Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Jetzt regnet es Geld
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
29 Wochen sind es noch bis Heiligabend, doch im Berliner Regierungsviertel ist gestern Abend schon Weihnachten gefeiert worden: Es regnete Geld. Die Milliarden prasselten nur so aus dem schwarz-roten Füllhorn. Der Reihe nach.
WAS WAR?
In diesen Tagen wird mit so vielen Nullen hantiert, dass man schnell den Überblick verliert. Um 156 Milliarden Euro hat die Bundesregierung ihren Haushalt aufgestockt, um Soforthilfe für Unternehmen, Angestellte und Selbständige zu leisten, die von der Corona-Krise gebeutelt werden. Für weitere 130 Milliarden Euro Schulden soll Deutschland haften, damit die EU-Kommission den Mitgliedsländern helfen kann. Und nun wollen CDU, CSU und SPD weitere 130 Milliarden Euro ausgeben, um die deutsche Wirtschaft zu beleben. Beim Geldausgeben scheint es keine Grenzen mehr zu geben. Das mag auch daran liegen, dass die Anführer der drei Parteien sich nur einigen konnten, indem sie eine Sammelsurium-Liste mit 57 Punkten austüftelten – wie das bei großen Koalitionen eben ist: Gib du mir dies, dann gebe ich dir das.
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Das also sind die wichtigsten Bescherungen des Konjunkturpakets, das Bundeskanzlerin Merkel, Finanzminister Scholz, CSU-Chef Söder und ihre Kollegen nach 21-stündiger Verhandlung geschnürt haben:
Die Mehrwertsteuer wird vom 1. Juli bis zum 31. Dezember von 19 auf 16 Prozent gesenkt (der ermäßigte Satz von 7 auf 5 Prozent). Ein Punkt für CDU und CSU: Sie trommeln seit Jahren für Steuersenkungen, nun bekommen sie immerhin einen Nachlass auf Zeit.
Auch die Stromkosten sollen für alle Bürger und Firmen sinken: Der Bund übernimmt ab dem kommenden Jahr einen Teil der Ökostrom-Umlage. Unionspolitiker fordern das schon lange.
Familien bekommen für jedes Kind einmalig 300 Euro spendiert. Der Bonus wird mit dem Kinderfreibetrag bei der Steuererklärung verrechnet. Die SPD hatte sich die Forderung metergroß auf die Fahnen geschrieben.
Kommunen erhalten Milliardenhilfen vom Bund. Formal soll das Geld die Gewerbesteuerausfälle aufgrund der Ausgangsbeschränkungen ausgleichen, nicht Altschulden tilgen. De facto ist aber auch das ein Punkt für die SPD: Viele klamme Kommunen werden von Genossen regiert – nicht erst seit der Corona-Krise, sondern seit Jahren. Außerdem übernimmt der Bund künftig drei Viertel der Miet- und Heizkosten von Hartz-IV-Empfängern.
Unternehmen profitieren von Erleichterungen im Steuerrecht, die ihnen mehr Liquidität verschaffen. Ein Punkt für die Mittelstandsvereinigung der Union.
Kleinen und mittelständischen Firmen hilft der Staat außerdem mit Überbrückungshilfen im Volumen von 25 Milliarden Euro. Heftig gebeutelte Betriebe wie Hotels, Gaststätten, Reisebüros und Messebetriebe werden bevorzugt.
Käufer von Elektroautos dürfen sich auf höhere Prämien freuen. Dafür verzichtet die Union auf die umstrittene Abwrackprämie für Benziner und Dieselwagen. Herr Söder und Herr Weil werden sich beim nächsten Treffen mit den Bossen von BMW und VW einiges anhören müssen. Helfen wird ihr Ärger den Managern nicht: Das Ergebnis dieses Konjunkturpokers offenbart den enormen Machtverlust der Autofürsten. Sie haben die E-Zukunft verschlafen, nun geht das staatliche Füllhorn an ihnen vorbei.
Die Deutsche Bahn dagegen repräsentiert die nachhaltige Mobilität der Zukunft: Sie bekommt fünf Milliarden Euro, um die Einnahmeausfälle durch die Krise auszugleichen. Mit weiteren 150 Millionen Euro soll sie die Handy-Funklöcher entlang der Schienen stopfen. Na endlich!
Der Öffentliche Nahverkehr in Städten und Kommunen wird mit zweieinhalb Milliarden Euro gefördert.
