Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Das ist ein Alarmsignal!
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Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Gutes Regieren: zwei Worte nur. Klingen so einfach, scheinbar banal, schnell dahingesagt – und sind so oft ein unerfüllter Wunsch, eine zu hohe Messlatte für die Leute, die über sie springen sollen. Heben wir den Kopf und schauen über unsere Grenzen hinaus in die Welt, sehen wir so viele Mächtige, die zu niedrig springen oder noch nicht einmal zum Sprung ansetzen. Die Streithähne in London. Der Aufschneider in Washington. Ganz zu schweigen von all den Autokraten und Diktatoren rund um den Globus. Im Vergleich zu denen ist die Leistung unserer Berliner Regierenden doch gar nicht so schle…
Moment. Was ist denn das?
30 Prozent der deutschen Bevölkerung sind der Ansicht, dass sie weder politisch noch sozial in die Gesellschaft eingebunden sind. Fast ein Drittel! Das ist das Ergebnis einer groß angelegten Studie der Organisation "More in Common", über die zuerst die Kollegen der "Zeit" berichtet haben. Die Autoren sprechen von der "anderen Teilung Deutschlands" – und ihre Ergebnisse zeichnen ein beunruhigendes Bild unserer Gesellschaft:
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53 Prozent der Bürger glauben, dass der Zusammenhalt nicht mehr gelinge, weil die Unterschiede zwischen den Menschen schon zu groß seien.
70 Prozent meinen, das Land bewege sich derzeit in eine falsche politische Richtung.
Nur 24 Prozent sind der Ansicht, die Politik gehe "derzeit die wichtigen Themen in Deutschland entschieden" an.
52 Prozent sind unzufrieden mit der deutschen Demokratie.
Die Wissenschaftler haben sechs Typen von Bürgern identifiziert, die unterschiedliche Wertefundamente haben und die Gesellschaft jeweils anders wahrnehmen:
Die Offenen: Menschen, denen Selbstentfaltung, Weltoffenheit und kritisches Denken wichtig ist.
Die Involvierten: Menschen mit Bürgersinn, die gesellschaftliches Miteinander schätzen und bereit sind, gesellschaftliche Errungenschaften zu verteidigen.
Die Etablierten: Menschen, denen Verlässlichkeit und gesellschaftlicher Frieden wichtig ist und die zufrieden mit dem Status Quo sind.
Die Pragmatischen: Menschen, denen Erfolg und privates Fortkommen wichtig ist, die sich wenig für Politik interessieren und ihren Mitmenschen nicht blind vertrauen.
Die Enttäuschten: Menschen, denen das Gefühl von Gemeinschaft verloren gegangen ist und die sich Wertschätzung und Gerechtigkeit wünschen.
Die Wütenden: Menschen, die Kontrolle und nationale Ordnung schätzen, wütend aufs System sind und Menschen generell eher misstrauen.
Von dieser Typologie ausgehend, teilen die Forscher die deutsche Gesellschaft in drei Gruppen ein:
Erstens die gesellschaftlichen Stabilisatoren, bestehend aus den Etablierten und den Involvierten. Sie machen demnach 34 Prozent der Bevölkerung aus.
Zweitens die gesellschaftlichen Pole, die von den Offenen und den Wütenden gebildet werden: insgesamt 35 Prozent.
Drittens das unsichtbare Drittel, das aus den Enttäuschten und den Pragmatischen besteht: zusammen 30 Prozent.
Nicht die zweite, konträre Gruppe sei das Problem, so die Wissenschaftler. Sondern die dritte. Sie schreiben: "In der Einbindung des unsichtbaren Drittels liegt aus unserer Sicht eine zentrale Aufgabe für Politik und Zivilgesellschaft. Ein Gemeinwesen kann nur dann wirklich funktionieren, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen erreicht werden. Zudem schlummert hier ein sehr großes Nichtwählerpotenzial: Über die Hälfte der Nichtwähler sind im unsichtbaren Drittel zu finden. Wir brauchen also Formate und Narrative, die tatsächlich geeignet sind, diese Gruppen zu erreichen."
