Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Jetzt gehen sie auf die Barrikaden
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
herzlichen Dank für die vielen Zuschriften in den vergangenen Tagen. Ich freue mich über Zuspruch und Anregungen ebenso wie über konstruktive Kritik.
Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Welch ein Gegensatz: In Peking demonstriert die Staatsspitze mit einem militärischen Schaulaufen ihre absolute Macht, lässt Panzer rollen und 15.000 Soldaten aufmarschieren. Und 2.000 Kilometer weiter südlich, in Hongkong, fordern Tausende Demonstranten die absolute Macht heraus. Die Lage eskaliert. Erstmals seit Beginn der Proteste wird ein Demonstrant von scharfer Polizeimunition niedergestreckt, es gibt 15 Schwerverletzte. Die Bilder gehen um die Welt, in den sozialen Netzwerken außerhalb Chinas sind sie viel präsenter als die Fotos der Stechschrittparaden auf dem Platz des Potemkinschen, Pardon: Himmlischen Friedens.
Embed
Den Politbüro-Bossen ist die sorgfältig geplante Inszenierung ihrer Macht entglitten, das dürfte sie noch viel mehr schmerzen als der Protest selbst. Wie werden sie reagieren? Von einem Regime, das Widerspruch als Anmaßung empfindet und Toleranz als Schwäche, können wir keinen allzu langen Geduldsfaden mehr erwarten. Beruhigend ist das nicht.
Das muss man erst mal sacken lassen: Eintausend. Kilometer. Stau. Und das in einem so kleinen Land wie den Niederlanden. Gestern war Rekordtag bei unseren Nachbarn, wenn auch einer, in dem man nicht so gern festgesteckt hätte. Schuld am Stillstand auf den Straßen waren die Bauern und ihre Trecker: In Scharen tuckerten sie zu Protestveranstaltungen, versammelten sich in Den Haag. Im südlichen Brabant kurvten sie in Schlangenlinien über die Straße, damit auch ja keiner an ihnen vorbei kam. Im ländlichen Ommerkanaal rollten sogar die Bauernkinder mit ihren Spielzeugtreckern im Protestkonvoi. Die Landwirte haben die Nase voll. Warum? Es gibt Zoff um die ganz großen Fragen. Die Umwelt. Das Klima. Und die Zukunft.
Wie unter der Lupe können wir in den kleinen Niederlanden einen Konflikt studieren, der auch uns bald einholen wird. Schon längst leben wir in einer Welt der Städter, in der Dienstleistungsgesellschaft, und das tägliche Brot ist nur noch eine Serviceleistung aus dem Supermarkt. Auf dem Lande wünschen wir uns ein Idyll, frische Luft, unberührte Natur. Pestizide? Sind Mist. Glyphosat? Muss weg. Agrarfabriken? Bloß nicht. Aber wenn sich in der Kirsche aus dem Supermarkt eine Made ringelt, der Apfel schrumpelt und an der Fleischtheke die Preise steigen, meckert der urbane Konsument.
Nicht nur in den Niederlanden, auch in Deutschland trifft es Landwirte, dass man ihre Arbeit nicht mehr schätzt und es ihnen nicht mal ab und zu dankt, dass der Tisch so reich gedeckt ist. Ihr Image hat auf breiter Front gelitten: Am Bienensterben sind sie schuld, im Stall steht nicht mehr die freundliche Kuh, sondern der muhende Klimaschädling, Geflügelhaltung und Mineraldünger verseuchen die Böden mit Ammoniak. In Holland, dem weltweit zweitgrößten Exporteur von Agrarprodukten, prallen die Weltsicht von Stadt und Land noch härter aufeinander. Eine zentrale Forderung der aufgebrachten Landwirte gestern: nicht mehr der Buhmann der Nation zu sein. Nicht mit immer neuen Auflagen zu einem Umbau des Stalls nach dem anderen gezwungen zu werden. Klimaschutz, schön und gut – aber vielleicht könnte dann auch im Luftfahrtdrehkreuz Amsterdam Schiphol das eine oder andere Flugzeug weniger starten? Das hätte doch ebenso einen Effekt.
Bei unseren Nachbarn sehen wir mit der Distanz der Außenstehenden auf eine neue Art von Verteilungskampf: Die knappe Ressource der Zukunft ist das Recht auf Verschmutzung. Denn ganz ohne Dreck, Chemie und klimaschädliche Gase geht es nicht, wie Ihnen der Bauer Ihres Vertrauens gerne bestätigen wird – jedenfalls nicht zu den Preisen von heute. Eine breite Mehrheit in unserem Land hat sich hinter dem Klimaschutz versammelt, und in Bayern war das Volksbegehren zur Rettung der Bienen so erfolgreich, dass die CSU nun grüner als die Grünen sein will. Wenn Sie ein regelmäßiger Leser des Tagesanbruchs sind, wissen Sie, dass auch ich von Glyphosat nichts, aber von entschlossenem Handeln gegen die Klimakrise viel halte. Wenn wir allerdings nach Holland schauen, wissen wir, warum die Bundesregierung dabei kalte Füße bekommt.
