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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Trump-Herausforderer gekrönt Warum Biden stärker ist als viele denken
Joe Biden erntet Spott, dabei hat der 77 Jahre alte Präsidentschaftskandidat viel richtig gemacht. Derzeit hat er viele Vorteile gegenüber Donald Trump – auch wenn es eine große Unbekannte gibt.
Wenn Joe Biden in der Nacht zum Freitag die wohl wichtigste Rede seines Lebens hält, geht bei seinen Beratern wieder die Angst um. Sobald Biden an einem Mikrofon steht, fürchten sie Patzer, Versprecher und Sätze, die im Nirgendwo enden. So passiert es immer wieder. Und so kann es auch kommen, wenn er die wichtigste Rede seines Lebens hält und die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten annimmt.
Biden ist 77 Jahre alt, kurz nach der Wahl Anfang November wird er 78. Er wäre der älteste Mann, den die Amerikaner je ins Weiße Haus gewählt hätten.
Für einen Tritt in den Fettnapf ist er seit Jahrzehnten gut. Doch jetzt kommt das Alter hinzu. Selbst auf seine Anhänger wirkt er nicht mehr so fit wie noch vor einigen Jahren.
Doch wer nur auf seine Verhaspler und kleinen Aussetzer schaut, wie es viele in der Öffentlichkeit tun, unterschätzt den Kandidaten und seine Chancen, Donald Trump aus dem Weißen Haus zu verdrängen.
Biden wird in einem Moment der Stärke die Bühne betreten. Er hat die größten Vorwahlen, die seine Partei je gesehen hat, mit mehr als zwei Dutzend Kandidaten, eindeutig und clever gewonnen, obwohl ihn viele Experten schon abgeschrieben hatten. Die so zerrissene demokratische Partei steht jetzt hinter ihm. Und seit dem schweren Ausbruch der Corona-Krise und dem Protest gegen Rassismus und Polizeigewalt liegt er in den bundesweiten Umfragen deutlich vor Trump.
Die Rentner wechseln zu Biden
Deutlich mehr Amerikaner trauen es Biden zu, zur Lösung von Corona-Krise und dem Rassismusproblem beizutragen. Corona, von Trump nicht entschieden bekämpft sondern verharmlost, hat bereits mehr als 170.000 Todesopfer gefordert und mit der folgenden Wirtschaftskrise Millionen von Amerikanern in Existenzängste gestürzt. Seitdem liegt Biden auch in der Gunst der Rentner vorn, dieser wichtigen Wählergruppe, die Trump 2016 noch mit 7 Prozentpunkten gewinnen konnte.
"Joe ist nicht perfekt", sagte Michelle Obama in ihrer Parteitagsrede am Montag. Der Großteil seiner Anhänger würde wohl zustimmen, aber einen Halbsatz ergänzen: aber besser als Trump allemal. In einer aktuellen Umfrage des unparteiischen Pew Research Center gab eine gute Hälfte der Befragten ab, der wichtigste Grund für Biden zu stimmen, sei, dass er "nicht Trump" ist. Wechselwähler sind erschöpft von Chaos und Spaltung der Trump-Jahre.
Die Umfragewerte sind freilich Momentaufnahmen, sie verraten nichts über die Zukunft. Und die Frage ist, ob Joe Biden die brutalen Monate, die ihn nun erwarten, unbeschadet überstehen kann.
Wie schädlich sind Trumps brutale Angriffe?
Der drei Jahre jüngere Trump stellt seinen Konkurrenten seit Monaten als senil und nicht mehr zurechnungsfähig dar. Jetzt, zum Nominierungsparteitag der Demokraten, verschärfen seine Leute die Attacken auf Biden. (Hier sehen Sie ein Beispiel.) Sie werden ihm auch seine Fehltritte aus seiner langen Karriere in Washington um die Ohren hauen und die unbotmäßigen Geschäfte seines Sohnes Hunter, der sich seinen Nachnamen durch Posten in der Ukraine versilbern ließ. Außerdem, so das Trump-Lager, drohe mit Biden der Sozialismus.
Wie sehr die Angriffe Biden treffen werden und ihm in der Gunst der Wähler womöglich schaden, ist noch nicht abzuschätzen. Bislang haben sie ihn allerdings, ganz ähnlich vorgetragen, nicht nachhaltig beschädigt – ebenso wenig wie die Attacken in der parteiinternen Vorwahl. Selbst ein Vorwurf der sexuellen Belästigung hat ihm nicht sichtlich geschadet. Der 77-Jährige befindet sich in einer Position der Stärke, die viele Beobachter nicht für möglich gehalten hätten.
Ein Vorteil: Die Amerikaner kennen ihn nach knapp 50 Jahren in der Politik sehr gut, haben sich längst eine Meinung gebildet.
Die Schicksalsschläge prägen ihn
Biden wird nun im dritten Anlauf doch noch Präsidentschaftskandidat der Demokraten. Erstmals versuchte er das 1988, musste aber ausscheiden, nachdem herauskam, dass er Teile einer Wahlkampfrede plagiiert hatte. 2008 versuchte er es erneut, wurde aber bei der ersten Vorwahl in Iowa mit einem Prozent nur Fünfter und gab auf.
Im Alter von 65 Jahren begann er dann eine neue Karriere, als ihn der Sieger jener Vorwahlen, Barack Obama, als Vizekandidat an seine Seite holte. Obama und Biden arbeiteten acht Jahre zusammen im Weißen Haus, mal enger, mal weniger eng.
Von seiner Verbindung zu Obama profitiert Biden bis heute, etwa bei schwarzen Wählern. Auch seine persönlichen Schicksalsschläge haben Beziehungen zu Wählern geschaffen. Als er im Alter von 29 Jahren gerade in den Senat gewählt worden war, starben seine Ehefrau und seine Tochter bei einem Autounfall. Die zwei Söhne überlebten verletzt. Beau, der seinem Vater als Politiker nacheiferte, starb 2015 nach langem Kampf an einem Hirntumor. Biden hat das geprägt, er spricht oft darüber. Er kann Trost spenden, Leid der anderen anerkennen – während Trump eher über sich selbst spricht.
Interessieren Sie sich für die US-Wahl? Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt über seine Arbeit im Weißen Haus und seine Eindrücke aus den USA unter Donald Trump einen Newsletter. die dann einmal pro Woche direkt in Ihrem Postfach landet.
Im Vorwahlkampf verbog sich Biden nicht und blieb der gemäßigte Politiker, der er immer war. Er konnte Linksaußen Bernie Sanders schneller und klarer schlagen, als es viele für möglich gehalten hatten. Mit seiner Wahl von Kamala Harris als "running mate", die nun als erste Frau und erste Schwarze Vizepräsidentin werden kann, hat er seiner Kampagne eine historische Dimension verpasst. Mit anderen Worten: Biden hat im Wahlkampf viel richtig gemacht.
Jetzt hat die in den USA so heftige Corona-Krise auch den Wahlkampf auf den Kopf gestellt, selbst die Parteitage sind ins Virtuelle abgewandert. Biden verstecke sich in seinem Privathaus in der Kleinstadt Wilmington, spottet Trump, nicht ganz zu Unrecht.
Der Präsident ist ein begnadeter Wahlkämpfer, seine treuen Fans leidenschaftlicher als jene, die für Biden stimmen werden. Doch solange das Virus außer Kontrolle ist, dürfen keine Massenwahlkampfveranstaltungen stattfinden, die die Energie an Trumps Basis zeigen. Für Joe Biden ist das ein weiterer Vorteil.
- Eigene Recherchen
- Wahlumfrage des Pew Research Center