Das klingt etwas akademisch, aber wir dürfen die Botschaft als Klartext verstehen. Die deutsche Gesellschaft driftet auseinander, und es gelingt den Regierenden, Parteien und Organisationen immer weniger, die Brüche zu kitten, die breite Masse der Menschen zu erreichen, Stabilität und gesellschaftlichen Frieden zu erhalten. Das ist ein Alarmsignal, für das wir nicht einfach einzelne Politiker, diese oder jene Partei oder eine politische Einzelentscheidung verantwortlich machen können. Dafür ist die Entwicklung zu gewaltig. Stattdessen können wir uns fragen, ob unser repräsentatives politisches System in der jetzigen Form noch ausreicht. Alle paar Jahre die Stimme abgeben, morgens vielleicht einen Newsletter lesen und sonntagabends eine Talkshow gucken: Das kann als politische Einbindung der Bürger nicht genügen. Und wer nimmt denn noch die Ochsentour auf sich, sich in einer Partei zu engagieren, mühsam auf der Leiter nach oben zu kraxeln, stundenlang in Sitzungen zu hocken, im Klein-Klein der Kompromisse und Worthülsengefechte stecken zu bleiben? Kein Wunder, wenn viele Menschen das Gefühl haben, nicht mehr die Begabtesten und Engagiertesten prägten die Politik, sondern immer öfter die Karrieristen und Sitzenbleiber.
Aber wir sollten es uns nicht zu leicht machen. Es ist nicht damit getan, den Schwarzen Peter allein den amtierenden Politikern zuzuschieben. Die politischen Repräsentanten sind nur so gut wie die gesellschaftliche Basis, der sie entstammen. Jeder Bürger ist gefordert. Es gibt ja Wege breiter Bürgerbeteiligung, ein faszinierendes Beispiel haben kürzlich die Iren angewandt. Aber auch hierzulande sehen wir vielerorts ermutigende Projekte. Meist noch im Kleinen, auf kommunaler oder regionaler Ebene. Aber diese Bewegung könnte größer werden. Nein, sie könnte nicht, sie sollte. Damit Enttäuschung, Frust und die Mir-doch-egal-Haltung unsere Gesellschaft nicht noch stärker zersetzen. Damit unsere Demokratie stark und lebendig bleibt: Jeder kann mithelfen.
WAS STEHT AN?
Auf die Bühne darf außer dem Chef nur noch einer. Wladimir Putin empfängt heute Staatschefs aus ganz Afrika zum großen Gipfeltreffen im russischen Sotschi. Wen von ihnen wählte er aus, um an seiner Seite die Konferenz zu eröffnen? Den übelsten Despoten: Ägyptens Präsidenten Sisi, der die Demokratiebewegung in seinem Land brutal unterdrückt hat und Menschenrechte als unverbindliche Empfehlung betrachtet. Russlands wichtigster Handelspartner in Afrika ist er auch – zusammen mit Algerien, das sich allerdings in einem so erbärmlichen politischen Schlamassel befindet, dass selbst Herr Putin niemanden aus der verknöcherten Machtelite auf die Bühne zerren wollte.
Die Zeichen hat Russlands Präsident bei der Eröffnung jedenfalls eindeutig gesetzt. "Wir zwingen niemandem unsere Ansichten auf, wir respektieren das Prinzip der 'afrikanischen Lösungen für afrikanische Probleme', die von den Afrikanern selbst vorgeschlagen werden", sagt der Kremlchef. So einen feingedrechselten Politikersatz muss man übersetzen. Dann klingt er ungefähr so: Lieber Diktator, die Verfassung geht dir auf den Keks, die lästige Opposition auch? Du willst in deinem Land mal so richtig aufräumen? Mach Geschäfte mit Russland! Wir belästigen dich nicht mit moralischen Vorhaltungen. Apropos, ein paar Kampfhubschrauber und Panzerfäuste haben wir auch im Angebot. Ach ja, und bei Bedarf auch Söldner, die das Zeug fachgerecht bedienen können. Lästige Oppositionelle? Mit uns kein Problem!
Und so schauen europäische Emissäre mit langen Gesichtern zum Beispiel nach Guinea, wo sie Präsident Condé ins Gewissen reden, dass nach zwei Amtszeiten nun aber wirklich mal Schluss sein muss. So steht es in der Verfassung, doch der Präsident lächelt, denn muss nach zweimal fünf Jahren nicht eher die Verfassung mal weg? Für eine schöne neue? Seine russischen Freunde haben nichts dagegen. Sie reden lieber über den florierenden Export von Bauxit, dem Rohstoff für Aluminium, an Mütterchen Russland. Nirgendwo gibt es so viel davon wie in Guinea. Man sähe da ungern regierungswechselbedingte Lieferunterbrechungen. Deal? Die europäischen Emissäre reden unterdessen immer noch von der Verfassung, aber so richtig hört ihnen keiner mehr zu.
