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Tagesanbruch: Fall Madeleine McCann – ein Blick in die Hölle


Meinung
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Blick in die Hölle

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 05.06.2020Lesedauer: 7 Min.
In dieser Ferienanlage im portugiesischen Praia da Luz verschwand vor 13 Jahren die dreijährige Madeleine McCann.Vergrößern des Bildes
In dieser Ferienanlage im portugiesischen Praia da Luz verschwand vor 13 Jahren die dreijährige Madeleine McCann. (Quelle: Steve Parsons/PA Wire/dpa)
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WAS WAR?

Die kleinen Hände. Sein Grübchen, wenn es lächelt. Sein Jauchzen in der Badewanne. Der verschmitzte Blick morgens beim Aufwachen. Wenn es einem mal wieder die ganze Nacht lang jeden Zentimeter im Elternbett streitig gemacht hat – wofür man ihm natürlich keine Sekunde lang böse sein kann. Sein erster zusammenhängender Satz, noch ungelenk. "Papa, ich Käse mage nein!" vielleicht oder "da Vogel groß!" Später all die kuriosen Wortverdrehungen. Der Heißhunger auf "Salanje" den man verständnisvoll lächelnd mit Lasagne stillt. Sein erstes Dreirad, auf dem es stolz übers Parkett saust. Die bedingungslose Liebe, die so ein kleiner Mensch uns schenkt und die wir so unendlich gern erwidern. Stündlich, täglich, ein Leben lang. Ein Kind zu haben ist vielleicht das Schönste, was man als Mensch auf diesem Planeten erleben kann.

Aber dann ist dieses geliebte kleine Wesen plötzlich fort. An einem lauen Abend in der schönsten Zeit des Jahres, im Urlaub. Es schläft im Ferienhaus in Sichtweite, man ist nur zum Abendessen in ein Restaurant auf demselben Grundstück gegangen. Hat das Babyphone dabei, geht zwischendurch für einen Kontrollgang hinüber. Einmal, zweimal. Später noch einmal: Und dann ist es weg, das eigene Kind, der größte Schatz auf Erden. Einfach weg. Panik. Polizei. Fahndung. Man will alles tun, um sein Kind zurückzubekommen. Man bittet Gott und die Welt um Hilfe, initiiert eine internationale Suchkampagne. Das gefällt manchen Leuten nicht, und schnell findet auch die Boulevardpresse ein neues Opfer. So gerät man selbst in Verdacht, das Kind auf dem Gewissen zu haben. Man wird verleumdet, beschimpft, bedroht, muss sich verteidigen. Und will doch die ganze Zeit nur, dass es bitte, bitte, bitte irgendwo lebend wieder auftaucht, das eigene Kind.

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Was das britische Ehepaar Kate und Gerry McCann durchgemacht hat, ist die Hölle. Als Mediennutzer haben wir alle ein mehr oder weniger diffuses Bild von diesem internationalen Kriminalfall, dem Verschwinden der dreijährigen Maddie in einer portugiesischen Ferienanlage, der Fahndung, die nun schon seit 13 Jahren läuft. Anfangs auf Hochtouren, dann im Schatten anderer Schlagzeilen, irgendwann nur noch als Randnotiz. Liest man das Minutenprotokoll der Tatnacht, das mein Kollege Lars Wienand verfasst hat, erschließt sich die ganze Tragik dieses Falls: Der Täter hatte nur ein Zeitfenster von wenigen Minuten.

Und nun plötzlich, wie aus dem Nichts, ein neuer Verdacht: Ein deutscher Schwerkrimineller könnte Madeleine McCann damals entführt und getötet haben. Noch gibt es nur Indizien, aber die Ermittler stehen offenbar unter Zeitdruck, wie unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe berichtet: Der Verdächtige könnte aus dem Gefängnis in Kiel, in dem er gerade eine Strafe verbüßt, bald freikommen, wenn die Indizien sich nicht schnell erhärten lassen. Das Bundeskriminalamt hat deshalb Informationen zu dem 43-Jährigen und Fotos aus der Umgebung des Tatorts veröffentlicht und bittet um Hinweise. Verurteilt wegen mehrerer Sexualstraftaten an Kindern, Kinderpornographie, Körperverletzung, schweren Diebstahls, Drogenhandel, Vergehen gegen das Waffengesetz, schwerer Vergewaltigung, räuberischer Erpressung, und, und, und: Man mag es sich gar nicht ausmalen, so einem Menschen in einem ungünstigen Moment zu begegnen.

