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Thüringen-Wahl: AfD und Linke spalten Thüringen – ein zerrissenes Land


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Auf Spurensuche in Thüringen
"Da hinten ein Hakenkreuz – alles heizt sich immer mehr auf"

Eine Reportage von Tim Kummert

Aktualisiert am 28.10.2019Lesedauer: 8 Min.
Bodo Ramelow (Die Linke, l.) und Björn Höcke (AfD): Thüringen wirkt zerrissen.Vergrößern des Bildes
Bodo Ramelow (Die Linke, l.) und Björn Höcke (AfD): Thüringen wirkt zerrissen. (Quelle: t-online.de)
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Nirgendwo ist Deutschland politisch so gespalten wie in Thüringen: AfD und Linke bestimmen den Diskurs, dabei sehnen sich die Menschen nach Stabilität. Eine Reise durch ein zerrissenes Land.

Am Tag vor der Landtagswahl sitzt Heinrich Warnke mitten in Thüringen und weiß nicht mehr weiter. Die Herbstsonne steht tief an diesem Samstag und scheint in das ratlose Gesicht des Mittvierzigers: "Irgendwie macht uns keiner mehr ein echtes politisches Angebot. Da ist in der Mitte einfach niemand mehr, dessen Botschaften mich überzeugen." Warnke, der in Wahrheit anders heißt, aber seinen echten Namen nicht öffentlich machen will, sitzt auf einer Bank des Marktplatzes von Gotha, einer kleinen Stadt in Thüringen, wo die Straßenbahnen noch aussehen wie aus den Siebzigerjahren. Er wartet auf seine Kinder, die gerade einkaufen sind. Der Familienvater sagt: "Ich bin einfach enttäuscht. Von der SPD höre ich gar nichts mehr, und die CDU? Hat keine Ideen, wie sie unser Leben verbessern könnte." Er zuckt ratlos mit den Schultern.

Dann kommen seine Kinder aus einem kleinen Geschäft, Warnke steht auf und erklärt im Gehen, es werde "wahrscheinlich die Linkspartei sein", die er wählt, "damit wenigstens ein bisschen Druck auf die Volksparteien entsteht" und während er das sagt, wird klar: Es ist nur Zufall, dass er sich nicht für die AfD entschieden hat. Eines der beiden Extreme musste Warnke nehmen, weil die Mitte für ihn so farblos ist.

Die Mehrheit wählt Parteien des Randes

Wie Heinrich Warnke, der bei seiner Wahlentscheidung zwischen den politischen Polen schwankte, erging es wohl vielen Thüringern an diesem Wochenende – das wird einen Tag später deutlich: Die Mehrheit der Menschen in dem Bundesland wählte die Parteien des Randes bei der Landtagswahl, AfD und Linke sind die stärksten Kräfte, gemeinsam kommen sie jetzt auf 54,4 Prozent. Damit ist Thüringen das erste Bundesland, das sich von den politischen Traditionen der Bundesrepublik mehrheitlich verabschiedet: Die CDU wird nur drittstärkste Kraft mit 21,8 Prozent. Doch die Menschen dort sind so politisiert wie schon lange nicht mehr, die Wahlbeteiligung ist auf über 60 Prozent gestiegen. In Thüringen kann man wie unter einem Brennglas beobachten, was geschieht, wenn die äußersten politischen Pole immer stärker werden, bis sie die Mitte unter sich begraben.

Thüringen steht vor mehreren Problemen. Die "Thüringer Allgemeine" druckt zwei Tage vor der Wahl auf ihrer Titelseite die Schlagzeile: "Lehrermangel ist wichtigstes Thema für Thüringer Wähler", dem Bundesland geht es schlecht. Außer dem vorhandenen Lehrermangel sind die Löhne niedrig, die Arbeitslosigkeit ist im Bundesschnitt hoch, wenige Menschen ziehen noch auf die Dörfer – es sind die typischen Probleme der ländlichen Gegenden im Osten. Seit fünf Jahren regiert hier die rot-rot-grüne Koalition unter dem linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow.

Einer, der all die vorhandenen Probleme dem Ministerpräsidenten trotzdem nicht ankreidet, ist Ulrich Steinke. Er wohnt in Mühlhausen bei Erfurt, hier holte die Linke 31,7 Prozent bei der Wahl. Steinke ist begeistert von Ramelow, "der macht einfach seinen Job! Ohne großes Bohei und dennoch mit linken Positionen", sagt er. Auch Steinke möchte seinen echten Namen nicht öffentlich machen und will sich nur unter einem Pseudonym zitieren lassen, er hat Angst vor radikalen AfD-Anhängern. Seine Angst ist einer von vielen Belegen dafür, wie weit die Lager sich voneinander entfernt haben.

