Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Warum so viele Bürger enttäuscht sind
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Berlin am Tag nach der Thüringen-Wahl: Linkspartei und AfD feiern, die Grünen schauen bedröppelt drein, die FDP jubelt verkrampft über ihren Gerade-noch-Einzug in den Landtag, die wieder mal abgestürzte SPD leckt ihre Wunden, und in der CDU bricht die Führungsdebatte aus. Junge-Union-Chef Tilman Kuban traute sich als Erster aus der Deckung und stellte in der Vorstandssitzung Annegret Kramp-Karrenbauers Eignung als Kanzlerkandidatin infrage, aber wir dürfen davon ausgehen, dass sein Verbündeter Friedrich Merz ihm den Steigbügel hielt. Die CDU-Chefin muss sich ständiger Attacken parteiinterner Heckenschützen erwehren, während Angela Merkel, die die Partei dorthin geführt hat, wo sie heute umherwankt, fein raus ist. Gerecht ist das nicht. Aber Gerechtigkeit hat in der Politik eben nur einen geringen Wert. Merz hat dann am Abend aber doch noch Gerechtigkeit walten lassen – und die Kanzlerin im ZDF für ihren Führungsstil kritisiert.
Dennoch könnte man fast Mitleid mit AKK bekommen, was für Politiker der schlimmsten Strafe gleichkommt. Den ganzen Tag lang versuchte sie gestern, den thüringischen Landeschef Mike Mohring einzufangen, der sich entgegen eines Parteibeschlusses offen für Gespräche mit der Linkspartei zeigt. Es gelang ihr kaum. Mohring will mit Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow reden, das gebiete die "staatspolitische Verantwortung". Irgendjemand in der Thüringer CDU-Zentrale titelte über der entsprechenden Pressemeldung zwar: "Keine Koalition mit Linke oder AfD". Aber Mohrings wörtliche Zitate deckten sich damit nicht. Schwammige Formulierungen, missverständliche Aussagen, absichtliche Widersprüche: So klingt es, wenn eine Partei offen um ihren Kurs ringt. Die Klarheit ist der CDU nicht erst gestern abhandengekommen, aber jetzt kann es jeder sehen. Das Rennen um die AKK-Nachfolge hat begonnen, selbst wenn sie selbst es noch nicht wahrhaben will.
Doch der Machtkampf an der Parteispitze verdeckt das wahre Problem. Das liegt tiefer. Sicher braucht die CDU eine (oder mehrere) charismatische, erfahrene und führungsstarke Chefs. Aber vor allem muss sie sich grundlegend erneuern. Immer mehr Bürger wenden sich von den Volksparteien ab, sehen ihre Anliegen nicht mehr vertreten, haben die Nase voll. Der Eindruck ist entstanden: Die kümmern sich nicht mehr (oder nicht entschlossen genug) um die wirklichen Probleme in unserem Land, die sind stattdessen vor allem mit ihrer eigenen Karriere, ihren Talkshow-Auftritten oder ihrem Twitter-Konto beschäftigt. Das Misstrauen gegen die vermeintliche Elite in Politik und Wirtschaft wächst.
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Diese Entwicklung ist in der CDU schon fast ebenso deutlich sichtbar wie in der SPD, wo sich nur jedes zweite Mitglied an der Wahl des neuen Parteichefs beteiligte (den anderen ist sie offenbar egal) und der ehemalige Vorsitzende Sigmar Gabriel Berichten zufolge etwas Besseres zu tun hat als Politik: Will er nun Chef des wichtigsten Autolobby-Verbands werden? Gehalt: laut "Bild"-Zeitung mindestens 600.000 Euro pro Jahr. VW, Daimler und BMW befinden sich in einer existenziellen Krise – nicht, weil der Umsatz jetzt schon einbricht, sondern weil sie keine tragfähigen, umweltverträglichen Konzepte für die Zukunft haben. Aus dem Dilemma kommen sie auch nicht heraus, indem sie Dutzende neue E-Modelle versprechen, solange unklar ist, woher die Rohstoffe und der Strom für all die Batterien kommen sollen. Die Entwicklung der Wasserstofftechnologie wurde versäumt. Also braucht man nun viel Einfluss in der Politik, um sich Fördergelder und Einfluss auf die Gesetzgebung zu sichern. Da kann ein ehemaliger Ministerpräsident, Bundesminister, Bundestagsabgeordneter und SPD-Vorsitzender sicher helfen. Gabriel selbst zeigt sich verwundert über die Spekulationen: Es habe bisher keine offiziellen Gespräche mit dem Verband gegeben.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass es genau diese Art der Kungelei ist, die immer mehr Menschen in Deutschland satt haben. Da hilft es auch nicht, dass die Berliner Großkoalitionäre eine Steuermilliarde nach der anderen ins Land werfen, um den Unmut der Leute zu mildern. Es mangelt an Haltung. Zu viele Bürger haben den Eindruck: Die da oben haben die Bodenhaftung verloren, die wissen doch gar nicht mehr, wie es einfachen Leuten geht, und schlimmer: Sie haben auch keine Konzepte, wie sie Ungerechtigkeiten beseitigen und die negativen Folgen der Globalisierung in den Griff kriegen können. Unsere Welt ist so wohlhabend wie nie zuvor – aber der Reichtum verschiebt sich gen Asien, während die Ungleichheit in Deutschland zunimmt.