Mobilität funktioniert künftig aber nicht ohne Wasserstoff, das haben nun auch die Großkoalitionäre verstanden: Sie kündigen eine "Wasserstoffstrategie" an und wollen Produktionsanlagen fördern.
Lange Liste, große Pläne, viele Nullen – und immer ist es Steuergeld, das da ausgeschüttet wird. Viele Bürger haben hart gearbeitet, um es zu erwirtschaften, und für den Schuldendienst werden noch viele mehr arbeiten müssen. Das sollten wir nicht vergessen. Bleibt zu hoffen, dass all die Euro wirklich helfen und nicht verpuffen, wie manches Konjunkturfeuerwerk in der Vergangenheit. "Wir versuchen, mit diesem Paket auch ein Stück Optimismus zu vermitteln", verkündete Markus Söder, dem es trotz der späten Stunde mal wieder gelang, seine Nebensitzer zu überstrahlen. Es sei "ein mutiges, aber kein tollkühnes Programm". Angela Merkel sprach von einem "Grundstein" für den Weg aus der Corona-Krise, und Olaf Scholz versprach: "Wir wollen mit Wumms aus der Krise kommen."
Klingt dynamisch, doch im internationalen Vergleich spielt Deutschland trotz der Milliardenversprechen nur im Mittelfeld der Füllhorn-Liga. Der Meister aller Klassen trumpft im fernen Osten auf, und er heißt ausnahmsweise mal nicht China: Die japanische Regierung hat schon vor zwei Monaten das größte Konjunkturpaket aller Zeiten beschlossen. Umgerechnet 916 Milliarden Euro wirft sie unters Volk, profitieren sollen vor allem Familien und kleine Firmen. Premierminister Shinzo Abe nimmt die Corona-Krise zum Anlass, endlich aus dem Vollem zu schöpfen und seine unbeliebte Regierungsmannschaft im Glanz des Geldes freundlicher erscheinen zu lassen.
Manchmal braucht es eben erst einen Anlass, um langgehegte Wünsche zu erfüllen. Auch Frau Merkels Kabinett nutzt die Gelegenheit der Krise, um Geschenke zu verteilen, die man schon längst verteilen wollte – aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Herzensanliegen der SPD stecken ebenso in dem Paket wie Gutsle der Union für ihre Mittelstandswähler, aber der größte Teil des Kuchens besteht aus vielversprechenden Impulsen, die tatsächlich ihren Zweck erfüllen könnten: Zum einen wird der Geldkreislauf schnell belebt. Wer Anschaffungen plant – sei es ein neues Sofa, ein Auto oder eine Fabrikmaschine – der kann in den kommenden Monaten richtig Geld sparen. Zum anderen beginnt Deutschland endlich die Weichen für den klimafreundlichen Verkehr zu stellen. Fahren künftige Regierungen auf dieser Schiene konsequent weiter, dann könnte dieser späte Abend des 3. Juni 2020 tatsächlich eine Zäsur markieren: als Grundstein für eine bessere Zukunft. Dass es dafür erst einer historischen Pandemie bedurfte, zeigt, wie schwerfällig dieses Land noch immer ist.
WAS STEHT AN?
Seit mehr als zwölf Wochen bieten die meisten Schulen in Deutschland nun schon keinen Regelbetrieb mehr an. Der Gesundheitsschutz ist wichtig, sicher – aber die Schäden für viele Kinder sind trotzdem groß. Verkümmernde Bildung, Vereinsamung, sozialer Stress, Depressionen, häusliche Gewalt: Es braucht endlich flächendeckend Lösungen für diese Probleme. Bekommt man als Vater oder Mutter von der Schulbehörde die generöse Ansage aufgetischt, jedes Kind solle "mindestens einmal pro Woche beschult werden", fragt man sich, auf welchem Planeten diese Herrschaften eigentlich leben. Was ist mit all den anderen Tagen, an denen Eltern zwischen Job, Videokonferenz und Haushalt auch noch die Ausbildung der Kinder übernehmen müssen, und das seit Wochen? Oma und Opa dürfen nicht helfen, zählen ja zur Risikogruppe, und mit Babysittern oder Spielkameraden ist es in Corona-Zeiten auch so eine Sache. Wieso bedenkt eines der reichsten Länder der Welt zwar unzählige Branchen mit Hilfsprogrammen, lässt Eltern aber weitgehend allein? Die akribischen Hygieneregeln in vielen Schulen (nur zwölf Kinder pro Klassenraum! Kein Körperkontakt in der Pause!) und die generalstabsmäßig ausgetüftelten Stundenplanbefehle ("Die Kinder sind zwischen 8:15 und 8:20 Uhr abzugeben und zwischen 13:40 und 13:45 Uhr abzuholen. Pünktlich!!!!") mögen jedem Virologen zur Freude gereichen – für viele Eltern sind sie eine Zumutung. Und so soll das nun monatelang weitergehen, bis irgendwann ein Impfstoff gefunden ist? Ich mag mir das nicht vorstellen, und ich verstehe jeden, den das Bildungsföderalismusunwesen auf die Palme bringt.
