Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Jetzt ist Olaf Scholz' Stunde gekommen
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Wollte man die SPD mit einem Tier vergleichen, böte sich zum Beispiel das Trampeltier an. Zur Gattung der Altweltkamele zählend, Unterordnung Schwielensohler, kennen wir den Vierbeiner mit dem wissenschaftlichen Namen camelus ferus als domestiziertes Last- und Nutztier, auf dem jedermann von A nach B expedieren kann, was er gern transportiert haben möchte, sei er nun Landwirt, Arbeiter oder Bundeskanzlerin. Das Trampeltier schultert alle Lasten und trägt sie verlässlich, wohin immer man es wünscht, auch wenn es selbst dabei zugrunde geht. Es braucht nur wenig Futter und wenig Liebe, macht aber so ziemlich alles mit. Mit seinem etwas zotteligen Fell und den beiden wackelnden Höckern auf dem Rücken kommt es meist etwas schluffig daher. Es kann ganz lange laufen, ohne was zu trinken, aber wenn es mal an eine der seltenen Quellen gelangt, sei es Wasser oder ein kleiner Wahlerfolg, dann säuft es sich richtig einen an und fühlt sich spitze. So ist es, das Lastkamel.
Und dann gibt es noch ein paar wenige frei lebende Exemplare des Trampeltiers. Die sind nicht so gefällig wie ihre gezähmten Artgenossen, sondern eher störrisch, die mucken auch mal auf, wenn ihnen alles zu viel wird, und röhren durch die Gegend. Aber es sind nicht viele und hochgradig gefährdet sind sie auch. Sie hören auf Namen wie Karl, Kevin oder Gesine, aber den bedächtigen Trott der Herde aus all den Olafs, Hubertussen und Malus können sie nicht aufhalten. Sicher, wenn sie sich ins Zeug legen und richtig einen raushauen (was sie gerne tun), irgendwas mit ganz vielen neuen Steuern oder noch besser mit Verstaatlichung, dann horcht kurz die gesamte Prärie auf, dann werden sie an die Lagerfeuer eingeladen (auch Talkshows genannt) und dürfen sich ein wenig im Licht der Aufmerksamkeit sonnen.
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Aber bald gehen die Scheinwerfer aus und sie stehen wieder im Dunkeln, während die domestizierten Trampeltiere gemächlich weiter ihrer Wege trampeln, hier noch ein Gesetz austragen und da noch eine Gemeinheit der Kanzlerin ertragen, sie kennen das ja nicht anders, sie haben sich längst daran gewöhnt. So geht das zu in der großen Koalition auf der politischen Prärie Deutschlands, und man mag es eigentlich keinem Zuschauer verübeln, wenn er sich irgendwann gelangweilt von den Trampeltieren abwendet – ebenso wenig, wie man es den Lasttieren vorwerfen kann, wenn sie sich irgendwann halt doch mal fragen, warum sie das alles eigentlich noch länger mitmachen sollen, wenn der Lohn ihrer Mühen eine Wahlklatsche nach der anderen ist.
So ungefähr ist das mit der deutschen Sozialdemokratie im Jahr 156 nach ihrer Gründung. Sie steht ziemlich nah am Abgrund, und die meisten der verbliebenen Genossen haben das längst verstanden. Wenn man mit ihnen spricht, dann gibt es jene, die den Glauben schon fast verloren haben. Es gibt jene, die gerne wiederauferstehen würden, aber nicht wissen, wie das geht. Und es gibt jene, die sich aufbäumen. Die es nicht fassen können, dass ihre einst so stolze Partei wie ein ausgeknockter Boxer am Boden liegt oder, schlimmer, wie ein zotteliges Kamel den letzten Rest seiner Würde zu Markte trägt und stur dem Ende entgegentrampelt. Der Juso-Chef Kevin Kühnert zählt dazu; aber auch einige der Bewerber-Duos für den Parteivorsitz versuchen, der SPD nicht nur neues Leben, sondern auch neue Ideen einzuhauchen.