Nun ist oft die Rede davon, dass die Gesellschaft auseinanderdrifte: Stadt und Land, Junge und Alte, Ost und West, Progressive und Konservative, Linke und Rechte. Eine mindestens ebenso gravierende Lücke klafft inzwischen aber an einer anderen Stelle: zwischen vielen politischen Mandatsträgern einerseits und dem Rest der Bevölkerung andererseits. In einem demokratischen Staat, der auf der aktiven Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungsprozessen basiert, ist so eine Entwicklung hoch gefährlich. Weil sie zwangsläufig in die Radikalisierung führt. Wir müssen gar nicht lange nachdenken, um Bespiele dafür zu finden, schauen wir einfach in die USA: gespaltene Gesellschaft, Hass auf den Straßen, politische Schlachten ohne Kompromissbereitschaft und obendrein ein gewählter Regierungschef, der lügt, wütet, betrügt und ein internationales Regelwerk nach dem anderen schleift.
So weit darf es bei uns nicht kommen. Deshalb sollten wir uns erstens die Bereitschaft zum konstruktiven Einsatz für unsere Demokratie erhalten. Abwenden ist keine Lösung. Zweitens braucht es neue Formen der demokratischen Teilhabe. Und drittens ist es höchste Zeit, dass die politischen Amts- und Mandatsträger in Berlin ihre Blase verlassen und sich voll und ganz für die Belange der Bevölkerung einsetzen, anstatt für ihre Karrieren, Profilierungsversuche und Machtkämpfchen. Denn dafür wurden sie nicht gewählt.
WAS STEHT AN?
Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) wollte das eigentlich: Sacharbeit machen. Aber sie wollte mehr, als sie erreicht hat. Das Klimapäckchen der Bundesregierung blieb weit hinter dem zurück, was sie selbst einst angestrebt hatte. Am Ende stimmte sie dem Kompromiss mit CDU und CSU zu, nun muss sie ihn verteidigen – und ärgert sich, dass alle sich an dem niedrigen CO2-Preis aufhängen. "Wissen Sie, es geht nicht nur um die Wissenschaft. Wissenschaftler und Politiker haben unterschiedliche Aufgaben", sagt sie im Interview mit meinen Kollegen Madeleine Janssen und Tim Kummert. Gleichzeitig macht sie aus den Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Kabinetts keinen Hehl. Sie sei froh um die Kontrollmechanismen, an denen sich auch das Verkehrsministerium messen lassen müsse. Als unsere Redakteure sie allerdings fragten, wie ihr Verhältnis zu CSU-Minister Andreas Scheuer sei, da brach sie in Gelächter aus und … na, lesen Sie doch selbst.
Wenige Organisationen haben Menschen auf der ganzen Welt einen solchen Schauer des Grauens über den Rücken laufen lassen wie der sogenannte "Islamische Staat". Sein Territorium ist inzwischen zerschlagen, und der meistgesuchte Terrorpate der Welt, Abu Bakr al-Bagdadi, ist tot. Was bedeutet das für uns?
Um die Gefährlichkeit des IS einzuschätzen, können wir die Organisation (oder das, was von ihr übrig ist) einmal aus einer ungewöhnlichen Perspektive betrachten: als Unternehmen. Gewiss, wenn man für den Terror die Sprache des Geschäftslebens benutzt, als sei das etwas ganz Normales, kann einen ein unangenehmes Gefühl beschleichen. Dennoch sind wir es gewohnt, auch brutale Kriminalität als wirtschaftliche Betätigung zu beschreiben: beim Menschenhandel, bei Drogengeschäften, Auftragskillern, Mafia-Strukturen. Auch der Terror ist ein blutiges Geschäft, das seiner eigenen Konjunktur unterliegt und den Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage folgt.
