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Syrien-Krieg: Deutschland, das ist auch deine Schande!


Was heute wichtig ist
Deutschland, das ist auch deine Schande!

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.02.2020Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Dieser Junge wurde bei einem Angriff der Assad-Luftwaffe auf eine Schule in der Proviz Idlib verletzt.Vergrößern des Bildes
Dieser Junge wurde bei einem Angriff der Assad-Luftwaffe auf eine Schule in der Proviz Idlib verletzt. (Quelle: Anas Alkharboutli/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Wenn man aus der Vergangenheit eines lernen kann, dann dies: Nichtstun ist keine Option. Artilleriegranaten schlagen in Wohnzimmern ein, Kampfjets bombardieren Schulen, Menschen packen ihre Kinder in Autos oder quetschen sich auf Lastwagen, dazu die Großeltern und alles, was sonst noch irgendwie mit draufpasst. Sie suchen das Weite vor einer heranrückenden Soldateska, bei deren Ankunft nicht das Ende des Beschusses zu erwarten ist, sondern der Auftakt zu noch schlimmeren Gräueltaten. Doch sie wissen nicht, wohin sie fliehen sollen, sie sind eingekesselt. Da, wo es nicht mehr weitergeht, entstehen Großstädte aus durchweichter Zeltplane und Schlamm. Manche Familien kauern in Bauruinen und schützen sich mit Plastikplanen gegen die Nässe und die Eiseskälte. Andere bleiben irgendwo am Rand der Landstraße. Aber zwischen Hammer und Amboss, da bleibt keiner.

Verließe die gesamte Bevölkerung des Saarlands morgen ihre Häuser und drängte sich an der Grenze zu Rheinland-Pfalz zusammen, würde man Szenen ähnlichen Ausmaßes sehen wie jene, die sich jetzt gerade im Nordwesten Syriens abspielen. Es ist eine Tragödie enormen Ausmaßes. Fast eine Million Menschen versuchen, sich vor dem Krieg zu retten, und dabei sind noch längst nicht alle auf der Flucht. Eine weitere Dreiviertelmillion harrt noch in der Provinzhauptstadt Idlib aus, während die von Iran und Russland unterstützten Assad-Soldaten heranrücken.

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Gegen diese Allianz kämpft ein Sammelsurium aus Milizen, darunter viele Extremisten, unterstützt von türkischem Militär. Die Entscheidungsschlacht um das letzte größere Gebiet, das noch von Oppositionellen kontrolliert wird, ist in vollem Gange – ohne Rücksicht auf Verluste. "Ich befehle, auf dem Schlachtfeld die Kinder vor den Erwachsenen, die Frauen vor den Männern umzubringen", verkündet ein Assad-Kommandeur.

Nicht nur die Syrer, auch wir haben gelernt, dass Nichtstun keine Option ist. Zu lange gezögert, zu lange die Dinge laufen gelassen, bis der Ansturm da und außer Improvisation keine Strategie mehr möglich war: So lässt sich die Lektion des Flüchtlingskrisenjahres 2015 zusammenfassen. Der Krieg in Syrien scheint zwar manchmal weit weg, aber auf diese Illusion wollen wir nicht noch einmal hereinfallen – oder? Europa ist seiner Verantwortung auch seitdem nicht gerecht geworden, es hat Assad, Putin und die Mullahs gewähren lassen. Doch wer beim Abschlachten zusieht, macht sich mitschuldig. Gelegentliche Appelle von der Seitenlinie ändern nichts daran. Einen schlanken Fuß haben wir uns gemacht. Die demokratisch gesinnten Syrer in den belagerten Enklaven haben wir im Stich gelassen, bis ihnen nichts mehr übrig blieb, als sich jenen zu fügen, die noch Widerstand leisten: den Extremisten. Ansonsten blieb nur die Flucht: mit dem Schlauchboot übers Meer, zu Fuß über den Balkan, um Zuflucht bettelnd in Europa, das nicht nur hehre Werte aufzubieten hat – sondern in jedem Land auch mindestens eine Partei, die ihre Daseinsberechtigung daraus ableitet, dass man "die da" nicht haben will.

Die Strippenzieher hinter den Mörderbanden, Putin und Erdogan, treten gelegentlich als Busenfreunde auf, doch in Idlib stehen sich ihre Landsknechte nun als Feinde gegenüber. Die Versuche der beiden Warlords, eine Einigung zu erzwingen (und dabei möglichst selbst gut auszusehen), sind bisher gescheitert. Das bietet den europäischen Zauderern, die im Syrienkonflikt bisher jede Beteiligung gescheut und deshalb eigentlich nichts zu melden haben, jetzt doch noch eine Chance: Weil Moskau und Ankara über Kreuz liegen, wächst ihr Bedürfnis nach einem Vermittler. Anfang März möchte sich Herr Erdogan wieder mit Herrn Putin treffen, diesmal aber bitte in friedensstiftender Begleitung durch Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron. In einem exklusiven Gastbeitrag auf t-online.de appellieren heute 14 europäische Außenminister an die Konfliktparteien, dem Grauen endlich Einhalt zu gebieten.

