Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Anschlag in Berlin: Die Gefahr der "einsamen Wölfe"
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Es ist der Alptraum jedes Auto- oder Motorradfahrers: Man gleitet nichtsahnend über die Straße – und plötzlich ist da ein anderer Wagen, der blitzartig näher kommt. Krachen, Schlittern, Stille. So geschehen am Dienstagabend auf der Stadtautobahn in Berlin: Ein Mann rammte offenbar absichtlich zwei andere Autos und machte regelrecht Jagd auf Motorradfahrer. Er verletzte sechs Menschen, drei von ihnen schwer. Der mutmaßliche Täter ist laut Polizei ein abgelehnter, aber noch geduldeter Asylbewerber aus dem Irak. Er soll eine islamistische Gesinnung haben und psychisch labil sein, gestern wurde er vorläufig in die Psychiatrie eingewiesen. Vor seiner Terrorfahrt propagierte er laut Staatsanwaltschaft im Internet islamische Märtyrersprüche. Nach der Tat rollte er einen Gebetsteppich aus, skandierte "Allahu Akbar" und drohte, dass "alle sterben" würden. Ein Küchenmesser hatte er auch dabei. Niemand möchte sich so einem Mann gegenübersehen, auch nicht auf der Autobahn.
Wenn von islamistischen Anschlägen die Rede ist, denken viele Menschen an das Massaker in Paris 2015 oder an die Attacke auf den Berliner Weihnachtsmarkt ein gutes Jahr später. Seither hat der Verfassungsschutz 17 weitere islamistische Anschläge in Europa gezählt – aber hierzulande haben in den vergangenen Monaten vor allem rechtsextremistische Anschläge die Schlagzeilen bestimmt, auch die linksextremistische Gewalt nahm zu. Nun ist es offenbar wieder ein Islamist, der in einer deutschen Großstadt mehrere Menschen verletzt und viele andere in Angst versetzt.
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Kommt er überraschend, kommt er aus dem Nichts? Eher nicht. Der militante Islamismus ist auch in Deutschland nach wie vor eine große Bedrohung. Obwohl die Szene seit Zerschlagung der al-Qaida und des "Islamischen Staates" weniger Unterstützung aus dem Ausland bekommt, hält sie ihre Strukturen aufrecht. Zu Beginn der Corona-Pandemie seien die Militanten wie alle Leute in den Lockdown gegangen – doch mittlerweile seien sie wieder so aktiv wie vor der Pandemie, warnt Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang. Nicht nur die fundamentalistischen Organisationen bereiten seinen Leuten Sorge, sondern auch kleine Zellen und vor allem Einzeltäter: Sie radikalisieren sich im Stillen, häufig bestärkt durch exzessiven Konsum von Propagandavideos im Internet, viele empfinden eine große Wut über die Kriege in arabischen Ländern und über die Teilnahmslosigkeit des Westens – und nicht wenige plagen auch psychische Probleme.
Auch der Attentäter von der Berliner Stadtautobahn hatte offenbar keinen klaren Geist. Das schmälert die Grausamkeit seiner Taten nicht im Geringsten. Aber es verdeutlicht, wie schwierig es für die Sicherheitsbehörden ist, solche Leute zu identifizieren und zu stoppen, bevor sie losschlagen. Wer mit deutschen Geheimdienstlern spricht, der hört immer wieder die Sorge, dass "einsame Wölfe" zu spät entdeckt werden könnten.
Freie Gesellschaften sind verwundbar, deshalb müssen auch demokratische Staaten wehrhaft sein und die Bevölkerung vor Extremisten und Gewalttätern schützen, ganz gleich, welcher Wahn diese antreibt. Dafür braucht es starke Geheimdienste wie den Verfassungsschutz im Inland und den Bundesnachrichtendienst für die Auslandsaufklärung. Aus manchen gesellschaftlichen Kreisen, bis hinauf in die SPD-Spitze und in die Linkspartei, schlägt den Diensten offenes Misstrauen entgegen. Die dubiose Rolle von Verfassungsschützern während der NSU-Terrorserie und die windige Amtszeit des Rechtsauslegers Hans-Georg Maaßen haben dazu beigetragen. Aber seit Thomas Haldenwang den Verfassungsschutz übernommen hat, weht in Köln ein anderer Wind. Verlässlich, umsichtig, staatstreu und bar jeder Eitelkeit: So erlebt man den Behördenleiter im Gespräch, so ist auch seine Arbeit geprägt. Und so verdienen er und seine Leute Unterstützung, um Gefahren von allen Bürgern abzuwehren.
WAS STEHT AN?
