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Vor Ort in Volkmarsen: "Die Verletzten lagen hier an den Straßenrändern"


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Reportage aus Volkmarsen
"Die Verletzten lagen hier an den Straßenrändern"


Aktualisiert am 25.02.2020Lesedauer: 4 Min.
Polizisten stehen in der Nähe des Tatorts: In Volkmarsen wurden über 50 Menschen durch einen Autofahrer verletzt.Vergrößern des Bildes
Polizisten stehen in der Nähe des Tatorts: In Volkmarsen wurden über 50 Menschen durch einen Autofahrer verletzt. (Quelle: Thilo Schmuelgen/reuters)
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Einen Tag, nachdem ein Auto in einen Rosenmontagszug gerast ist, scheint Volkmarsen genauso idyllisch wie zuvor. Doch der Vorfall hat in dem kleinen Ort Spuren hinterlassen – und auch einige Helden hervorgebracht.

Volkmarsen ist die Art von Ortschaft, in die man für seine Kinder zieht. Hier gibt es Fachwerkhäuser, wie sie sonst nur in Märchen stehen. Ältere Paare genießen schon zum Mittag gemeinsam einen Eisbecher. Die Verkäuferinnen wissen, welche Pfannkuchen ein Kind am liebsten mag. Wo sollte der Nachwuchs behüteter aufwachsen als in dieser hessischen Idylle?

Seit gestern wirkt es, als sei diese Idylle nur eine Illusion gewesen. Am 24. Februar 2020 fährt ein Autofahrer in die Menge eines Rosenmontagsumzugs. Wie die Polizei heute mitteilt, verletzte er dabei 52 Menschen. Darunter sind auch 18 Kinder, das jüngste ist nur drei Jahre alt.

Wer von diesem Vorfall nichts weiß, findet Volkmarsen selbst am Tag danach noch malerisch schön. Doch dann tauchen immer wieder zwischen Backsteinbauten hellblaue Polizeiautos auf. Auch aus dem knapp 30 Kilometer entfernten Kassel sind Polizisten im kleinen Volkmarsen im Einsatz.

"Was geht in so einem Kopf vor?"

Wirken die kleinen Gruppen von Menschen an Straßenecken anfangs noch charmant und kleinstädtisch, hält auch hier die Realität schnell Einzug. Die Menschen tauschen nicht fröhlichen Tratsch aus – sondern Beobachtungen des schrecklichen Ereignisses. Da erzählt etwa Heide Schade ihren Nachbarn: "Die Verletzten lagen hier an den Straßenrändern. Sie haben unter Decken auf die Krankenwagen gewartet."

Schade wohnt in einem Wohngebiet über dem Unglücksort. "Krankenwagen, Polizei und ein Hubschrauber waren hier", sagt sie. Sie spricht schnell, gestikuliert. Dass so etwas in Volkmarsen passiert ist, hat sie sichtlich mitgenommen. "Sogar mit Maschinenpistolen sind sie vor meinem Zuhause herumgegangen."

Was Schade und ihre Nachbarn beschäftigt, ist vor allem eine Frage: "Was geht in so einem Kopf vor?" Immer wieder mutmaßen Menschen über mögliche Motive des Fahrers. Doch offizielle Informationen gibt es dazu noch keine. Fest steht, dass der mutmaßliche Täter ein 29-Jähriger ist. In einer Pressekonferenz will sich die Polizei nicht zu Motiven äußern.

"Wir haben einfach nur geholfen"

Das Gegenteil zu Schades Aufgeregtheit ist die Gefasstheit von Gunther Böttrich. Ihm gehört eine Apotheke in Volkmarsen. Als der Fahrer mit seinem Auto in den Rosenmontagsumzug fährt, sehen Böttrich und sein Team das durch die riesigen Schaufenster des Ladens. In diesem Jahr stand das Team zum ersten Mal nicht draußen bei den Feiernden.

Obwohl die Apotheke traditionell am Rosenmontag geschlossen ist, öffnet Böttrich sie nun. Als klar wird, dass es Verletzte gibt, lässt er Verbandsmaterial herausbringen, unterstützt bei der Ersten Hilfe und hilft dem Rettungsdienst, die Schwerstverletzten zuerst zu transportieren.

In eine Heldenrolle will Böttrich sich deshalb nicht drängen lassen. Während des Gesprächs bittet er, das Interview möglichst kurz zu halten. Sein Laden hat heute wieder geöffnet. "Wir haben einfach nur geholfen", sagt er, als würde das als Erklärung für seinen Einsatz nach dem Vorfall reichen. Hatte er keine Angst, dass es sich um einen Anschlag handeln könnte? "Nein", antwortet er knapp. Obwohl er am Vortag Dutzende, zum Teil schwerst verletzte Menschen gesehen und ihnen geholfen hat, steht er heute ruhig und ernst in seinem Laden. Er wirkt, als wäre ihm die Aufmerksamkeit am Tag nach dem Vorfall unangenehm.

Erst Augenblicke später setzt das Schreien und Weinen ein

Ein weiterer Helfer, der nicht ins Rampenlicht möchte, ist Christoph Stockdreher. Der Feuerwehrmann nimmt am Montag mit seiner kleinen Tochter am Karnevalsumzug teil – sie sind zehn Meter von dem Auto entfernt, als dieses in die Menge fährt. "Dabei wollten wir eigentlich auch auf die andere Straßenseite", sagt Stockdreher. "Da standen unsere Freunde und Verwandte." Eine davon wird durch das Auto so schwer verletzt, dass sie mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht werden muss.

Durch einen Bus kann Stockdreher den Aufprall nicht sehen – aber hören. "Zuerst hörte ich es scheppern und knallen", sagt er. "Doch dann: nichts. Es war kurz ganz, ganz ruhig." Erst ein paar Augenblicke später setzt das Schreien und Weinen der Verletzten ein. Als er freie Sicht hat, sieht Stockdreher das Ausmaß der Zerstörung. "Überall war Blut, vieles war kaputt und es lagen zerbrochene Flaschen herum."

Wie Apotheker Böttrich hilft auch der Feuerwehrmann bei der Erstversorgung. Seine Tochter lässt er bei Bekannten, um ihr den Anblick zu ersparen. Doch das Kind scheint dennoch zu spüren, dass etwas passiert ist. "Sie hat jetzt Angst und schläft schlecht", sagt er. Eine Klassenkameradin des Mädchens ist bei dem Vorfall verletzt worden. Das Auto hat sie rund 20 Meter mitgeschleift und Verletzungen an Extremitäten zugefügt.

Auch Stockdreher schildert seine Beobachtungen nicht, um sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Er will sich genauso wenig fotografieren lassen, wie er in einem Video erzählen möchte. "Das muss nicht sein", sagt er und eilt weiter.

Der Vorfall vom Rosenmontag hat vielen Menschen in Volkmarsen gezeigt, dass selbst in malerischen Orten schreckliche Dinge passieren. Menschen wie der Apotheker Böttrich und Feuerwehrmann Stockdreher beweisen aber auch, dass es jemanden in dieser kleinen Stadt gibt, der selbst in schlimmstem Chaos ohne zu zögern hilft. Vielleicht ist diese Hilfsbereitschaft am Ende wichtiger als die Illusion einer perfekten Welt.

Verwendete Quellen
  • Recherchen und Gespräche vor Ort
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