzimmern vor dem Fernseher gefragt haben.

Sicher, viele der Demonstranten geben vor, mit Extremisten und Spinnern nichts zu schaffen zu haben. Aber sie störten sich auch nicht daran, Seite an Seite mit ihnen durch Berlin zu marschieren. "Wer am Samstag ernsthaft gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren wollte, tat das nicht nur mit aufrichtigen Skeptikern oder Menschen, die durch die Corona-Krise alles verloren haben. Er tat das auch mit Rechtsextremen und Reichsbürgern, die unsere Demokratie niederreißen und unsere Art zu leben beenden wollen", schreibt mein Kollege Daniel Schreckenberg in seinem Kommentar. Das hat Folgen: "Diese Demokratieverächter glauben, dass ihre Weltanschauungen jetzt einen Platz in unserer Gesellschaft haben, dass ihre Gedanken tatsächlich salonfähig werden."

Auf die gesundheitliche und die wirtschaftliche folgt damit die gesellschaftliche Corona-Krise. Brüche reißen auf, Milieus radikalisieren sich, Wutentbrannte auf der einen und fassungslose Bürger auf der anderen Seite stehen einander sprachlos gegenüber: Das ist die Lage im beginnenden deutschen Herbst 2020. Niemand, der halbwegs klar bei Verstand ist, kann der Kanzlerin, den Ministern und Ministerpräsidenten vorwerfen, dass sie die Gefahren der Pandemie übertreiben oder ihre Folgen herunterspielen, intransparent kommunizieren oder keine Empathie für Geschädigte der Corona-Regeln beweisen. Im Vergleich zur Flüchtlingskrise 2015 zeigt Angela Merkel mehr Verständnis für Kritiker ihrer Politik. "Eine demokratische Zumutung" hat sie das Virus genannt. Trotzdem läuft eine wachsende Minderheit Sturm gegen den staatlich verordneten Gesundheitsschutz und überschreitet dabei die Grenzen des Tolerierbaren.

Das darf der Staat nicht zulassen. Es ist seine Aufgabe, die überwältigende Mehrheit der vernünftigen, verfassungstreuen und verantwortungsvollen Bürger zu schützen – und die Rücksichtslosen und Radikalen in die Schranken zu weisen. Ja, jeder darf hierzulande seine Meinung kundtun. Aber dieses Recht endet dort, wo es die Rechte von Mitbürgern verletzt. Es ist höchste Zeit, dass Politik und Polizei diesen Grundsatz konsequent durchsetzen.


ZITAT DES TAGES

"Wer sich über die Corona-Maßnahmen ärgert oder ihre Notwendigkeit anzweifelt, kann das tun, auch öffentlich, auch in Demonstrationen. Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfängt heute im Schloss Bellevue Polizisten, die während der Demonstration im Einsatz waren.


WAS STEHT AN?

Drei Worte, ein Satz: "Wir schaffen das." Heute vor fünf Jahren hat Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre berühmten Worte gesprochen, die in vielen Ohren wie ein Versprechen klangen und in anderen wie Hohn. Fast eine Million Flüchtlinge und Migranten kamen im Jahr 2015 nach Deutschland, darunter Zehntausende Opfer von Krieg, Gewalt und Verfolgung. Sie fanden Zuflucht und ein neues Zuhause, viele haben sich längst in die Gesellschaft integriert. Zugleich wurden Bürger, Behörden und Polizei auf eine harte Probe gestellt, viele empfinden heute noch einen tiefen Groll gegen die Kanzlerin; die AfD saugt immer noch Kraft daraus. Auch wenn man die grundsätzliche Entscheidung der offenen Grenzen für richtig hält, kann man die Fehler im Management der Flüchtlingskrise anprangern. Aber gestern ist gestern und heute ist heute.