Schauen wir also, wer eigentlich die Kunden sind. Die Antwort: junge Männer. Solche mit intensivem Groll, hoher Frustration, kriminellen Karrieren und Hang zur Gewalt. Und was bietet ihnen der IS? Die Möglichkeit, diese zerstörerischen Impulse zu kanalisieren, ihnen ein Ziel zu geben – und eine Berechtigung. Der IS verkauft eine besonders teuflische Form der Sinngebung. Aggression wird geadelt, zum Einsatz auf dem Wege Gottes umetikettiert. Wer das Angebot aufgreift, darf nicht nur seinen Hang zur Gewalt ungebremst ausleben, sondern sich dabei auch noch wichtig fühlen – eine attraktive Dienstleistung für das begierige Ego.
Der IS bedient diesen Markt nicht allein. Doch im Gegensatz zur meist lokal agierenden Konkurrenz hatte er eine Führungsfigur mit weltweiter Reichweite zu bieten: einen Markenbotschafter der Brutalität, einen "Kalifen" – geheimnisvoll, gefürchtet, von seinen Anhängern verehrt. So aufgestellt, musste sich der IS um die Nachfrage erstaunlich wenig selbst bemühen. Das erledigen andere. Im Stammland Irak: ein Staat der Schiiten, der seinen sunnitischen Bürgern keine Chance und keine Perspektive lässt. In Syrien: eine verlorene Generation, von der Welt im Stich gelassen und den Attacken des Assad-Regimes ausgeliefert. Angst, Frustration und Hass finden wir aber auch in den europäischen Vorstädten. Abgehängte Migranten, vor allem deren Nachkommen in einer der folgenden Generationen, gehören zur primären Zielgruppe des IS in Frankreich und in Belgien.
Das sollten wir uns in Deutschland gut merken. Intensive Bemühungen um Integration sind kein Wohlfühlangebot der Willkommenskultur, über das man am rechten Rand gerne spottet. Sie sind eine Pflichtübung. Auch eine intensive Sozialarbeit in "Problemvierteln" gehört dazu. Wir müssen uns um ein Marktumfeld bemühen, das dem IS die Nachfrage abgräbt. Dass sein mörderischer Markenbotschafter nun tot ist, entscheidet diesen Wettstreit nicht, aber es untergräbt die Strahlkraft der Organisation und macht uns die Sache leichter. Lediglich die besonders treue Stammkundschaft der Terrorfirma lässt sich so nicht erreichen. Für die gibt es zum Glück einen anderen Dienstleister: die Polizei.
DIE GUTE NACHRICHT
Unsere Welt ist so ernst, dass sie oft nur mit Humor zu ertragen ist. Zwei, die uns immer wieder zeigen, wie das geht mit dem Humor, sind die beiden Gallier: der kleine mit dem blonden Bart und der Dicke, der Wert darauf legt, dass er keinesfalls dick ist. Mir haben sie die Kindheit versüßt, noch heute amüsiere ich mich köstlich, wenn ich durch die bunten Hefte blättere. Das macht ja gute Comics aus: dass sie Jung und Alt gleichermaßen entzücken. Heute vor 60 Jahren veröffentlichten René Goscinny und Albert Uderzo ihre erste "Asterix"-Folge. Eine schöne Gelegenheit, uns zu verbeugen: vor dieser literarischen Meisterleistung. Und vor ihren gewitzten Helden.
WAS LESEN?
Jeremy Rifkin zählt zu den klügsten Vordenkern der Wirtschaft. Unternehmenslenker, Präsidenten und die Kanzlerin suchen seinen Rat. Was er zum aktuellen Zustand unserer Welt zu sagen hat, ist brisant: Die Ökonomie von Öl und Gas wird schon bald zusammenbrechen. Entweder die radikale Wende beginnt oder die Katastrophe folgt – aber es gibt Grund zur Hoffnung. Unser Reporter Jonas Schaible hat sie sich erklären lassen.
"Dort kann man wie unter einem Brennglas beobachten, was geschieht, wenn die äußersten politischen Pole immer stärker werden, bis sie die Mitte unter sich begraben", schreibt mein Kollege Tim Kummert in seiner Reportage aus Thüringen. Hier erklärt er, warum dort so viele Menschen von den Volksparteien enttäuscht sind.
Instagram, Twitter und Facebook sind die Schaufester der Promis – aber müssen auch Politiker dort so eifrig bella figura machen wie Außenminister Heiko Maas? Die Kollegen der "FAZ" haben Zweifel.
WAS AMÜSIERT MICH?
Oh, die Briten haben ihren EU-Austrittstermin mal wieder verschoben! Und zwar auf den, Momentchen, ich sehe noch mal nach, ah ja: 31. Januar! Aber in welchem Jahr? 2020? 2025? 2148? Wir dürfen unseren Freunden auf der Insel diesbezüglich alles zutrauen.
Ich wünsche Ihnen einen kurzweiligen Tag. Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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