Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Diese Religion führt uns nicht zum Heil
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Jede Epoche hat ihre Parole. Die Parole unserer Epoche besteht nur aus vier Buchstaben, ist aber mächtiger als alle Präsidenten, Kanzler und Staaten dieser Welt zusammen. Sie lautet: mehr. Ein kurzes Wort nur, aber es gibt Wirtschaft und Politik den Takt vor. Mehr Produktion, mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Wohlstand: So lautet der quasireligiöse Glaubenssatz, dem sich nicht nur die Eliten, sondern auch die Mehrheit der Weltbevölkerung unterworfen hat. China katapultiert mithilfe des Mehr-Prinzips Millionen Menschen binnen Jahren aus der Armut in den Mittelstand. Indien eifert nach. Afrikanische Regenten lassen sich von den Kolonialisten aus Peking ebenso inspirieren wie von den Öl-, Erz- und Diamantenhändlern aus Europa. Amerika hat die Überwindung seiner Finanzkrise mit einer entfesselten Ausbeutungsökonomie erkauft. Der Unterschied zum 19. Jahrhundert besteht nur darin, dass nicht mehr die Arbeiter, sondern die Natur ausgebeutet wird.
Auch hierzulande singen Firmenchefs und Wirtschaftspolitiker laut den Choral vom ewigen Mehr. Bayer schluckt den größten Giftmischer der Welt, um seine Gewinne zu mehren. Daimler und Siemens spalten ihre Konzerne in Sparten auf, um die Welt mit noch mehr Limousinen, Lkw, Gasturbinen und Windrädern beglücken zu können. Volkswagen schraubt viel mehr Autos zusammen, als es verkaufen kann, und mottet die Neuwagen auf Parkplätzen und Flughafenruinen ein. Nichts wäre schlimmer als stillstehende Fließbänder. Die Fabriken müssen mehr und mehr produzieren, und die nächsten werden schon gebaut.
Embed
Die Religion des ewigen Mehr rundheraus zu verdammen, wäre wohlfeil. Denn auch wir Konsumenten zählen ja zur Gemeinde, auch wir halten die Bänder am Laufen: mehr Autos in der Garage, mehr Geräte im Haushalt und mehr Kleider im Schrank; mehr kaufen, mehr bestellen, im Internet geht’s so einfach, dabei quellen unsere Keller längst über. Laut Statistischem Bundesamt besitzt jeder Deutsche durchschnittlich 10.000 Dinge. Vor gut hundert Jahren waren es noch 180. Wir kaufen mehr, wir werfen mehr weg und dann kaufen wir noch mehr. Niemand wirft so viele Elektrogeräte auf den Müll wie die Deutschen, in jedem Haushalt stehen durchschnittlich mindestens zwei Fernseher, und wenn das neue Modell auf den Markt kommt – noch größer, noch leichter, mit noch schärferem Bild – dann kommt es rein in die gute Stube und das alte fliegt raus. Mehr, mehr, mehr: Das ist der Takt der globalisierten Wirtschaft, und die meisten von uns marschieren im Stechschritt mit.
Glücklicher werden wir dadurch offenbar nicht. "Die meisten Dinge scheinen eher eine Belastung zu sein", schrieb die "Rhein-Neckar Zeitung" schon vor Jahren in einer nachdenklichen Analyse über den kollektiven Kauftausch. "Zufriedenheit scheint mit der materiellen Ausstattung jedenfalls nicht so zusammenzuhängen, wie es immer wieder kommuniziert wird. Werbung suggeriert ohne Unterlass, dass Konsum und Besitz für den Stellenwert des Individuums entscheidend seien. Ein Kaufimpuls löst den nächsten ab. Die Bedürfniskette wird zur unendlichen Spirale." Die Zeitung zitiert den Münchner Philosophen Michael Hirsch: "Dieses Wachstum bedeutet keinen qualitativen Fortschritt, sondern nur noch ungleichere Verteilung und steigende Umweltschäden."
Diesen Satz lesen wir jetzt noch einmal, bevor wir nach der langen Vorrede endlich den Schlenker zur Aktualität finden: Dieses Wachstum bedeutet keinen qualitativen Fortschritt, sondern nur noch ungleichere Verteilung und steigende Umweltschäden. Diese Mahnung im Ohr, schauen wir uns an, was die Staats- und Regierungschefs der EU gerade angestellt haben: Am Rande des G20-Gipfels in Japan vereinbarten sie gemeinsam mit den lateinamerikanischen Mercosur-Staaten die größte Freihandelszone der Welt. Zölle sollen ebenso wegfallen wie Importverbote für viele umstrittene Produkte. Von einem riesigen Fortschritt und enormen Wachstumschancen schwärmen die Politiker, Konzernbosse diesseits und jenseits des Atlantiks applaudieren stürmisch (mehr zu dem Abkommen hier).
