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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Protest in Berlin Masken stören mehr als Nazis
Am Samstag sind wieder Zehntausende durch Berlin gezogen und haben – weitgehend friedlich– ein Ende der Corona-Maßnahmen gefordert. Am Abend jedoch eskaliert die Lage. Eine Reportage von Jan-Henrik Wiebe
"Putin, Putin, Putin", skandiert die Masse vor der Russischen Botschaft in der Straße Unter den Linden in Berlin. So viel Liebe für den Autokraten gibt es selbst in Russland selten in der Öffentlichkeit. "Freiheit statt Willkür" steht auf einem Plakat, das eine Frau in die Höhe hält. Manche Fans des russischen Präsidenten tragen die Flagge des Deutschen Reiches, andere die der USA oder die von Russland und fordern einen Friedensvertrag, den es angeblich nicht gibt.
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Viele von ihnen sind sogenannte Reichsbürger, stramm rechts und erkennen die Bundesrepublik nicht an. Sie fordern Freiheit von den Anti-Corona-Maßnahmen und wollen gleichzeitig Putin. Ein Paradoxon, auf das man an sehr vielen Stellen an diesem Tag trifft.
Krasser Gegensatz zu aggressiven "Reichsbürgern"
Ganz viel Liebe will auch eine Gruppe Hippies die Straße weiter runter, an der Kreuzung mit der Friedrichstraße, versprühen. Mit Blumen in den Haaren, Trommeln, Gitarre und Flöte musizieren sie friedlich. Der Gegensatz zu den eher aggressiven rechten "Reichsbürgern" könnte krasser kaum sein.
Ein großer Teil der Menschen, die aus allen Ecken Deutschlands nach Berlin gefahren sind, kommt aus dem bürgerlichen Spektrum und hat Angst vor dem, was gerade passiert, wird in Gesprächen mit ihnen deutlich. Die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie verstehen sie nicht, einen Mund-Nasen-Schutz trägt außer den Polizisten und Vertretern der Presse niemand. Das wird auch im öffentlichen Nahverkehr an diesem Tag in Berlin deutlich.
- Reaktionen auf Reichstags-Sturm: "Ekelhaft und zum Schämen"
Sehr viele Menschen ignorieren, trotz möglicher Bußgelder, die Vorschriften. Es wird weiterhin behauptet, dass das Coronavirus nicht schlimmer sei als eine Grippe. Das Stück Stoff vor Mund und Nase im Supermarkt oder in der Bahn stört viele mehr, als die Neonazis, die sich unter ihre Demonstration gemischt haben.
Neben der vom Verfassungsschutz beobachteten Identitären Bewegung sind Mitglieder von Kameradschaften aus ganz Deutschland angereist. Auch Vertreter der AfD sind vor Ort. Die AfD Berlin postete auf Twitter ein Video der Demonstration und bezeichnete sie als Volksfest.
3.000 Polizisten sind viel zu wenige
Etwa 3.000 Polizisten sind im Einsatz, um die Auflagen der Behörden durchzusetzen, doch schon zu Beginn wird klar, dass viel zu wenige Beamte im Einsatz sind, um nur irgendeine Maßnahme durchzusetzen. Das wird deutlich, als die Polizei am Mittag eine Sitzblockade auf der Friedrichstraße räumen will, nachdem die Demonstration aufgelöst wurde. Etwa ein Dutzend Demonstranten tragen die Beamten symbolisch von der Straße und ziehen sich dann zurück.
Selbst den Bundestag kann die Polizei nicht richtig sichern. Demonstranten mit Flaggen des Deutschen Reiches – einem Erkennungsmerkmal der extremen Rechten – durchbrechen Polizeiketten, schieben Gitter zur Seite und stürmen das Portal. Nur mit viel Einsatz von Pfefferspray gelingt es den Einsatzkräften die aggressive Menge zu vertreiben und die Lage unter Kontrolle zu bringen. Später teilt die Polizei mit, dass keine Person in das Gebäude eindrang, aber Steine und Flaschen auf die Beamten geworfen wurden. Über Verletzte ist bislang nichts bekannt.
"Ich hatte Corona und mache mir Sorgen um Euch"
Videos im Internet zeigen, dass nur eine Reihe weniger Polizisten das Haus unserer Demokratie vor dem Ansturm der Antidemokraten verteidigte.
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Stunden zuvor war die Lage noch eine völlig andere: Mit Maske und Plakat steht Karoline Preisler auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor und will mit den Demonstranten ins Gespräch kommen. "Ich hatte Corona und mache mir Sorgen um Euch", steht auf ihrem Plakat. Sie ist an diesem Tag die mutigste Aufklärerin.
Die Juristin und FDP-Politikerin aus Mecklenburg-Vorpommern lag zu Beginn der Pandemie mehrere Tage im Krankenhaus in einem Isolierzimmer und hatte einen eher schweren Krankheitsverlauf. An ihr vorbei ziehen Männer und Frauen mit Flaggen des Deutschen Reiches. Ein Mann aus dem rechten Spektrum habe sie auch schon angepöbelt, erzählt Preisler t-online.de.
Corona-Überlebende sucht das Gespräch
"Die meisten Menschen sehen nicht Corona als das Problem, sondern die Angst davor", sagt die Corona-Überlebende. Sie habe bereits viele gute Gespräche geführt, die manche laut Preisler auch nachdenklich gestimmt haben. Überzeugen konnte sie jedoch niemanden, dafür sei das Meinungsbild zu fest bei den Menschen. Sie erzählt, dass viele noch nie Kontakt zu Menschen hatten, die an dem Virus erkrankt sind. In den Gesprächen mit den Menschen warnt sie vor den Bauernfängern, die rechtes Gedankengut vertreten und nicht am Corona-Thema interessiert sind.
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An vielen Stellen zwischen Friedrichstraße und Siegessäule dröhnt laute Techno-Musik aus mitgebrachten Boxen. Menschen tanzen auf der Straße, halten Händchen und umarmen sich. Es ist wie eine kleine Loveparade, mitten in der Pandemiezeit, aber in einer völlig parallelen Welt. Gefährlich sei nicht das Virus, sondern die Angst davor, sagt eine Frau im Gespräch mit t-online.de.
Corona bringt wilde Mischung zusammen auf die Straße
Sie habe Angst, dass die Menschen vereinsamen und deshalb krank werden, sagt sie. Sämtliche Anti-Corona-Maßnahmen sollten zurückgenommen werden, das ist nicht nur ihre Forderung, sondern der gemeinsame Nenner der besorgten Bürger, Verschwörungstheoretiker, Rechtsextremisten, Hippies, Christen, Esoterikern, Frauen in Burkas, Frauen mit deutscher Fahne mit türkischem Halbmond und Q-Anon-Verschwörer-Shirt, Putin-Freunden und Männern mit Türkeifahnen. Sie alle wären ohne Corona wohl nie gemeinsam auf die Straße gegangen.
Es ist eine Mischung aus Angst, egoistischem Hedonismus und politischem Aktivismus. Dass die Ankündigung eines "Sturms auf Berlin" kein Spaß war, hat der Mob vor dem Reichstag bewiesen.
- Beobachtungen vor Ort