Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Die Falle schnappt zu
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
und ganz herzlichen Dank für Ihre Treue, Ihre Anregungen, Ihr Lob und Ihre Kritik. Heute feiert der Tagesanbruch seinen zweiten Geburtstag, und seit die erste Ausgabe erschienen ist, hat sich das Format beständig weiterentwickelt. Das verdanken wir vor allem Ihren vielen Rückmeldungen. Wenn Sie Wünsche oder Ideen für den Tagesanbruch haben, lassen Sie es uns gerne wissen.
Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Gelegentlich kommt in der Politik auch die Tierwelt zu Ehren. Der Pferdefuß zum Beispiel, für den gibt es öfter Verwendung. Tony Blair, der ehemalige britische Premierminister, hat am Montag das Großwild auf die Bühne gezerrt und vor einer elephant trap, einer "Elefantenfalle", gewarnt. Gemeint hat er ein riesengroßes Loch, in das nur plumpst, wer nicht mehr so ganz bei sich ist. Gegraben hat es Boris Johnson, reinfallen sollen die europafreundlichen Parlamentarier im britischen Unterhaus. Die Falle hat auch einen offiziellen Namen: Neuwahlen.
Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, dass Brexit-Boris sein Amt als Premier zur Disposition stellen will, noch bevor er sich auf dem Chefsessel so richtig warmgesessen hat. Doch schon heute könnte es so weit sein. Johnsons Regierung hat gestern im Parlament ihre hauchdünne Mehrheit verloren, weil einer der Abgeordneten seinen Sitz nun lieber auf der Oppositionsbank einnimmt. Er ging durch den Saal und wechselte vor aller Augen die Seite, während Johnson dort sprach. Und das war erst der Auftakt.
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Abends kam es dann knüppeldick: Ein Block von 21 "Rebellen" in der Regierungspartei, darunter ehemalige Minister, machten gemeinsam mit der Opposition den Weg für eine Abstimmung frei, mit der das Unterhaus die Brexit-Pläne Johnsons und seiner Mitstreiter noch heute durchkreuzen kann. Das Parlament wird darüber entscheiden, ob es den Premier zum Bittgang nach Brüssel verdonnert, damit er dort eine weitere Verlängerung der Verhandlungen erwirkt. Der "Brexit ohne Wenn und Aber" am 31. Oktober, den Johnson zu seinem Markenzeichen gemacht hat? Erledigt. Vom Tisch. Aus die Maus.
Aber der Premier macht nicht mit. "Ich will, dass jeder weiß: Es gibt keine Umstände, unter denen ich" – und es war ein sehr nachdrückliches "ich", das seinem Mund entwich – "Brüssel um eine Verzögerung bitte." Stattdessen sollen Parlamentswahlen vielleicht schon am 14. Oktober, in jedem Fall vor Ablauf der geheiligten Deadline am Monatsende, für Klarheit sorgen – so plant es Downing Street. Nanu? Wie will er das gewinnen? Eine Mehrheit für den Brexit ist doch längst nicht mehr sicher, und eine für den kompromisslosen Hardliner Boris Johnson erst recht nicht? Gewiss. Aber.
Die Elefantenfalle schnappt jetzt zu. Im britischen Wahlsystem werden nicht die Parteienprozente ausgetüftelt wie bei uns, wenn es das Parlament zu besetzen gilt. "First past the post": Wer als erster über die Ziellinie geht, also die meisten Stimmen bekommt, gewinnt seinen Wahlkreis – so geht das auf der Insel. Da können die Kandidaten einer Partei auch mit 25 Prozent der Stimmen oder noch weniger Sitz um Sitz abräumen, solange es mehr ist als bei den Konkurrenten.
Ein solcher Konkurrent dürfte der geschundenen Labour-Partei angehören, deren Spitzenmann Jeremy Corbyn an der Wahlurne eine ähnliche Wirkung entfaltet wie die Vogelscheuche auf dem Feld. Oder es ist einer von den Liberal Democrats, die ebenfalls in der Opposition und ebenfalls gegen den harten Brexit sind, sich den Kuchen an der Wahlurne aber mit Labour teilen müssen. Es braucht nicht viel, um gegen so eine Opposition zu gewinnen, jedenfalls keine Mehrheit in der Bevölkerung. Da reichen schon ein paar markige Sprüche, klare Ansagen und ein Schwung fragwürdiger Versprechungen. Boris Johnson kann schnellen Neuwahlen gelassen entgegensehen. Und die dicke Haut vom Elefanten, die hat er auch.
WAS STEHT AN?
Erst hast du kein Glück, und dann kommt auch noch Pech dazu: Suchte die SPD nach einem neuen Slogan, dieser wäre ein heißer Kandidat. Die Genossen haben in den vergangenen Jahren viel falsch gemacht. Gesellschaftliche Entwicklungen verbummelt, programmatischer Leerlauf, kafkaeske Organisationsstrukturen, ewige Hahnenkämpfe, ungeschickte Kommunikation, die Liste ließe sich fortsetzen. Doch was man den Genossen nicht vorwerfen kann, ist mangelnder Kampfgeist. Sie mögen weniger und schwächer werden, aber die Verbliebenen stecken den Kopf keinesfalls in den Sand. Sie beweisen Galgenhumor wie der sächsische Landeschef Martin Dulig, der angesichts des schlechtesten SPD-Landtagswahlergebnisses aller Zeiten vom "coolsten Landesverband" witzelte. Sie gehen im Bierzelt in den verbalen Nahkampf, wie Juso-Chef Kevin Kühnert auf dem Gillamoos. Und sie preisen zum Auftakt des Vorstellungsmarathons ihrer Kandidaten für den Parteivorsitz die lebendige innerparteiliche Demokratie: Heute Abend geht es in Saarbrücken los, in den kommenden Wochen folgen weitere 22 (zweiundzwanzig!) Regionalkonferenzen. Wenn die Genossen Demokratie machen, dann richtig.
