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Tagesanbruch: Liliana Segre – Zeugen des Holocaust verdienen unsere Solidarität!


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Was heute wichtig ist
Liebe Frau Segre, Sie verdienen unsere Hochachtung!

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 08.11.2019Lesedauer: 7 Min.
Liliana Segre bei einer Diskussion in Mailand.Vergrößern des Bildes
Liliana Segre bei einer Diskussion in Mailand. (Quelle: imago images)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

"Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der Nato": Nie zuvor in der 70-jährigen Geschichte der Allianz hat einer ihrer vernunftbegabten Staatschefs ein so vernichtendes Urteil gefällt wie Emmanuel Macron. Die Abrechnung des französischen Präsidenten mit dem Militärbündnis im britischen "Economist" sollte zur Pflichtlektüre für jeden Außenpolitiker gereichen. Sieben Jahrzehnte lang hat die transatlantische Organisation die Sicherheit Westeuropas garantiert und Konflikte wie jenen zwischen Griechenland und der Türkei entschärft. Sie hat sich in Abenteuer wie den Libyen-Krieg gestürzt, durch die Osterweiterung russische Gegenaggressionen provoziert und in Afghanistan die Grenzen ihrer Macht erfahren.

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Nun steht die Nato am Abgrund der Bedeutungslosigkeit. Welch enormen Autoritätsverlust sie erlitten hat, lässt sich schon durch ein einfaches Gedankenspiel verdeutlichen: Würden morgen russische Soldaten in Polen, im Baltikum oder gar in Ostdeutschland einfallen (was weniger absurd ist, als es klingen mag) – was würden die USA tun, die Russland als einziges Nato-Land militärisch übertrumpfen? Würde Präsident Trump, der die Nato schon mehrfach zur Hölle gewünscht hat, den Bündnispartnern beispringen, würde er Truppen, Kampfjets, Flugzeugträger schicken? Stellt man diese Frage deutschen Geheimdienstlern, bekommt man sorgenvolle Zweifel zur Antwort: Nein, darauf kann man nicht mehr uneingeschränkt vertrauen.

Nun ist es das eine, dass selbstverständlich niemand einer militärischen Auseinandersetzung auf europäischem Boden das Wort reden will, sie wäre voraussichtlich verheerend. Atomare, aber auch konventionelle Abrüstungsinitiativen sind nötiger denn je. Das andere ist die Erkenntnis, dass die Balance aus Abschreckung und Kooperation, von der Deutschland nur durch die Nato profitieren kann, die Grundlage für unsere Unversehrtheit, unseren Wohlstand, unsere liberale und tolerante Demokratie bildet. Deshalb muss Macrons Alarmruf zugleich ein Weckruf für die Nato-Diplomaten in Brüssel, aber auch die Regierungschefs und Verteidigungsminister in den Mitgliedsländern sein. Deshalb (und weil von der Kanzlerin diesbezüglich nichts mehr zu erwarten ist), ist der Impuls, den Annegret Kramp-Karrenbauer gestern in ihrer Grundsatzrede gesetzt hat, so wichtig. Selbst wer ihr nicht in allen Punkten zustimmt, wird kaum leugnen können, dass die Verteidigungsministerin drängende Fragen gestellt und diskutable Lösungsvorschläge gemacht hat.

"Ein Land unserer Größe und unserer wirtschaftlichen und technologischen Kraft, ein Land unserer geostrategischen Lage und mit unseren globalen Interessen, das kann nicht einfach nur am Rande stehen und zuschauen", sagt die CDU-Chefin. Deutschland müsse den Mut haben, die "Rolle der Gestaltungsmacht anzunehmen". Deutschland habe auch eine "besondere Verpflichtung", sich für die internationale Ordnung einzusetzen und diese zu schützen. "Wir sind die Handelsnation, die von internationaler Verlässlichkeit lebt." Als ein Land "in der Mitte Europas" lebe Deutschland "von sicheren Grenzen und gleichzeitig kraftvollem Miteinander".

"Das gibt es nicht zum Nulltarif", betont Kramp-Karrenbauer. Bislang hätten "andere den Großteil der dafür erforderlichen Energie aufgebracht, allen voran die USA". Dort würden aber "der Wille und vielleicht auch die Kraft" schwinden, überproportionale Beiträge zu leisten. Deshalb sei Deutschland stärker gefordert. Deshalb müsse der deutsche Verteidigungshaushalt spätestens 2031 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht werden. Ein Nationaler Sicherheitsrat solle Diplomatie, Militär, Wirtschaft, Handel, Innere Sicherheit und Entwicklungszusammenarbeit koordinieren. Das Gremium könne "unsere Beiträge zur internationalen Krisenbewältigung schneller und effektiver zur Wirkung bringen".