Auf den Bühnen der Kandidatentingeltour durch Deutschland geriet dabei die Mitarbeit in der großen Koalition allzu oft zur Schicksalsfrage: Leute wie Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken wollen am liebsten raus aus der Zwangsehe mit Frau Merkel, und damit das nicht so destruktiv klingt, schrauben sie die Erwartungen ins Exorbitante, verlangen mal eben 500 Milliarden Euro Extrakohle für Städte und Gemeinden – und wenn sie die nicht kriegen, na dann lassen wir die doofe Groko platzen! Mit solchen Gassenhauern aus dem populistischen Lehrbuch haben sie beim Publikum gepunktet. Das hat einige Leitartikler dazu verleitet, die beiden roten Vorkämpfer zu den Favoriten auf den Parteivorsitz hochzujubeln.
Wenn sie sich da mal nicht täuschen. Bis Samstag können die 430.000 SPD-Mitglieder ihre Stimmen abgeben, bisher zögert mehr als die Hälfte noch, das Rennen wird auf den letzten Metern entschieden. Die meisten Genossen haben nämlich weder eine der Kandidaten-Shows besucht noch wollen sie sich wohl nach dem Schulz/Nahles-Drama ein weiteres Mal ins Bockshorn jagen lassen. Die meisten dürften eine ziemlich klare Vorstellung davon haben, was ihre Partei jetzt braucht: eine grundlegende Reform des Programms, der Organisation und der Kommunikation, sicher. Mit neuen Köpfen an der Spitze, klar. Aber keine Luftschlosspolitik, die zwei Wochen lang gut klingt und dann in sich zusammenstürzt. Die Mehrheit der Genossen dürfen wir, bei allem Respekt und um im Bild zu bleiben, eher in der Herde der Last- und Nutztiere als in den Reihen der rebellischen Freiläufer verorten. Sie wollen einen Aufbruch, aber bitte geordnet und ohne allzu große Überraschungen. Alle sollen mitgenommen werden und jeder soll zu seinem Recht kommen. Neue Pläne gern, aber keine wilden Experimente. Verlässlichkeit. Gerechtigkeit. Berechenbarkeit. Gutes Regieren. Nah bei de Leut. Im Zweifel an der Spitze lieber ein Sparkassendirektor als ein Zirkusartist. So, und damit sind wir endlich beim …
… WAS STEHT AN?
Denn der Mann, der all das verkörpert, wonach viele Genossen im Stillen verlangen, dürfte in Wahrheit die besten Aussichten auf den Sieg im Rennen um den SPD-Parteivorsitz haben. Er hat lange auf seine Chance gewartet. Warten kann er. Taktik kann er auch. Gemeinsam mit Andrea Nahles hat er das Obermegatrampeltier Sigmar Gabriel in die ewigen Jagdgründe befördert und das strauchelnde Semimegatrampeltier Martin Schulz ins nächste Bachbett gerempelt. Treu stand er der Chefin Andrea zur Seite, hielt fest ihre Hand. Aber als auch sie anfing, einen Fehler nach dem anderen zu machen, als sie im Bundestag Kinderlieder trällerte und dem ollen Maaßen seine Beförderung durchwinkte, da sah er, dass auch sie es nicht schaffen würde, sich auf dem Thron zu halten. Also ließ er ihre Hand los und trat zur Seite. Erst ein bisschen, dann ein paar Schritte, schließlich sah er ihr beim Stürzen zu.
Und nun ist seine Stunde gekommen. Nicht, weil er ein kalter Karrierist wäre, sondern weil er der einzige Kandidat ist, der in einer Person langjährige Regierungserfahrung, internationale Kontakte, Bodenständigkeit und neben einem großen Maß politischer Abgebrühtheit auch das Gespür für die Sorgen und Nöte der kleinen Leute vereint. Ein Pragmatiker mit Herz: So sieht sich Olaf Scholz selbst. In wenigen Tagen könnte er zur neuen, vielleicht auch zur letzten großen Hoffnung der deutschen Sozialdemokratie gekürt werden.