Ramelow gilt hier als gemütlicher Landesvater

Ja, dem Bundesland gehe es zwar nicht sonderlich gut, sagt Steinke, aber Ramelow habe zumindest bewiesen, dass er keine verrückten Ideen habe, sondern mit seinen Impulsen das Land wieder vorwärts bringen will. "Ich bin in der DDR aufgewachsen", linke Ideologie habe ihn geprägt – auch deshalb wähle er seit Jahren die Linke. Im Norden Thüringens, wo Steinke wohnt, wird die Partei als eine Volkspartei betrachtet. Schrille Parolen, wie die Forderungen von den Parteifreunden aus Berlin nach Enteignung von Wohnungsbesitzern, dringen kaum durch. Bodo Ramelow ist das alles überstrahlende, freundliche Gesicht der Partei. Er gilt hier als gemütlicher Landesvater, der irgendwie alles regelt: links, das schon, aber nicht ideologisch verblendet. Viele hier wählen ihn auch, um sich möglichst deutlich von der AfD abzusetzen.

Klare Worte: So reagiert Ramelow auf das Wahlergebnis

Die Linke plakatiert in manchen Gegenden nur "Bodo Ramelow!", schwarze Buchstaben auf weißem Hintergrund mit einem dicken Rahmen aus Rot drumherum. Kein Foto, kein Slogan, allein der Name ist politisches Programm. Dass die Partei den Spagat zwischen ihrer Ideologie und der Bürgerlichkeit so gut schafft, es ist primär das Ergebnis von Ramelow als Person, erzählen hier viele: Rentner, junge Ehepaare, alleinerziehende Mütter. "Es gibt für mich einfach keinen Grund, den nicht zu wählen", erklärt ein älterer Herr im Vorbeigehen.

Nur ein Problem hat Ramelow-Fan Steinke mit seinem Ministerpräsidenten: "Die Demos von rechten Nazis seit Jahren hier bei uns, da schaute und schaut die Politik nur achselzuckend zu. Damals kam lediglich dieser dicke SPD-Politiker in den Osten, wie hieß der noch schnell?" Ramelow jedenfalls habe nichts getan, schiebt er nach. Meint er Sigmar Gabriel? "Ja, genau! Der Gabriel, der kam zumindest und hat mit den Menschen geredet. Hätten das mehr Spitzenpolitiker so wie er gemacht, hätte man die unzufriedenen Menschen von den wirklichen Nazis der AfD trennen können. Jetzt haben wir diesen großen Haufen von AfD-Anhängern und müssen damit klarkommen." Der nette Herr Ramelow mache zwar klar linke Politik – doch habe er für konservative Wähler kein alternatives Angebot.

Wenige Hundert Meter von ihm entfernt geht Frau Henne am Tag vor der Wahl spazieren. Sie möchte ihren Vornamen nicht nennen, aber den Nachnamen darf man schreiben. Auch Henne ist mit Ramelow zufrieden, nimmt ihn als einen "guten Verwalter" des Landes wahr. Und die AfD? Für sie ist klar: "Die AfD ist die Quittung für vermurkste Politik – das sind viele Protestwähler. Die sehnen sich doch eigentlich nur nach einem guten Leben und nicht nach extremer Politik."

Im Süden Thüringens liegen die Hochburgen der AfD

Zwei Stunden Autofahrt von Mühlhausen bei Erfurt entfernt liegt eine der Hochburgen der AfD: Im Wahlkreis "Hildburghausen I/Schmalkalden-Meiningen III" holte die Partei ein Direktmandat und erhielt 29 Prozent der Stimmen. Je weiter man in die Nähe dieses Wahlkreises und damit in den Süden Thüringens kommt, desto mehr AfD-Plakate sieht man an den Laternenmasten. Auf ihnen prangt oft der Slogan: "Im Osten geht die Sonne auf." Die Partei ist bei den unter 60-Jährigen sogar Wahlsieger in dem Bundesland geworden.

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Am Samstagabend in Schleusingen, einem Ort nahe der AfD-Hochburg, wo das Direktmandat erreicht wurde: Gottfried und Hildegard Keller sind auf dem Nachhauseweg – auch das Rentnerpaar will seinen richtigen Namen lieber öffentlich nicht lesen. Die beiden steigen gerade aus ihrem Auto aus, und kaum spricht man sie auf die Landtagswahl an, verzieht sich das Gesicht von Gottfried Keller, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Ohne dass er danach gefragt wird, giftet er gegen die Grünen los: "Die Grünen sind die allerschlimmsten! Wir wollen eigentlich nur in Frieden gelassen werden, aber das lassen sie nicht zu! Wir haben nicht mal 1.000 Euro Rente pro Monat zur Verfügung. Und das soll jetzt alles für hohe CO2-Steuern draufgehen?", fragt Keller.