Wohlgemerkt: Annegret Kramp-Karrenbauer verlangt nicht, dass Deutschland aggressiv, kettenrasselnd oder gar als Kriegstreiber auftreten soll. Sie fordert, dass unser Land mehr für seine Sicherheitsinteressen tut. Bürgerkriege im Nahen Osten, Terrorgruppen in Nordafrika oder Hungerkrisen in Zentralafrika destabilisieren auch Europa und Deutschland – durch Anschläge, Flüchtlingsströme, diplomatische Krisen. Auch die russische Aufrüstung ist brisant. Die Antwort darauf kann nicht Achselzucken sein. Sie muss in einer klugen Kombination aus Krisendiplomatie, humanitärer Hilfe, Abrüstungsverhandlungen, aber eben auch militärischer Sicherung bestehen. Das hört hierzulande nicht jeder gerne, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass wir uns auf den Schutz der Amerikaner verlassen können. Können wir aber nicht mehr.


WAS STEHT AN?

Nun feiern wir also wieder einmal den Mauerfall. 30 Jahre, ein rundes Jubiläum, große Party. Aber wer empfindet heute noch die Euphorie der damaligen Tage? Ich saß am Abend des 9. November 1989 in der Küche vor dem Fernseher, traute meinen Augen nicht, wollte sofort nach Berlin. In den folgenden Wochen und Monaten hatte ich das Gefühl: Wir hier in Deutschland, wir schreiben Weltgeschichte, jetzt können wir alles bewegen, jetzt schaffen wir etwas richtig Großes! Dann kam irgendwann der Alltag zurück, Neonazi-Anschläge erschütterten die Republik, immer öfter war von Frust und Enttäuschung die Rede, die Euphorie wich dem Kater. Vielen Menschen ging es so, hier wie dort.

"Zu hohe Erwartungen, zu tiefe Enttäuschungen": So nennt der Historiker Andreas Rödder, was seiner Meinung nach bei der deutschen Wiedervereinigung falsch lief. Dabei sind die wirtschaftlichen Faktoren nur eine Seite der Medaille, erklärt er im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke und mir. Der Westen habe weder Verständnis noch Empathie für die Ostdeutschen aufgebracht, die den wirtschaftlichen Niedergang und die Entwertung ihres Lebensweges verkraften mussten. Rödder, der sich ausdrücklich zum Konservatismus bekennt, analysiert aber auch, warum 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs keineswegs weltweit Demokratie, Frieden und Wohlstand herrschen, wie es noch in den Neunzigerjahren erwartet worden war. Deshalb fordert er: Europa muss jetzt seinen Lebensstil verteidigen!


Die Euphorie über die Freiheit, vielleicht kann man sich leichter in sie zurückversetzen, wenn man sich an den Ort der Unfreiheit begibt. Der Stasi-Knast in Berlin-Hohenschönhausen zählte zu den schrecklichsten Gefängnissen der DDR-Diktatur. Vor einigen Tagen habe ich mich von den kompetenten Mitarbeitern der Gedenkstätte durch die Verliese führen lassen. Habe mir zeigen lassen, wo die Häftlinge isoliert, verhört, eingeschüchtert, gequält wurden – meist nur deshalb, weil ihre politische Meinung nicht genehm war. Habe mir berichten lassen, dass die meisten der damaligen Wärter bis heute keinerlei Unrechtsbewusstsein zeigen. Als ich wieder herauskam, dachte ich: Jeder Bundesbürger sollte sich das einmal ansehen. Und jeder sollte den Satz des Gedenkstätten-Direktors Helge Heidemeyer ernst nehmen: "Wenn wir in Europa sehen, dass sich manche Länder zu autoritären Systemen entwickeln, dann ist dieser Ort hier ein Aufschrei. Er zeigt, wo so etwas enden kann."

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So, und jetzt wollen Sie endlich wissen, wer die Frau auf dem Foto ganz oben im heutigen Tagesanbruch ist. Liliana Segre heißt sie. Die Italienerin wurde als dreizehnjähriges Mädchen nach Auschwitz deportiert und dort von ihrem Vater getrennt, der am nächsten Tag ermordet wurde. Fast ein Jahr lang überlebte sie allein in dem Vernichtungslager. Als die Rote Armee näher rückte, trieben Nazi-Schergen sie auf Todesmärschen in andere Konzentrationslager. Im Mai 1945 hatte die Tortur endlich ein Ende. Nur ihre Großeltern mütterlicherseits lebten noch, der Rest der Familie war ausgelöscht. Heute ist sie 89 Jahre alt. Und sie erhält 200 Nachrichten voller Drohungen und antisemitischem Hass. Pro Tag.