Wenn es voll ist, sollte man eine Nummer ziehen. Auf dem Amt, am Fahrkartenschalter – und am Mount Everest wäre es inzwischen auch ganz angebracht. Den höchsten Punkt der Erde zu erreichen, ist eigentlich ein ehrfurchtgebietendes Unterfangen, man kann es aber auch als Spaß-Event angehen. Zahlende Kundschaft drängt sich am Berg, lässt sich unter permanenter Sauerstoffbeatmung von Trägern und Sherpas zum Gipfel hinauflotsen und muss zwischendurch Schlange stehen. Absurd. Selbst Übergriffe und Morddrohungen hat es da oben schon gegeben. Berge von Müll und Ausrüstungsresten säumen den Pfad. Doch egal, wie viele Ruhmeshungrige sich auf den Gipfel quetschen, es gibt ein paar Dinge auf dem Weg nach oben, die sich mit keinem Geld der Welt hinzubuchen lassen.
Heute vor 40 Jahren war es leer auf dem Gipfel, und der Mann, der die letzten Meter hinauf nur noch gekrochen war, hatte es noch nicht geschafft. Großtaten auf den Bergen sind nicht errungen, wenn man oben steht, sondern lebend wieder unten ist. Die Leistung jenes Mannes war schlicht: Allein rauf und wieder runter. Und atmen ohne Hilfe. Was simpel klingt, ist bei Bergen dieses Kalibers selbst für Top-Athleten ein Martyrium. Mit jeder Faser sehnt sich der Körper in der extremen Höhe nach Sauerstoff. Jeder Schritt ist ein Akt der Überwindung. Bleierne Schwere und tödliche Müdigkeit lähmen die Glieder. Wuschig im Kopf kann man werden, gefährlich antriebslos, manch einer hat sich hingesetzt und ist nie mehr aufgestanden. Der Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff ist kein hinzubuchbares Feature. Und dann auch noch als erster Mensch ganz allein, nachdem man zwei Jahre zuvor noch gemeinsam mit einem Kollegen hinaufgekraxelt war? Respekt!
Es hat viele Kontroversen gegeben um Reinhold Messner, und ein ganz so kleines Ego hat er auch nicht im Gepäck, aber heute wollen wir die Streiterei in den Niederungen der gewöhnlichen Sterblichen zurücklassen. Heute wollen wir an den einsamen Erfolg vor 40 Jahren zurückdenken und einem gratulieren, der professionell, reflektiert, risikobewusst und zugleich kolossal unvernünftig gewesen ist. Der sein Leben riskiert hat, um die Grenze des Möglichen hinauszuschieben, für sich selbst und alle anderen. Ohne dass diese Grenze irgendeinen praktischen Nutzen hat. Das kann man meschugge finden – oder großartig. Falls Reinhold Messner am Everest auch mal eine Nummer ziehen muss, gönnen wir ihm die Eins.
Lange nichts von Greta Thunberg gehört. Heute wird die schwedische Klimaschutzkämpferin gemeinsam mit Aktivistinnen von "Fridays for Future" von Angela Merkel im Kanzleramt empfangen. Anschließend jettet die Kanzlerin an die französische Mittelmeerküste und trifft dort Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron. Sprechen wollen die beiden über die Krisen im Libanon und in Libyen, den Gasstreit zwischen der Türkei und Griechenland, China, den Brexit, den Kampf gegen Corona und die Details des EU-Hilfsplans. Da wird wohl fürs Klima keine Zeit bleiben.
Über Joe Biden lässt sich leicht spotten. Dem 77-Jährigen merkt man sein Alter an, in seinen Reden verliert er öfters den roten Faden. Solche Patzer darf er sich bei seiner Nominierungsrede zum Abschluss des Demokraten-Parteitags heute Abend nicht erlauben. Doch wer nur auf seine Aussetzer blickt, unterschätzt den Präsidentschaftskandidaten, meint unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold. Er beschreibt Herrn Biden als einen Mann, der die Qualitäten besitzt, um Donald Trump zu schlagen.
WAS LESEN?
Die EU erkennt das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Belarus nicht an – doch Alexander Lukaschenko ist noch weit von einem Abdanken entfernt, meint mein Kollege Patrick Diekmann. Der Diktator versuche die Krise offenbar auszusitzen und glaube: Wenn er erst einmal vereidigt sei, werde die EU irgendwann auch wieder mit ihm reden.
Wirecard fliegt aus dem Dax, dafür rückt der Lieferdienst Delivery Hero nach. Warum ist diese Firma derzeit so erfolgreich? Unser Finanzredakteur Mauritius Kloft beantwortet die wichtigsten Fragen zum deutschen Börsenaufsteiger.
WAS AMÜSIERT MICH?
Gerechtigkeit muss sein!
Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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