Früher links, heute AfD

Keller hat sich jetzt in Rage geredet und wettert in einem langen Monolog gegen den zu hohen CO2-Preis. Aber den hat doch die Bundespartei vorgeschlagen, nicht der Landesverband? "Na und?" Grün sei Grün, sagt Keller. In Schleusingen hängen Plakate, auf denen steht: "Ruhe in Frieden, kleiner Thüringer Wald" und daneben eine gemalte Karikatur eines Mannes mit Kutte, der statt Sense ein Windrad in der Hand hält: "NEIN DANKE" steht darüber. Früher, da fanden die Kellers die Linken als Partei interessant, dann kam die Wende, mit der Wende der Abschwung der Region – heute finden sie die AfD gut, die Grünen sind ihr Feindbild.

Mit Björn Höcke können die meisten AfD-Wähler hier nur wenig anfangen, der Spitzenkandidat ist ihnen ziemlich egal. Der ehemalige Lehrer, der offen von einer "tausendjährigen Zukunft" Deutschlands träumt, ist wegen seiner radikal rechten Ansichten selbst innerhalb der Partei umstritten. Im Wahlkampf zeigte er sich öffentlich vor allem dort, wo er von der Bühne aus nur seine Fans sehen konnte, den Diskurs mit anderen Kandidaten mied er. Als er im Wahlkampf doch dem ZDF mal ein Interview geben wollte, brach er das mittendrin ab, drohte dem Reporter mit massiven Konsequenzen.

Etliche der jetzigen AfD-Wähler in Thüringen haben früher die Linke gewählt: Doch jetzt verschmelzen in der Wahrnehmung bei vielen von ihnen Linke, Grüne, SPD, FDP und CDU zu einer homogenen Politiker-Masse: Die stellen ihnen – in verschiedenen Koalitionen auf regionaler und kommunaler Ebene – Windräder vor die Dörfer, sind für eine Erhöhung der CO2-Steuer. Gleichzeitig verhindern sie nicht, dass die Schule wegen Lehrermangel ausfällt.

Das Land wirkt zerrissen

Am Wahlsonntag sitzt Denise Rocke um 15.15 Uhr allein an der Haltestelle mitten in Jena und wartet auf den Bus. Der Nebel drückt schwer auf Thüringen, es ist kalt, das Thermometer zeigt 6,5 Grad. Die junge Frau hat ihre rotgefärbten Haare zu einem strengen Zopf geflochten. Wen sie gewählt hat? Kurz starrt sie auf die Straße vor sich, dann sagt sie: "Ich habe gar nicht gewählt. Nur ein Plakat, das fand ich gut – da war so eine Ärztin oder Krankenschwester drauf. Dass man für diese Leute mehr machen muss, das hat mich angesprochen." Rocke ist 1985 geboren und ihre Stirn legt sich in Falten, als sie weiterspricht: "Ich habe die Zeit der Deutschen Mark noch mitgekriegt. Und jetzt? Jetzt wird alles nur noch teurer." Rocke arbeitet als Zimmermädchen in einem kleinen Hotel in Jena. Die 34-Jährige will eigentlich nur ihre Arbeit machen "und von meinem verdienten Geld ein normal gutes Leben führen. Aber mit unserer Politik ist das immer weniger möglich. Ich verstehe das auch nicht alles, aber ich merke, dass es immer schwieriger ist, sich einen schönen Alltag mit einem normalen Einkommen zu ermöglichen." Sie blickt die Straße hoch, doch der Bus kommt erst später, er hat Verspätung.

CDU-Wähler sind schwer zu finden

Es sind Menschen wie Rocke, die einem in Thüringen immer wieder begegnen. Das Land wirkt zerrissen – zwischen den stramm-nationalen Parolen der AfD, den linken Positionen von Bodo Ramelow, der sich seinen Wählern im bürgerlichen Gewand präsentiert – und einer schmelzenden bürgerlichen Mitte, in der SPD, Grüne und FDP gemeinsam nicht einmal ein Drittel der Wählerstimmen mehr stellen. Lediglich die CDU ist noch wahrnehmbar. In Thüringen steht der Spitzenkandidat der CDU, Mike Mohring, als letzter für die Volksparteien. Um hier jemanden zu finden, der CDU wählt, muss man lange suchen. Eine von ihnen ist die 82-jährige Margot Waltmann.



Am Wahltag sitzt sie auf dem "Platz der deutschen Einheit" in dem kleinen Thüringer Ort Suhl und fragt sich, wann alles ins Rutschen kam: "Die Menschen sind doch verrückt! Da hinten", sie deutet über ihre Schulter, wo das Waffenmuseum von Suhl steht, "haben sie schon wieder ein Hakenkreuz hingemalt. Alles heizt sich immer mehr auf." Warum sie die CDU gewählt hat? "Naja, die stehen halt irgendwie für die Mitte als Partei. Als Menschen finde ich den Ramelow schon gut – ideal wäre eigentlich eine Koalition aus CDU und Linken. Ein guter Mann an der Spitze und eine Partei mit guten Werten in der Koalition." Sie macht eine Pause, um kurz Luft zu holen. Und dann, erklärt Waltmann, wünsche sie sich eines: Dass vielleicht ein wenig Versöhnung kommen möge, in diesem gespaltenen Land.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen vor Ort
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