Kein Wunder, die Vorteile so einer Freihandelszone liegen ja wirklich auf der Hand. VW, Mercedes und BMW können noch mehr Autos bauen und nach Übersee verschiffen. Die kriselnden Reedereien bekommen endlich mehr Fracht für ihre zu viel gebauten Schiffe. Bayer-Monsanto darf zahlreiche gefährliche Pestizide, deren Einsatz in Europa längst verboten ist, nun endlich nach Brasilien verkaufen, damit dort noch mehr Urwald gerodet, noch mehr Zuckerrohr, Mais und Soja angebaut und noch mehr Rinder gezüchtet werden können. Den Zucker, das Öl und das Fleisch nehmen dann wir Europäer ab. Wir werden noch den Tag erleben, an dem ein Kilo argentinisches Rinderfleisch weniger kostet als eines aus Schleswig-Holstein. Die Formulierungen zum Schutz von Klima und Wäldern allerdings sind in dem Abkommen so windelweich formuliert, dass sie zwar gut klingen, aber ebenso gut zu ignorieren sind. Schon jetzt hat die Abholzung des Regenwaldes unter Brasiliens neuem Präsidenten Bolsonaro um mehr als 50 Prozent zugenommen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich habe nichts gegen Fortschritt, im Gegenteil. Selbstverständlich soll jeder Mensch ein glückliches Leben in Zufriedenheit und Wohlstand genießen dürfen. Aber wenn wir den Fortschritt damit erkaufen, dass wir die ohnehin schon geschundene Natur noch weiter ausbeuten, komme ich ins Grübeln. Und wenn ich dann Frau Merkel, Herrn Macron und all die anderen europäischen Chefs sehe, wie sie ihren Deal mit Herrn Bolsonaro und den anderen Präsidenten aus Lateinamerika noch schnell vor Antritt der neuen EU-Kommission durchdrücken und sich selbst dafür feiern, stelle ich mir die Frage nach dem Verantwortungsbewusstsein. Denn manchmal ist mehr eben zugleich weniger: weniger Umweltschutz, weniger Gesundheitsschutz, weniger Nachhaltigkeit. Diese Religion, so fürchte ich, wird uns nicht zum Heil führen.
WAS STEHT AN?
Apropos Merkel und Macron: Stundenlang haben die beiden mit den anderen EU-Chefs in Brüssel verhandelt, wer neuer Kommissionschef wird. Aufgrund der komplizierten Mehrheitsverhältnisse nach der EU-Wahl waren die Verhandlungen kniffelig. So kniffelig, dass heute Morgen weiterverhandelt werden muss.
Bei der SPD beginnt heute die Bewerbungsfrist für den Parteivorsitz. Bis zum 1. September kann sich jeder melden, der sich das Amt antun, Pardon, angedeihen lassen will. Danach ist ein Mitgliederentscheid geplant, die endgültige Entscheidung wird erst im Dezember auf einem Parteitag getroffen. Womöglich läuft es auf eine Doppelspitze hinaus: Kevin Kühnert plus x (wobei x eine Frau sein muss).
Was hierzulande als verabscheuungswürdig gilt, halten viele Japaner für eine Delikatesse. Auch deshalb macht Japan heute erstmals seit rund drei Jahrzehnten wieder kommerziell Jagd auf Wale. Die Regierung sprach lange von "wissenschaftlichen Zwecken", Tierschützer sprechen von einem "herben Rückschlag für den Artenschutz".
1979 war ein Jahr des Umbruchs: Die Revolution im Iran, Margaret Thatchers Machtantritt, der sowjetische Einmarsch in Afghanistan – und eine bahnbrechende Erfindung in Japan. Walkman nannte der Elektronikriese Sony seinen tragbaren Mini-Kassettenspieler. Das erste Modell mit der Typennummer TPS-L2, das heute vor 40 Jahren auf den Markt kam, sehen Sie oben abgebildet. Ein Meilenstein der Jugendkultur: Musik nicht mehr nur zu Hause, Musik nun auch in der Bahn (lässig), auf dem Fahrrad (gefährlich), in der Schule (heimlich), beim Joggen (nur kurz, bis das Band leierte). Ein paar Jahre später erstand ich meinen ersten Walkman, monatelang vom Munde abgespart. Natürlich hatte er schon bald den ersten Defekt (Rückspultaste futsch), natürlich verhedderten sich per-ma-nent die Kassettenbänder (Tesa heilt alle Wunden) – und natürlich war dieses Gerät trotzdem mein ein und alles. Freiheit, Coolness, Energie: All das schenkte mir dieser kleine Kasten. Deshalb verbeuge ich mich heute tief gen Osten und sage aus voller Inbrunst: Domo arigato!
Ein junger Mensch nimmt aus einem Regal voller Fußballschuhe ein weißes Paar heraus, mustert es, geht zum Spülbecken, dreht den Wasserhahn auf, greift nach einer dicken Bürste und fängt an, die guten Stücke von oben und unten, von vorne und hinten zu säubern. Mit dieser Szene vom Schuhe putzenden Toni Kroos beginnt der Dokumentarfilm über Deutschlands wohl besten Kicker der Gegenwart. Unser Kolumnist Gerhard Spörl hat den Film, der am Donnerstag in die deutschen Kinos kommt, bereits gesehen. Hier ist seine Eloge auf die Nummer 8.
WAS LESEN?
Ein neuer Ton verbreitet sich im politischen Betrieb, sogar Scharfzungen wie Alexander Dobrindt haben plötzlich Kreide gefressen. Noch genauer trifft Robert Habeck den neuen Ton: konstruktiv statt krawallig, empathisch statt herablassend, an der Sache statt am eigenen Ego orientiert. Man muss noch nicht mal mit dem Grünen-Chef einer Meinung sein, um festzustellen, wie erfolgreich er damit ist. Ebenso wie die Bundeskanzlerin übrigens. Was ist das Erfolgsgeheimnis? Unser Parlamentsreporter Jonas Schaible hat es entschlüsselt.
WAS AMÜSIERT MICH?
Haben Sie am Wochenende auch so geschwitzt?
Ich wünsche Ihnen ein wenig Abkühlung und einen erfolgreichen Start in die Woche.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.