In jedem x-beliebigen Medium kann man unterdes wortreiche Leitartikel finden, die sich über den Zustand der SPD mokieren. Viele Sozialdemokraten beobachten mit Bestürzung, wie ihre Funktionäre nicht nur von einem Fettnäpfchen ins nächste treten, sondern auch, wie ihre Partei niedergeschrieben wird. Miserable Urteile sind nicht ungerecht, wenn die Lage miserabel ist. Aber wo es Schatten gibt, gibt es immer auch Licht. Erinnern wir also heute Morgen an drei politische Vorhaben, die die SPD in dieser Legislaturperiode bereits erfolgreich durchgesetzt hat: die verschärfte Mietpreisbremse (mehr dazu hier undhier), das Gute-Kita-Gesetz (mehr dazu hier), und das Starke-Familien-Gesetz (mehr dazu hier und hier).
Ja, an diesen Gesetzen gibt es auch Kritik: zu kleinkariert, zu bürokratisch, alberne Namen. Alles in allem können sie sich für den Juniorpartner in einer Regierungskoalition aber durchaus sehen lassen, zumal weitere Erfolge hinzukommen. Nur an der Kommunikation, an der hapert es tatsächlich. Googelt man zum Beispiel einfach mal den Begriff "SPD Erfolge", landet man als erstes auf einer Seite der Partei. Die hat zwar einen schmissigen Titel, wirkt allerdings so, als sei sie schon seit Jahren nicht mehr aktualisiert worden. Die neuen Chefs werden viel zu tun haben.
Heute beginnt am Landgericht Bonn der erste Strafprozess zu den Cum-Ex-Deals. Dank raffinierter Tricks ließen sich Aktionäre jahrelang Steuern rückerstatten, die sie nie gezahlt hatten. Der Schaden liegt bei mindestens 55 Milliarden Euro. Meine Kollegin Sabrina Manthey erklärt Ihnen hier, wie der Beutezug durch ganz Europa funktionierte.
DIE GUTE NACHRICHT
Wenn Sie wie ich ein Nachtarbeiter sind, dann kennen Sie das: Plötzlich steigt aus der Mitte des Leibes ein sehnsüchtiges Gefühl auf, das größer und größer wird. Der Duden schlägt uns dafür die Worte Heißhunger oder Kohldampf vor, aber die sind zu klein für dieses große Gefühl. Es treibt uns hinaus auf die Straße und zum nächsten Imbiss, wo wir uns mit gesegnetem Appetit über ein geschnittenes, von einer Kelle Soße gekröntes und dick mit Curry bestäubtes Etwas hermachen. Es geht doch nichts über eine gute Currywurst. Heute vor 70 Jahren ist die rustikale Delikatesse von der Berlinerin Herta Heuwer erfunden worden. Gepriesen sei ihr Name! Trotzdem wird uns die beste Currywurst heute andernorts serviert. In Stuttgart nämlich, genauer gesagt beim Brunnenwirt im Leonhardsviertel. Falls Sie das noch nicht wussten, wissen Sie es jetzt. Falls Sie es aus unerklärlichen Gründen anders sehen, können Sie ja im Forum unter diesem Artikel Ihren Senf dazugeben.
WAS LESEN?
Viel wurde darüber geschrieben, wie die AfD in Ostdeutschland erstarken konnte, die Rede war von unterbrochenen Biografien, Enttäuschung in der Nachwendezeit und der heutigen Lebenswirklichkeit vieler Menschen im Osten. Ein anderer, möglicherweise noch wichtigerer Grund wurde kaum beachtet: In Ostdeutschland gibt es zu wenige Frauen. Das hat Auswirkungen auf die Zufriedenheit der Männer – und das wiederum hatte direkte Folgen für die Landtagswahlen, schreibt unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld.
WAS SAGEN DIE LESER?
Der gestrige Tagesanbruch befasste sich mit den Demonstrationen in Hongkong. Dazu schreibt Leserin Christine Havemann aus Hamburg: "Ich ziehe den Hut vor dem Mut und der Ausdauer der Demonstranten in Hongkong. Sie müssen verzweifelt genug sein, Gewalt als letzten Ausweg zu sehen. Und das Schlimme ist: Die Welt schaut weg! Solange sich in der Stadt Geld machen ließ, waren sie alle da. Jetzt ist China der lukrativere Ort, Hongkong wird offensichtlich immer weniger gebraucht, um Profit zu machen, und einfach fallengelassen. Große Konzerne katzbuckeln vor Peking, weil sie in China wichtige Geschäfte verlieren würden. Geht es nur noch um Geld? Wo bleiben die Menschen? Wo bleibt das Eintreten für die Demokratie? Wo sind die Politiker, die mit genügend Willen China Einhalt gebieten? In Hongkong geht es um viel mehr als nur um die Übernahme durch die Chinesen, es geht letztendlich um die Demokratie in der Welt an sich."
WAS AMÜSIERT MICH?
Nun bewerben sich so viele Leute für den SPD-Parteivorsitz, man verliert ja schier den Überblick über die Kandidaten und ihre Beweggründe.
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag. Morgen schreibt mein Kollege Peter Schink den Tagesanbruch, ich bin am Freitag wieder dran. Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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