Hilft das was? Vielleicht. Herrn Erdogan wird das Pflaster in Syrien allmählich zu heiß, deshalb könnte der Appell diesmal womöglich fruchten. Europa – auch Deutschland – hat die Chance, dem Nichtstun endlich abzuschwören. Denn Nichtstun ist eine Schande.


Viele Menschen haben kein vorteilhaftes Bild von den politischen Parteien. Links oder rechts, laut oder leise, hüh oder hott: Ist doch alles dasselbe; die Gesichter mögen wechseln, aber am Ende machen die Politiker doch eh alle das Gleiche, so lautet schnell das (Vor)urteil. Was in Einzelfällen zutreffen mag, ist aufs Ganze gesehen falsch – und die CDU liefert uns in diesen Tagen den Beweis. Bei aller Kritik an ihrer Profil-, Orientierungs- und Lustlosigkeit – eines kann man ihr nicht vorwerfen: Dass sie keine Alternativen biete. Die Partei muss sich neu aufstellen, und sie bietet nun immerhin drei verschiedene Optionen an, in welche Richtung es dabei gehen kann. Jeder der Herren, die ihre Kandidatur für den Parteivorsitz (und ihre Ambitionen aufs Kanzleramt) erklärt haben, steht für einen eigenen Stil und einen eigenen Kurs:

Friedrich Merz gibt den Anpacker, der im Alleingang erst die Partei und dann Deutschland aus der Agonie reißen will. Teamlösung? I wo! "Ich spiele hier auf Sieg und nicht auf Platz", verkündet er. Überhaupt scheint "Führung" sein Lieblingswort zu sein, wenngleich er sich ein wenig schwertut zu erklären, was genau er damit meint. Lieber flüchtet er sich ins Anekdotische und bemüht einmal mehr die Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik vor fünf Jahren: "Wenn eine Regierung die Kontrolle über den Zuzug in das eigene Land verliert, dann darf sie sich nicht darüber wundern, dass sie das Vertrauen der Menschen verliert." Überhaupt haben es ihm Grenzen angetan: Merz findet, das beste Mittel gegen den Rechtsradikalismus sei nicht die Bekämpfung des Rechtsradikalismus, sondern dass man über Grenzkontrollen und ausländische Clans spreche (hier und hier). Wer ihm vorwirft, in allzu rechten Gewässern zu fischen, den belehrt er gerne: "Es geht nicht um eine Rechtsverschiebung der Union, sondern darum, das Fundament wieder breiter zu machen und dafür zur sorgen, dass die liberalen und konservativen Wähler auch in der Union wieder eine Heimat haben."

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Merke: Wer harte Ansagen schätzt, Ellenbogenmentalität nicht für ein Laster, sondern eine Tugend hält und sich nicht daran stört, dass der künftige Kanzlerkandidat zehn Jahre lang keine politische Erfahrung gesammelt hat, für den ist Merz der Richtige. Würde man ihn mit einem Instrument vergleichen, wäre Herr Merz die Trompete.

Armin Laschet und Jens Spahn musizieren am anderen Ende des christdemokratischen Orchesters, sie wären folglich das Harmonium. Die beiden fanden bei ihrem gestrigen Auftritt großen Gefallen daran, sich als "Mini-Teamlösung" zu präsentieren (bei der Herr Laschet den Ton angibt) – und setzen auch politisch auf Ausgleich statt auf Ansagen: "Man kann gleichzeitig für Grenzschutz und für Klimaschutz sein", sagt Spahn und schiebt noch rasch den etwas vagen Wunsch nach einem "Update für die soziale Marktwirtschaft" und einen "weltoffenen Patriotismus" hinterher, der "Heimat, Familie, Tradition wertschätzt". Allzu viel Konservatismus soll es aber auch nicht sein, findet NRW-Landesvater Laschet: "Wir können und müssen unsere Partei und unser Land wieder zusammenführen." Es gehe um den "Zusammenhalt der Gesellschaft" und darum, "Ökologie und Ökonomie zu versöhnen". Die AfD zu halbieren, so wie Herr Merz es propagiere, sei zwar wünschenswert – "aber der Wettbewerb findet auch in die Mitte hinein statt."

Merke: Wer die Merkelschen Regierungsjahre zwar nicht perfekt, im Großen und Ganzen aber ganz passabel findet und sich vorstellen kann, dass es mit ein paar Korrekturen in dieser Richtung weitergehen kann, wer obendrein Wert darauf legt, dass die Interessen jeder Bevölkerungsgruppe angemessen berücksichtigt werden, für den ist der Laschet/Spahn-Doppelpack die Lösung.

