Im Stich gelassen Die Zukunft der syrischen Kurden ist ungewiss
Lange Zeit sah es so aus, als wäre die Kurdenmiliz YPG einer der Gewinner des syrischen Bürgerkriegs. Doch von den USA im Stich gelassen, könnte sie nun ihr gesamtes Herrschaftsgebiet verlieren.
Um die aussichtslose Situation der syrischen Kurden zu verstehen, reicht ein Blick nach Genf: Dort nimmt am Mittwoch der syrische Verfassungsausschuss seine Arbeit auf, der den Weg zu einer politischen Lösung für das Bürgerkriegsland ebnen soll. Ein Vertreter der kurdischen Partei PYD, politischer Arm der Miliz YPG, aber wird nicht am Tisch sitzen. Die einflussreichste politische Kraft der Kurden im Norden Syriens bleibt bei dem Termin außen vor.
In den bald neun Jahren des Bürgerkriegs haben die Kurden viele Höhen und Tiefen erlebt. Vor allem die vergangenen Wochen gehörten für sie zu den schwersten des Konflikts. Auf der internationalen Bühne fehlt ihnen ein starker Partner. Ihre bisherigen Verbündeten, die USA, haben die YPG deren syrischen Verbündete im Kampf gegen die türkische Armee im Stich gelassen. Nun stehen die kurdischen Kräfte auch militärisch auf verlorenem Posten.
Die YPG soll bis Dienstag einen rund 30 Kilometer tiefen Streifen an der Grenze zur Türkei verlassen – und damit kampflos ein wichtiges Gebiet aufgeben, das sie im Zuge des Krieges eingenommen hatte. So sieht es zumindest ein Abkommen vor, dass die Türkei und Russland ausgehandelt haben.
Den Kurden gelang es, den IS zu vertreiben
Dabei sah es lange so aus, als könnten die Kurden zu den Gewinnern dieses blutigen Konflikts zählen. Ende 2014 rückte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in die kurdische Grenzstadt Kobane vor. Die Kämpfe fanden international große Aufmerksamkeit, weil Kameras die Schlacht von einem Hügel in der benachbarten Türkei filmten. Kobanes Fall schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Dass die Kurden den Ort halten und den IS vertreiben konnten, galt als Heldentat.
Die USA erkoren die YPG sogar zu ihrem wichtigsten Verbündeten in Syrien. An der Spitze der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) nahm die Miliz Quadratkilometer für Quadratkilometer des IS-Herrschaftsgebietes ein und eroberte in diesem April auch die letzte Hochburg der Extremisten. Fast ein Drittel des Landes war damit unter kurdischer Kontrolle, darunter auch die Gebiete mit den wichtigsten Ölquellen im Osten des Landes.
Auch politisch schufen die Kurden in ihrem Territorium Fakten und errichteten dort unter Führung der PYD eine autonome Selbstverwaltung mit mehreren Kantonen. Die Regierung, von der sich viele Kurden immer diskriminiert gefühlt hatten, besaß dort kaum noch Einfluss. Ein historischer Moment sei das gewesen, sagt der Deutschland-Vertreter der Selbstverwaltung, Ibrahim Murad. Er bestreitet zugleich, dass die Kurden sich eines Tages vom Rest Syriens abspalten wollen: "Das Ziel ist ein dezentralisiertes Syrien, nicht ein unabhängiger Staat."
Kaum waren die USA abgezogen, marschierte die Türkei ein
Doch genau dieses Szenario rief nicht zuletzt die Türkei auf den Plan, die einen eigenen Kurden-Staat verhindern will, vor allem einen unter militärischer Führung der YPG. Ankara sieht in der Miliz einen syrischen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan drohte lange mit einem Einmarsch.
Anfang Oktober gab er seinen Truppen schließlich den Einsatzbefehl, nachdem die USA zuvor ihre Soldaten abgezogen hatten. Unter den Kurden ging danach ein Wort um: "Verrat" – das werfen sie US-Präsident Donald Trump vor. Die US-Soldaten wurden bei ihrem Abzug mit Kartoffeln beworfen.
"Die Lage ist prekär"
Militärisch haben die Kurden der Türkei ohne starken Partner nichts entgegenzusetzen. Ankaras Einmarsch hat zudem eine humanitäre Krise ausgelöst. Zehntausende Menschen flohen vor der Gewalt. Es herrsche ein akuter Mangel an Medikamenten und Nahrung, berichtet der deutsche Arzt Michael Wilk, der in den von Kurden kontrollierten Gebieten als Mediziner im Einsatz ist: "Der Kurdische Rote Halbmond hat den internen Notstand ausgerufen, weil er an der Grenze der Belastbarkeit ist", sagt er, "die Lage ist prekär."
Die Zukunft der Kurden ist einmal mehr in der Geschichte der ethnischen Minderheit ungewiss. Mangels Alternativen kooperiert die YPG militärisch wieder mit dem Regime und ließ Truppen der Regierung von Machthaber Baschar al-Assad in ihre Gebiete vorrücken, quasi als Schutz gegen die türkische Armee. Doch das ist ein reines Interessenbündnis aus der Not. Assad selbst will ganz Syrien wieder unter seine Kontrolle bringen und dürfte auch vor einem Feldzug gegen die YPG nicht zurückschrecken, sollte sich ihm die Chance bieten. Am Ende könnte die Miliz ihr gesamtes Territorium wieder verlieren.
In Genf soll eine neue Verfassung für Syrien entstehen
Weil ihr und ihrem politischen Arm auf diplomatischer Ebene ein starker Partner fehlt, werden sie auch am Verfassungsausschuss in Genf nicht beteiligt sein. Aus diplomatischen Kreisen heißt es, die Türkei habe gegen deren Vertreter ein Veto eingelegt. Der Ausschuss, der unter dem Dach der UN tagt, soll eine neue Verfassung für die Bürgerkriegsland ausarbeiten und so den Weg zu einer politischen Lösung ebnen.
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Kritiker bemängeln, ohne Beteiligung der einflussreichsten kurdischen Organisationen sei das aussichtslos. Und auch Deutschland-Gesandter Ibrahim Murad warnt: "Ohne einen Vertreter der Selbstverwaltung wird der Ausschuss nicht erfolgreich sein."
- Nachrichtenagentur dpa