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Heute bleibt Angela Merkel nur noch ein gutes Jahr im Amt. Das ist in turbulenten Zeiten, in denen die Corona-Krise die größte Aufmerksamkeit erfordert und täglich Energie abzieht, nicht viel. Trotzdem liegt darin eine große Chance. Befreit vom Druck, sich einer Widerwahl zu stellen, kann Frau Merkel das Land noch entscheidend voranbringen. Das setzt allerdings voraus, dass sie nicht in ihren politischen Stil der kleinen Schritte zurückfällt. Die Entschlossenheit, die sie zu Beginn der Pandemie bewiesen hat, könnte sie nun auf drei Feldern zeigen, die über Deutschlands Zukunft entscheiden:

ERSTENS DIE ENERGIEWENDE: Die Zeit bis zum drohenden Kippen des Weltklimas wird knapp, trotzdem ist immer noch unklar, wie genau Deutschland künftig eine umweltverträgliche Energieversorgung sicherstellen will. Nicht nur in Europa, auch andernorts in der Welt wartet man darauf, dass wirtschaftlich starke, politisch einflussreiche Länder wie die Bundesrepublik vorangehen und sich nicht nur ambitionierte Ziele setzen, sondern diese auch erfüllen. Die Corona-Krise bietet dafür eine goldene Gelegenheit: Mithilfe der vielen Milliarden Euro aus den Aufbauprogrammen des Bundes und der EU ließen sich Windkraft, intelligente Stromnetze und alternative Antriebe noch viel stärker fördern. Die von der Bundesregierung orchestrierten Verhandlungen mit dem Europaparlament über das Hilfspaket liefern den Schlüssel, um diese Tür in eine bessere Zukunft aufzuschließen.

ZWEITENS DIE DIGITALISIERUNG: Ja, die ist schon fast zu einer Phrase verkommen – aber sie entscheidet darüber, ob Deutschland auch in fünf, zehn und zwanzig Jahren noch eine führende Wirtschaftsnation bleibt. Um endlich voranzukommen, müssen bürokratische Prozesse entschlackt, Forschungseinrichtungen und Startups noch intensiver gefördert und europäische Initiativen zur smarten Datenverarbeitung vorangetrieben werden. Am wichtigsten aber ist die Ausbildung der Gründer, Unternehmer und Arbeitnehmer von morgen: in den Schulen. Doch deren digitale Ausstattung ist vielerorts ein Trauerspiel. Viele Schulen haben noch nicht einmal ein schnelles Wlan, Tausende Lehrer kämpfen mit veralteter Software und noch älteren Computern (die sie oft auch noch selbst bezahlen müssen). Viele scheitern daran, ihren Unterricht virtuell zu übertragen, wenn Schüler aufgrund einer Corona-Gefährdung zu Hause bleiben müssen. So werden künftige Karrieren schon im Kindesalter zunichte gemacht.

Zwar ist die Bildungspolitik Ländersache, aber der Bund darf helfen. Fünf Milliarden Euro hat die große Koalition für die Digitalisierung der Schulen bereitgestellt – doch bisher sind nur knapp 16 Millionen abgerufen worden. Viele Schulleiter sind schon mit den Anträgen überfordert. Warum installiert Frau Merkel dafür nicht einen Koordinator im Kanzleramt? Keine Frühstücksdirektorin wie die digitale Staatsministerin Dorothee Bär, sondern eine Person mit Expertise, Elan und Durchsetzungskraft, die den Bundesländern dabei hilft, aus der Offline- endlich in die Online-Welt zu sprinten. Sie könnte sich drei einfache Ziele setzen:

Bis Ende des Jahres bekommt jede deutsche Schule ein schnelles Wlan und jeder Lehrer einen zeitgemäßen Laptop.

Bis Ende Februar wird für die Lehrer jeder Schule mindestens ein Weiterbildungsseminar zu digitalen Standardprogrammen organisiert.

Bis Ende der Legislaturperiode in einem Jahr wird eine digitale Plattform entwickelt, auf der Lehrer aus allen Bundesländern Erfahrungen teilen, Aufgaben austauschen und sich gegenseitig beraten können.