Denn wir Bürger mögen die Ziele, aber nicht so sehr die Konsequenzen. Der Kampf darum, wer denn nun wie viele Emissionen konkret einsparen muss, ist noch nicht voll entbrannt. Die Argumente sind aber schon in Stellung gebracht. Bauern bejammern den Verlust der Wirtschaftlichkeit, Industriekapitäne erinnern uns an den Erhalt von Arbeitsplätzen, und Autofahrer sind auch nicht um Ausreden verlegen, wenn das Tempolimit wieder mal zur Debatte steht. Beschränkungen? Klar! Fangen Sie doch bitte ganz weit da drüben schon mal an. Nicht bei mir. Sonst hol ich meinen Trecker.
Auf Dauer, fürchte ich, fahren wir mit dieser Einstellung alle gegen die Wand.
WAS STEHT AN?
Was ist Gerechtigkeit? Im Oktober 2018 ertönte sie mit lauter Stimme: Nachdem der saudische Journalist Jamal Khashoggi heute vor einem Jahr im saudischen Konsulat in Istanbul umgebracht worden war, forderten Politiker und Aktivisten rund um den Globus eine harte Strafe für die Mörder und ihre Auftraggeber. Die Spur der Beweise und Indizien führte schnell ins wahhabitische Königshaus. Dessen Kronprinz Mohammed bin Salman bewies große Kunst darin, die Verantwortung erst gänzlich zu leugnen, dann scheibchenweise einzugestehen und auf untergebene Sündenböcke abzuwälzen. Aber der Imageschaden für den selbsternannten Reformer war groß – und wurde noch größer. Plötzlich erinnerte sich die Weltöffentlichkeit daran, dass es ja auch selbiger Salman war, der im Jemen einen erbarmungslosen Krieg mit Zigtausenden Opfern führte. Viele Reden wurden geschwungen, viele Artikel geschrieben und viele Forderungen erhoben: Salman solle zur Rechenschaft gezogen, die saudische Regierung mit harten Sanktionen bestraft werden.
Und ein Jahr später? Sehen wir den Kronprinzen Seite an Seite mit den mächtigsten Staats- und Regierungschefs der Welt auf G20-Gipfelfotos grinsen. Der US-Präsident preist seine Arbeit als “spektakulär“ an, und auch in den meisten anderen Hauptstädten hat längst die Real- über die Menschenrechtspolitik obsiegt. Im Konflikt mit dem Iran ist Salman der wichtigste Verbündete, und selbst wenn man ihm, wie die Bundesregierung, noch keine Waffen liefern möchte, sucht man doch wieder den guten Draht nach Riad. Im nahöstlichen Dauerkonflikt geht nichts ohne den Scheich, und er ist ja auch sehr reich. Den vier Kindern Jamal Khashoggis soll er Luxusvillen und hohe Geldsummen geschenkt haben. Wir dürfen es wohl Schweigegeld nennen.
“Die westlichen Staatsführer scheinen langsam wieder normale Beziehungen zu Saudi-Arabien herstellen zu wollen“, sagt die französische Menschenrechtsexpertin Agnès Callamard. Sie hat den Mord an Khashoggi im Auftrag der Vereinten Nationen untersucht und schildert dessen Hergang und Details in einem packenden Interview mit der "Zeit". “Vor allem für US-Präsident Donald Trump hat der Mord nichts daran geändert, dass er den saudischen Kronprinzen zu seinen wichtigsten Verbündeten in der arabischen Welt zählt. Auch die europäischen Regierungen, Deutschland eingeschlossen, scheinen eine Normalisierung mit Saudi-Arabien zu wollen. Das ist ein furchtbares Signal. Es zeigt, dass ein mächtiges Land wie Saudi-Arabien sich sogar aus einem Mord herauskaufen kann. Das macht mich wütend.“
Und das ist der Punkt, an dem ich mich wiederhole: Was ist Gerechtigkeit?