Russland ist in Afrika eigentlich kein großer Akteur, jedenfalls wenn es nach den nüchternen Zahlen des Handelsvolumens geht. Afrikas wichtigster Partner beim Austausch von Gütern ist die EU, gefolgt von China, Indien, den USA, den Arabischen Emiraten, und irgendwann, irgendwann ist auch Russland dann mal dabei. Aber wir dürfen uns an dieser Stelle gerne daran erinnern, wie groß Russlands Einfluss im Nahen Osten vor einigen Jahren noch gewesen ist: Für eine kleine Erwähnung in der Kategorie "Sonstige" hat es damals gerade noch gereicht – heute aber führt an Moskau kein Weg mehr vorbei. Syrien ist nur der augenfälligste Fall.
Auch in Afrika schickt Wladimir Putin sich nun an, aus Wenigem das Meiste zu machen. Mit Waffenexporten ist Russland dick im Geschäft, Trollfabriken mischen Wahlen auf. Viele Generäle und Präsidenten von heute haben ihre Militärausbildung einst in der Sowjetunion absolviert. Der Umfang des russischen Engagements in Afrika mag begrenzt sein – aber es ist wirksam.
Als Europäer dürfen wir uns darauf einstellen, dass es auch in Afrika immer schwieriger wird, an Herrn Putin und seinen Leuten vorbeizukommen. Das wird auch nicht dadurch besser, dass da ja auch noch die Chinesen mitmischen und hier und da noch ein paar Amerikaner herumlaufen, die von ihrem Präsidenten noch nicht nach Hause zurückkommandiert worden sind. Auch wir Europäer haben in Afrika viel Unheil angerichtet, da muss man gar nicht bis in die Kolonialzeit zurückgehen. Agrarexporte, Fischereipolitik, unfaire Handelsabkommen: Das trägt alles nicht zur Stabilisierung bei.
Aber inzwischen hat die EU das mehrheitlich verstanden und den Kurswechsel eingeleitet. Nun geht es vor allem darum, Fluchtursachen zu bekämpfen, stabile Demokratien zu fördern, die ihrer Bevölkerung ein gutes Auskommen und politische Mitsprache ermöglichen. Gar nicht gebrauchen können wir Despoten und Kleptokraten, die auf Kosten der Bevölkerung ihre eigenen Taschen füllen. Doch Russland zieht nicht am selben Strang. Es ist der bequemere Partner für die mit den großen Taschen, die mit dem heutigen Zustand zufrieden sind und gut daran verdienen. Wem das nicht passt? Der soll eben nach Europa rübermachen! Putin in Afrika: Das dürfte uns noch viel Kopfschmerzen bereiten.
Apropos Kopfschmerzen: Annegret Kramp-Karrenbauer kann heute auf dem Nato-Verteidigungsministertreffen in Brüssel ihren Amtskollegen erklären, wie genau sie das mit der Sicherheitszone in Nordsyrien gemeint und warum sie bei ihrem Vorstoß die Partnerstaaten nicht richtig eingebunden hat. Und wenn sie damit fertig ist, kann sie erläutern, warum sie gestern Abend gleich in den nächsten Fettnapf getappt ist. Oder wie soll man ihre Wortwahl zur Türkei sonst verstehen?
WAS LESEN?
Apropos Türkei, Kurden und Syrien: Wenn Sie verstehen wollen, worum es in dem Konflikt wirklich geht, dann sollten Sie diesen Artikel meines Kollegen Patrick Diekmann lesen.
Der FC Bayern hat gegenwärtig mehr Sorgen als gesunde Innenverteidiger. Besonders der Ausfall Niklas Süles schmerzt. Doch nicht nur der Rekordmeister zittert um den Abwehr-Riesen, auch der DFB bangt um den 24-Jährigen, der bei der EM im kommenden Jahr eigentlich den Defensivchef geben soll. Einige Fans und Experten wünschen sich daher ein Comeback von Mats Hummels im DFB-Trikot. Unser Kolumnist Berti Vogts widerspricht vehement, räumt eigene Fehler als Bundestrainer ein – und kritisiert DFB-Direktor Oliver Bierhoff.
Unser Interview mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat gestern viele Wellen geschlagen – besonders seine Verteidigung des geringen CO2-Preises. Kritik daran nannte der Vizekanzler "Wohlhabenden-Gerede". Linken-Chef Bernd Riexinger wirft Scholz und der Regierung nun vor, selbst sozial ungerecht zu handeln.
WAS AMÜSIERT MICH?
Was halten eigentlich die wirklich mächtigen Leute von AKKs Idee?
Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Tag. Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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