Und Norbert Röttgen? Der hatte seine Kandidatur vergangene Woche als Erster erklärt und war in einer Tour d’Horizon von der Sozial- über die Klima- bis zur Syrienpolitik gehopst. Außenpolitik kann er nämlich. Deutschland müsse in der Welt mehr Verantwortung übernehmen, fordert Röttgen, damit die Probleme – Konflikte, Migration, Armut – gar nicht erst zu uns gelangen. Für die CDU will er "ökologische und klimapolitische Glaubwürdigkeit" erobern, sie als "Partei der Mitte" positionieren und hart von der AfD abgrenzen – zugleich aber die Gründe für den Erfolg des Rechtspopulismus bekämpfen: "Zu viele Menschen im Land fühlen sich im Stich gelassen." Die Politik werde zu oft von "Herausforderungen" überrascht, weshalb die Bürger verunsichert seien und Angst bekämen – und "die Angst ist das Geschäft der AfD." Sein Instrument dagegen: "reden." Das klingt volltönend und beruhigend. In unserem Kammerorchester dürfen wir Herrn Röttgen also mit der Harfe betrauen.

Merke: Wer überzeugt ist, dass die Bundesrepublik sich in der Welt stärker engagieren muss, weil sie ihre Probleme ohnehin nicht mehr alleine gewuppt bekommt, wer ferner glaubt, dass die CDU endlich ernstzunehmende Klimakonzepte braucht, der wird von Herrn Röttgen gut bedient.

So, und was haben wir jetzt: Eine Trompete, ein Harmonium und eine Harfe – klingt das schon nach was? Nein, da fehlt doch noch was… genau: die erste Geige. Wie um alles in der Welt können die vier Herren annehmen, dass man sich im Jahr 2020 zur politischen Nummer eins aufschwingen kann, wenn man gänzlich auf Frauen verzichtet? "Es kann nur einen Parteichef geben", sagt Jens Spahn. Aber wieso? Warum nicht einen Mann und eine Frau, wie es die Grünen und die SPD vormachen? "Da war in den letzten Wochen keine Frau, die gesagt hat, ich will das machen", windet sich Herr Laschet. Aber hat er denn eine gefragt? Oder mal darüber nachgedacht, warum die SPD, die Grünen, die Linken, ja, sogar die FDP starke Spitzenpolitikerinnen aufzuweisen haben, die CDU-Führungsriege aber ziemlich männlich daherkommt, wenn Frau Merkel und Frau Kramp-Karrenbauer sich absehbar zurückziehen?

So langsam scheint auch den Kandidatenherren zu dämmern, dass sie sich mit diesem Männerchor schwertun könnten, eine Bundestagswahl zu gewinnen. Also beeilte sich Herr Röttgen gestern, ein Loblied auf die Frauen zu singen und die Ernennung einer Stellvertreterin zu versprechen. Und Herr Merz verkündete, sich im Falle seiner Wahl zum Vorsitzenden "auf jeden Fall" eine (General)sekretärin zu wünschen.

Schlussakkord: Auf die Pauke hauen können sie schon, die vier CDU-Kandidaten. Aber Musik ist das noch nicht.


WAS STEHT AN?

Apropos Musik: Auch heute werden wir lautes Tätärä hören. Beim Politischen Aschermittwoch darf jeder, der sich für einen Kapellmeister hält, das schwere Blech dirigieren. So tumultig wie in den achtziger Jahren geht es aber nicht mehr zu. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich das schade finde. Dann nicke ich wieder ein.

Gestern Abend haben Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen ihre ersten Coronavirus-Fälle gemeldet. Heute beraten die EU und die Weltgesundheitsorganisation darüber, wie die wachsende Infektionsgefahr einzudämmen ist. Wie das deutsche Gesundheitssystem im Falle eines großflächigen Ausbruchs reagieren würde, erklärt der Infektiologe Stefan Moritz im Interview mit meiner Kollegin Nicole Sagener.

Das Bundesverfassungsgericht verkündet heute ein wegweisendes Urteil zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe. Bisher ist sie in Deutschland verboten, dagegen haben Schwerkranke, Ärzte und professionelle Suizidhelfer geklagt – aber auch die Mehrheit der Deutschen ist dagegen.


WAS LESEN?

Einen Tag, nachdem ein Auto in einen Rosenmontagszug gerast ist, erscheint Volkmarsen äußerlich genauso idyllisch wie zuvor. Doch der Schrecken hat in dem kleinen Ort Spuren hinterlassen, berichtet unsere Reporterin Ana Grujić.


Facebook, Twitter, Foren: Überall im Web begegnen uns Beleidigungen, Drohungen, Hetze. Wie geht die Polizei dagegen vor – und was können Bürger tun? Mein Kollege Ali Roodsari hat es sich von einem Staatsanwalt erklären lassen.


WAS AMÜSIERT MICH?

Klarer Fall: Die CDU braucht dringend einen ernstzunehmenden Kandidaten!


Ich wünsche Ihnen einen kreuzfidelen Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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