Vor einiger Zeit saß ich mit Udo Lindenberg in einer Bar. Wir wollten eine Flasche Eierlikör in Sicherheit trinken, bevor sie die Gelüste anderer Gäste weckte. Hat geklappt. Währenddessen berichtete mir der Panikrocker von den Anfängen seines Rockerlebens in Gronau und in Libyen und verriet mir endlich das Geheimnis, wo er die Lederjacke aufgegabelt hatte, die er Anfang der Achtzigerjahre dem damaligen SED-Oberindianer Erich Honecker kredenzt hatte. Damit der Erich sich mal locker machen möge. Machte der leider nicht. Trotzdem ist die Geschichte köstlich, erst recht, wenn sie in Udos Worten vorgetragen wird (ich habe sie vor einigen Jahren hier protokolliert). Jedenfalls kann sich der Bundespräsident glücklich schätzen, falls ihm der Panikrocker heute ein bisschen davon zu erzählen geruht, wenn ihm gemeinsam mit 24 weiteren verdienten Bürgern der Verdienstorden zum Tag der Deutschen Einheit verliehen wird.
Der ist zwar erst morgen, aber schon heute knallen vielerorts die Korken. Das offizielle Bürgerfest darf in diesem Jahr die Stadt Kiel ausrichten. Halle an der Saale gedenkt in einer Ausstellung der Opfer des DDR-Grenzregimes. In Leipzig erinnert man sich der Großdemonstration vor 30 Jahren: 70.000 Demonstranten zogen am 9. Oktober 1989 über den Innenstadtring und forderten Reformen. Und morgen dürfen dann Sie und ich und mehr als 82 Millionen weitere Bürger an allen Orten dieses schönen, wiedervereinigten Landes die Gläser erheben und uns mindestens drei große Schlucke genehmigen. Einen darauf, dass diese Revolution so friedlich vonstattenging. Einen zweiten darauf, dass die Wiedervereinigung so schnell gelang. Und einen dritten darauf, dass die deutsche Einheit trotz aller fortbestehenden Probleme ein riesengroßer Erfolg ist. Prost!
DIE (MÖGLICHERWEISE) GUTE NACHRICHT
Der britische Premierminister Boris Johnson hält zum Abschluss des Tory-Parteitags in Manchester eine Rede, in der es natürlich um den Brexit geht. Nur noch ein knapper Monat bleibt ihm bis zum Austrittsdatum, also hat er fix einen “umfassenden Plan“ angekündigt, der das Dauerdrama endlich beende. Dabei geht es um die Frage, wie sich die Grenzkontrollen zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland so gestalten lassen, dass zwar alle Warentransporte kontrolliert werden, aber niemand etwas davon merkt. Eine harte Grenze birgt die Gefahr, dass die Gewalt im Norden wieder aufflammt. In Dublin und Brüssel bezweifelt man, dass Herr Johnson wirklich einen Plan hat. Aber wer weiß, vielleicht überrascht er uns ja.
WAS LESEN?
Der Mann mit der schwarzen Weste im Weißen Haus hat einen neuen Gegner: Adam Schiff soll für die US-Demokraten das umkämpfte Amtsenthebungsverfahren durchziehen. Wie macht er das? Unser Amerika-Korrespondent Fabian Reinbold erklärt es Ihnen. Und wenn Sie sich auch sonst dafür interessieren, was hinter den Kulissen des amerikanischen Politikbetriebs geschieht, sollten Sie den Newsletter unseres Reporters abonnieren.
Bei der AfD häufen sich die Parteiausschlussverfahren – und ziehen sich zugleich immer weiter in die Länge. Es sei "quasi unmöglich..., Mitglieder... wegen Antisemitismus oder verfassungsfeindlicher Äußerungen aus der Partei zu entfernen" beklagt ein AfD-Bundestagsabgeordneter in einem internen Papier, auf das unser Rechercheur Lars Wienand gestoßen ist. In der Partei wird nach Lösungen gesucht, unliebsame Vertreter loszuwerden. Aber es gibt auch Stimmen, die genau das verhindern wollen.
Wenn heute Abend Borussia Dortmund in der Champions League bei Slavia Prag gastiert, wird auch Patrik Berger im Stadion sitzen. Der 45-Jährige wurde beim Verein aus der tschechischen Hauptstadt groß, spielte in den Neunzigern für die Dortmunder und verbrachte später einen Großteil seiner Karriere beim FC Liverpool. Im Interview mit meinem Kollegen David Digili vergleicht er die Trainer Lucien Favre und Jürgen Klopp und verrät… na, lesen Sie doch selbst.
WAS AMÜSIERT MICH?
So, so, der Heinz-Christian Strache beendet also seine politische Karriere.
Morgen stoßen wir auf die deutsche Einheit an, da darf der Tagesanbruch pausieren. Am Freitag und Montag schreiben meine Kollegen Florian Wichert und Peter Schink für Sie. Mich lesen Sie dann nach dem ausgiebigen Anstoßen wieder. Dienstag vermutlich. Ich wünsche Ihnen frööööhliche Tage. Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.