Hat dieser Mann auch die kleine Maddie getötet? Bis zum Beweis des Gegenteils gilt die Unschuldsvermutung, deshalb ist es richtig, dass Medien den Namen des Verdächtigen nicht nennen und sein Gesicht nicht zeigen. Es muss ja nicht nach ihm gefahndet werden, er sitzt ja hinter Gittern. Aber das Ehepaar McCann, das seit 13 Jahren so viel Leid und Schmerz erlebt, hat ein Anrecht darauf, so schnell wie möglich Klarheit über das Schicksal seines Kindes zu bekommen. Und wir alle, ob wir nun Kinder haben oder nicht, können Mitgefühl mit ihnen und mit jedem Vater und jeder Mutter zeigen, deren Liebste plötzlich verschwunden sind. Allein in Deutschland werden jedes Jahr mehr als 60.000 Kinder und Jugendliche als vermisst gemeldet. Zum Glück tauchen sie in mehr als 99 Prozent der Fälle wohlbehalten wieder auf. Aber mehrere hundert bleiben verschwunden. Die Initiative "Vermisste Kinder" hilft bei der Suche nach ihnen. Und jeder kann diese ehrenamtliche Arbeit mit einer Spende unterstützen, um vielleicht den größten Schatz eines Vaters und einer Mutter zu retten.


WAS STEHT AN?

Ein Land als weltweite Ausnahme. Das in der Corona-Krise einen Sonderweg geht und das Virus ohne Staatsdirigismus mit leichter Hand zur Strecke bringt: So sahen viele Schweden ihre Heimat. Inzwischen ist die Gewissheit zerstoben, die Opferzahlen steigen, die Wirtschaft kriselt, und selbst Schwedens Chef-Epidemiologe gesteht Fehler ein.

Das Podest des erfolgreichen Außenseiters ist inzwischen nach Osten weitergereicht worden und wird nun in Japan aufgebaut. Dort sonnt sich die Regierung in ihrem Erfolg: Sie hat die drohende Überlastung der Krankenhäuser abgewendet, die Zahl der Corona-Toten spektakulär niedriggehalten – und alles ohne drakonische Verordnungen. Gewiss, die Schulen wurden auch dort dichtgemacht, aber von einem Lockdown kann keine Rede sein. Ausgangsbeschränkungen? Geschäfte geschlossen? Die Regierung beließ es bei Empfehlungen. Und jetzt hebt sie die Empfehlungen wieder auf. Die japanische Kunst, mit wenig so viel zu erreichen, zieht Bewunderung auf sich.

Leider ist die Geschichte ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Gewiss, es stimmt, die Regierung hat sich auf Empfehlungen verlegt – doch vor allem deshalb, weil sie zu mehr nicht das Recht hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg gestanden die amerikanischen Sieger Japans Regierenden keine üppigen Machtbefugnisse zu. Doch selbst von denen hat Premier Shinzo Abe in der Corona-Krise nur zögerlich Gebrauch gemacht. Wirtschaftsfreundlich wollte er sich geben und den mühsamen Weg aus der Dauerwirtschaftsmisere nicht gefährden. Aufgegangen ist die Rechnung nicht: Seine Popularität ist im Keller, daran konnte auch das weltgrößte Konjunkturprogramm nur kurzzeitig etwas ändern.