Wo sind pragmatische Konzepte? Warum werden nicht in jeder Stadt Büroflächen angemietet, um provisorische Klassenräume einzurichten? Warum gibt es kein bundesweites Programm, das Lehramtsstudenten stundenweise Aushilfslehrer spielen lässt? Warum kommen Unternehmen nicht auf die Idee, Übergangsunterricht für die Kinder ihrer Mitarbeiter anzubieten – oder wenigstens Bastelstunden, Vorleserunden, Spaß mit Hunden? Ja, das ist aufwändig, ja, die Vorschriften, ja, es gibt auch Ausnahmen. Aber zu wenige. Und ein einheitliches Konzept fehlt auch. Frau Giffey aus dem Familienministerium hebt gelegentlich mahnend den Zeigefinger, aber das war es dann auch schon wieder. Ich verstehe jede Mutter und jeden Vater, die nun in dem 300-Euro-Kinderbonus kein Geschenk, sondern ein Plazebo sehen: einen Versuch, die Eltern ruhigzustellen.
So, und bevor ich mich nun weiter aufrege, schaue ich mir rasch das neue Video der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim an. Sie bringt die widerstreitenden Facetten dieses vertrackten Themas eloquent auf den Punkt.
Vom Bundeskriminalamt können wir heute möglicherweise mehr Details zur spektakulären Entwicklung im Fall der vermissten Maddie McCann erwarten: Vor 13 Jahren verschwand das dreijährige Mädchen in einer Ferienanlage in Portugal, seine Eltern initiierten eine weltweite Suche. Jetzt steht ein Deutscher unter Mordverdacht.
Der Bundesgerichtshof verkündet seine Entscheidung über die Klage von Maike Kohl-Richter wegen der "Kohl-Tonbänder". Aufgezeichnet sind mehr als 600 Stunden Gespräch zwischen Helmut Kohl und dessen früherem Ghostwriter Heribert Schwan. Der Altkanzler hatte vor seinem Tod die Herausgabe der Originale erstritten. Seine Witwe will erfahren, ob Schwan noch Kopien besitzt.
Im österreichischen Parlament in Wien beginnt der Untersuchungsausschuss zur Ibiza-Affäre. Es wird eine Aussage von Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache erwartet, der sich in dem Video als rechter Lump entpuppte und von allen Ämtern zurücktrat.
WAS LESEN?
Deutschland wirkt in diesen Tagen seltsam zweigeteilt: Viele Bürger halten sich an die Corona-Regeln und befürworten den Kurs der Regierung – andere hadern damit. Was also hilft allen Bürgern geleichermaßen in dieser Situation? Unsere Kolumnistin Ulrike Scheuermann kann als Diplom-Psychologin fundierte Antworten geben.
Wenn Menschen über längere Zeit eng beieinander sind, ist eine Übertragung des Coronavirus besonders wahrscheinlich. Eine Studie des Virologen Hendrik Streeck zeigt nun, dass sich der Erreger auch im Abwasser von Toiletten, Waschbecken und Duschen nachweisen lässt. Was das für das Infektionsrisiko bedeutet, erklärt Ihnen meine Kollegin Nicole Sagener.
"Wir könnten auch mal Danke sagen", meint Christian Rach. Wie Mediziner und Politiker die Bevölkerung bisher durch die Corona-Krise geführt haben, findet der Fernsehkoch beachtlich. Wenig Verständnis hat er für Aktivisten wie seinen Kochkollegen Attila Hildmann. Welche Verantwortung gerade Gastronomen jetzt haben, hat er meiner Kollegin Janna Halbroth erklärt.
WAS AMÜSIERT MICH?
Zum 15. Juni will die Bundesregierung die weltweiten Reisewarnungen aufheben. Ein Hoch auf die Gelassenheit!
Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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