Sie bekommt diese Nachrichten, weil sie nicht geschwiegen hat. In den Neunzigerjahren begann sie, öffentlich über ihre Vergangenheit und den Holocaust zu sprechen. Sie geht in Schulen. Sie spricht an Universitäten, in Theatern, erzählt ihre Geschichte in Interviews und vor der Kamera. Für ihr Engagement wurde sie im vergangenen Jahr vom italienischen Präsidenten zur Senatorin auf Lebenszeit ernannt. Ihre erste Initiative: eine Kommission einzusetzen, die Rassismus, Judenhass und Aufrufen zur Gewalt entgegentritt. Eine Kommission gegen Hass, dagegen kann doch niemand etwas haben? Schön wär’s. Jetzt steht Frau Segre unter Polizeischutz.

Aus dieser bitteren Geschichte ergeben sich ein paar unbequeme Erkenntnisse. Fakt ist: Es gibt Menschen, die eine alte Dame, eine Holocaust-Überlebende, mit Drohungen und verbalem Terror überziehen, weil sie sich gegen Hass und Gewalt ausspricht. Niemand, der das tut, handelt aus der Überzeugung heraus, sich für eine anständige oder gerechte Sache einzusetzen. Wer das tut, folgt nur einem Gefühl: für die eigene Verbitterung ein Ventil zu suchen. Im Kleinen kennen das vielleicht einige von uns: den auflodernden Zorn über eine Verletzung; einen spontanen Rachegedanken; das mächtige, wenn auch seltsam leere Gefühl, mal so richtig auf den Tisch gehauen zu haben. Das kann zur Lebenshaltung werden. Zu einer Gefühlskälte, die keine Moral mehr kennt. Oder sich nicht darum schert. Nennen wir es böse.

Liliana Segre setzt sich dafür ein, dass das Böse nicht akzeptabel und zum Mainstream wird. Sie hat es herausgefordert, nun schlägt es zurück. Wir wissen, was geschieht, wenn diejenigen die Oberhand gewinnen, die Fairness und Gerechtigkeit aus ihrem Denken verbannt haben und ihrem Hass freien Lauf lassen. Morgen erinnern wir uns an einen Tag, an dem die Bahn frei für sie war: die Reichspogromnacht, als die Synagogen brannten, als unsere Vorfahren die Wohnungen und Läden ihrer Nachbarn in Schutt und Asche legten, nur weil diese zum Gott des Alten Testaments beteten statt zu dem des Neuen. Etwa 1.500 Menschen waren am nächsten Morgen tot.

Heute müssen wir die alte Dame in Italien um Vergebung bitten, denn von der Nacht der brennenden Synagogen bis zur Vernichtung ihrer Familie führte ein gerader, deutscher Weg. Aber nicht nur das: Liliana Segre verdient unsere Hochachtung. Denn anstatt sich zur Ruhe zu setzen, erhebt sie ihre Stimme. Sie überlässt dem Bösen nicht das Feld. Nichts ist wichtiger als das. Ob Hass in Ordnung geht oder nicht, das ist eine Mehrheitsentscheidung.


WAS LESEN?

Im Sommer wurde der kriminelle Clan-Chef Ibrahim Miri aus Deutschland in den Libanon abgeschoben. Jetzt ist er zurück und bittet um Asyl. Der Staat dürfe sich nicht so auf der Nase herumtanzen lassen, schreibt unsere Kolumnistin Lamya Kaddor.


Die Landtagswahl in Thüringen ist knapp zwei Wochen her – seit gestern ist klar: Die FDP hat es nach fünf Jahren Pause knapp in den Landtag geschafft. Trotzdem bleibt die Regierungsbildung kompliziert, analysiert mein Kollege Johannes Bebermeier: Es gibt nur eine realistische Option, und selbst die ist nicht verlockend.


WAS AMÜSIERT MICH?

Sinnvolle Ideen hat AKK da formuliert – aber funktionieren sie auch?


Ich wünsche Ihnen einen mutigen Tag. Morgen gibt es keinen Wochenend-Podcast, dafür wird Sie der Tagesanbruch in der kommenden Woche von einem außergewöhnlichen Ort erreichen. Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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