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Denn viele Japaner hätten sich tatsächlich einen entschiedeneren Kurs gewünscht. Um ihnen die Gefahren des Virus zu vermitteln, brauchte es keine Aufklärungskampagne. Das erledigte schon zu Beginn der Pandemie die "Diamond Princess" – das Kreuzfahrtschiff, das in Yokohama anlegte, während das Virus an Bord wütete. Die Nähe zu China und die vielen Touristen, die von dort zu japanischen Sehenswürdigkeiten pilgern, ließen den Gedanken, Japan könne der Krankheit entgehen, gar nicht erst aufkommen. So blieben Tokios Straßen still und rollten leere Züge durchs Land. Die Menschen igelten sich zu Hause ein, gerade einmal 900 sind bisher an Covid-19 gestorben – in einer Bevölkerung, die anderthalb mal so groß ist wie die deutsche. Zum Vergleich: Hierzulande sind es mehr als 8.600 Todesopfer.

Dem Kurs der japanischen Regierung ist der Erfolg nicht zu verdanken. Aber vielleicht den Fachleuten in den Gesundheitsämtern, die konsequent Orte identifizierten, an denen sich viele Menschen anstecken, und auf deren Schließung drängten. So könnte es gelungen sein, explosive Ansteckungsereignisse – das "Superspreading" – zu unterbinden. Hat Japan die Epidemie dadurch unter Kontrolle gebracht? Deutschlands Lieblingsvirologe Christian Drosten hält das für möglich. Seine japanischen Kollegen verweisen auf weitere Faktoren, zum Beispiel das allgegenwärtige Maskentragen.

Können wir also von den Japanern lernen? Wir müssen es noch abwarten. Ob wirklich so wenige Menschen an Covid-19 gestorben sind oder ob es nur an der korrekten Zuordnung der Todesursache mangelt, wird erst ein Blick auf die Gesamtzahl aller Verstorbenen zeigen. Die
trägen Mühlen der japanischen Bürokratie geben die Daten nur mit zweimonatiger Verzögerung preis. Zumindest im März blieb die Welle unerwarteter Todesfälle aus – doch nun steigen die registrierten Infektionen in Tokio wieder an. Ob Japan das Podest des erfolgreichen Außenseiters besteigen darf, muss sich erst noch erweisen. Vielleicht ist es auch bloß das neue Schweden.


Die EU-Innenminister beraten heute, wann und wie sie die Corona-Kontrollen an den Binnengrenzen der Union aufheben wollen.

Die EU-Kommission schließt ihre vierte Verhandlungsrunde mit der britischen Regierung ab: Es geht um das Handels- und Partnerschaftsabkommen für die Zeit ab 2021. Da Großbritannien immer noch tief in der Gesundheitskrise steckt, wird eine Verlängerung der gegenwärtigen Übergangsphase immer wahrscheinlicher. Der Brexit als never ending story.


WAS LESEN?

Terrence Boyds Vater ist Afroamerikaner, seine Mutter Deutsche. Im Interview mit meinem Kollegen Robert Hiersemann erklärt der ehemalige Fußballnationalspieler, warum er die Vereinigten Staaten liebt – aber hasst, was Donald Trump aus dem Land gemacht hat.


Will man verstehen, wie unversöhnlich sich Trump-Anhänger und Trump-Gegner in Amerika gegenüberstehen, kann man lange Reportagen lesen. Oder man schaut sich kurz an, wie sich ein prominenter Trump-Fan in einem Fernsehinterview gebärdet.


Wohnungseinbrüche gibt es in ganz Deutschland. Aber nicht überall ist das Risiko, Opfer eines Einbruchs zu werden, gleich groß. Wie groß die Unterschiede sind, zeigt Ihnen meine Kollegin Silke Ahrens.


Viel ist gestern über das Konjunkturprogramm der Bundesregierung gesagt, geschrieben und gefachsimpelt worden. Falls Sie es trotzdem noch genauer wissen wollen, finden Sie hier einen Überblick, wie Sie als Bürger davon profitieren, hier eine Analyse, wie Union und SPD mit dem Paket den Bundestagswahlkampf eröffnet haben, und hier die Erklärung, warum die Börsenkurse nun trotz der Corona-Krise wieder aufwärts galoppieren.


WAS AMÜSIERT MICH?

Tolle Sache, so ein Konjunkturpaket!

Ich wünsche Ihnen einen tollen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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