Olaf Scholz ist der Mann der Stunde. Also muss er natürlich mit Deutschlands digitalem Leitmedium sprechen. Also haben mein Kollege Johannes Bebermeier und ich ihn im Bundesfinanzministerium zum ausführlichen Gespräch getroffen. Der Vizekanzler ist kein Sprücheklopfer, trotzdem ist es ein ziemlich lebhaftes Interview geworden. Wir haben über die Probleme der SPD gesprochen, über seine Ideen zur Lösung der Probleme, über Populismus, über seine erstaunlichen Pläne für eine Digitalsteuer – und natürlich über das umstrittene Klimapaket der Bundesregierung. Als die Sprache darauf kam, wurde der nüchterne Minister regelrecht aufbrausend: Die Kritik vieler Kommentatoren, darunter auch der Tagesanbruch-Autor, kann er überhaupt nicht nachvollziehen, er nennt es "Wohlhabenden-Gerede". Da mussten wir natürlich nachhaken. Hier lesen Sie das Interview, das heute im politischen Betrieb viel Beachtung finden dürfte.
Was tut man in der Politik, wenn man zwar große Ambitionen, aber miese Umfragewerte hat, ständig Fehler macht, kein Bein auf den Boden bekommt? Man versucht einen Befreiungsschlag. Das ist in der CDU nicht anders als in der SPD. Der Befreiungsschlag der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer heißt "internationale Sicherheitszone in Nordsyrien". Soldaten aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien sollen gemeinsam mit der russischen und der türkischen Armee im Kriegsgebiet zwischen Assad-Truppen, iranischen Milizen, kurdischen Kämpfern und wiedererstarkenden IS-Terroristen für Ruhe sorgen? Das wäre nach acht Jahren europäischer Apathie angesichts des Syrienkriegs ein Paukenschlag – und eine spektakuläre Kehrtwende der deutschen Außenpolitik. So ein diplomatischer Vorstoß kann nur gelingen, wenn er sorgfältig durchdacht, umsichtig abgestimmt und akribisch geplant wird. Kramp-Karrenbauers "Initiative" ist nichts davon. Sie hat weder Außenminister Heiko Maas noch die anderen SPD-Spitzenpolitiker noch die europäischen Verbündeten anständig einbezogen, und sie kann bisher auch nicht erklären, wie sie sich den Einsatz genau vorstellt. Im Versuch, endlich politisch zu punkten, hat sie offenbar einfach mal einen Stein ins Wasser geworfen. So entpuppt sich ihr Befreiungsschlag als Schlag ins Wasser. Vertrauenswürdige Außenpolitik sieht anders aus.
WAS LESEN UND ANHÖREN?
Blut, Horror und überraschende Wendungen zeichnen die Thriller von Sebastian Fitzek aus. Zum Erscheinungstermin seines neuen Buches "Das Geschenk" verrät der Bestsellerautor im Interview mit meinen Kollegen Charlotte Janus, Martin Trotz und Nicolas Lindken, wie der perfekte Mord aussehen muss – und wovor er sich fürchtet.
Die Wissenschaft gehört zu den spannendsten Bereichen des Lebens – einerseits. Andererseits reden Wissenschaftler über ihre Themen zu oft nur auf Konferenzen mit anderen Experten. Unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld will das ändern. Sie stellt Forschern und Experten Fragen, hakt nach, ordnet ein. Und Sie können dabei zuhören: im neuen Podcast "Tonspur Wissen", den t-online.de zusammen mit der Leibniz-Gemeinschaft startet. In der ersten Folge geht es um 70 Jahre Bundesrepublik, 30 Jahre Wende und die Frage, was wir alle aus der Geschichte für die Zukunft lernen können. Hören Sie bitte mal hinein und abonnieren Sie den Podcast kostenlos. Es lohnt sich!
Das Pflanzenschutzmittel Glyphosat ist hoch umstritten, ab Ende 2023 soll es in Deutschland verboten werden. Doch ohne Herbizide müssen Landwirte womöglich bald viele Flächen brach legen. Wie könnte eine Lösung aussehen – nachhaltig, aber pragmatisch? Das wollten wir gerne wissen. Also haben wir den Winzer Hans Rudolf Kiesgen um einen Gastbeitrag gebeten. Der hat es in sich.
WAS AMÜSIERT MICH?
Wenn mehrere Tausend Bauern demonstrieren, dann steht der Verkehr schnell still. Der Trubel kann sich aber auch ganz schnell wieder auflösen.
Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Tag. Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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