Nichts davon ist ein Hexenwerk. Ganz billig ist es auch nicht – aber viel günstiger als eine Mehrwertsteuersenkung, deren Effekt fraglich bleibt. Und effektiver für Deutschlands Zukunft.

DRITTENS DIE GEMEINSAME AUßEN- UND SICHERHEITSPOLITIK DER EU: Die ist alles andere als eine Gemeinsamkeit. Sie ist eine Kakofonie, wie man an den Konflikten in Libyen, Syrien und Belarus, dem Gasstreit im Mittelmeer, der verworrenen Migrationspolitik, der ängstlichen Haltung gegenüber China, Russland und Amerika sieht. Jedes EU-Land verfolgt seine eigenen Ziele und setzt dafür eigene Mittel ein. Das ist das gute Recht jedes Staates, aber es führt Europa ins weltpolitische Abseits. Geht das so weiter, werden Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und die anderen europäischen Länder in einigen Jahren international keine Rolle mehr spielen. Stattdessen werden ihre Interessen zwischen der alten Weltmacht USA, der neuen Weltmacht China und den unberechenbaren Autokratien wie Russland und der Türkei zerrieben. Schon jetzt gleich Außenpolitik einem permanenten Feuerlöschen, langfristig-konstruktive Gestaltung ist kaum noch möglich. Dieser Trend wird sich verschärfen. Die Bundesregierung sollte jetzt gegensteuern und gemeinsam mit Frankreich die Basis einer starken europäischen Diplomatie legen.

Das wird nicht gelingen, wenn man sich wie bisher von einem Problem zum nächsten hangelt: gestern Libanon, heute Belarus, morgen Amerika, und jedes Mal eine andere Linie. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik beginnt damit, dass man zunächst klipp und klar verbindliche Prinzipien, Prozesse und Ziele benennt – und sich dann daranhält. Dann wäre es nicht mehr möglich, dass Frankreich im Libyen-Konflikt eine andere Seite unterstützt als die Bundesrepublik. Oder dass einige EU-Länder Flüchtlinge aufnehmen, während andere dies verweigern. Oder dass ein Land sich von chinesischen Investitionen umgarnen lässt und dafür bei Menschenrechtsverletzungen wegschaut, während andere EU-Staaten dem Regime die Stirn bieten.

Auch hier gilt: So eine Einigung ist alles andere als einfach, und sie dauerhaft durchzuhalten, ist es erst recht nicht. Aber sie ist unerlässlich, wenn Deutschland nicht zum Spielball stärkerer Mächte werden will. Es braucht Autorität, um so einen Prozess durchzusetzen. Angela Merkel ist in Europa derzeit wohl die einzige Person, die diese Autorität besitzt. Sie sollte sie einsetzen.

Energiewende, Digitalisierung, gemeinsame EU-Außenpolitik: Drei große Aufgaben. Schwierig, aber nicht unlösbar. Mit Mut, Entschlossenheit und Überzeugungskraft wären sie zu bewältigen. Dann träfe er wirklich zu, der berühmte Satz: Wir schaffen das.


WAS LESEN?

Das Coronavirus kann in menschlichen Körpern Verheerendes anrichten. Das Team um Professor Tobias Huber am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat nun zwei Autopsie-Studien verstorbener Corona-Patienten veröffentlicht. Die Ergebnisse erklärt er im Interview mit meiner Kollegin Sandra Simonsen.


Corona bringt das Gesundheitssystem an seine Grenzen. Die Bundesvorsitzende des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Dr. Ute Teichert, erklärt im Interview mit meinem Kollegen Manfred Schäfer, wo es gerade hakt – und was sie von einem Verbot des Karnevals und der Weihnachtsmärkte hält.


WAS AMÜSIERT MICH?

Bezeichnend, wer da alles auf die Straße geht.

Ich wünsche Ihnen einen vernunftbeseelten Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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