Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist EU-Kommissionschefin: Sie wäre eine starke Lösung
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WAS WAR?
Eine gewöhnliche Situation, wie sie fast jeder kennt: Man sitzt im Flugzeug, vielleicht bringt die Crew gerade das Essen. Oder es ist schon abgeräumt, bisschen Film gucken, vielleicht dösen. Alles wie immer, alles entspannt, wir können uns da gut hineinversetzen. Dass es im nächsten Moment die zarte Hülle zerreißt, die uns am Leben hält und vor den Elementen schützt, mit einem Blitz, dem Tosen, der Panik, in der nichts mehr oben und nichts mehr unten ist, man irgendwie abwärts rast, und dann wird es schwarz ... nein, das wollen und müssen wir uns zum Glück nicht vorstellen. Aber es ist passiert. Das Grauen, das den gewöhnlichen Linienflug MH17 von einem Moment auf den nächsten ereilt hat, das keiner überleben konnte: Es ist nicht wirklich zu begreifen.
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Eine Rakete hat das Passagierflugzeug am Himmel zerfetzt, am 17. Juli 2014 auf dem Weg von Amsterdam nach Malaysia. 298 Menschen starben. Es gibt inzwischen keinen Zweifel mehr daran: Eine russische Boden-Luft-Rakete vom Typ "Buk" ist es gewesen, abgefeuert von einer mobilen Abschussrampe in der Ostukraine. Eine multinationale Ermittlergruppe unter Führung der Niederlande hat in mühevoller Kleinarbeit und ohne die Kooperation Russlands die Puzzleteile zusammengefügt und die russische Einheit identifiziert, deren Luftabwehrsysteme zur Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine über die Grenze gerollt sind. Gestern gingen die Ermittler einen großen Schritt weiter: Sie benannten vier Verantwortliche für den Abschuss. Und sie erheben Anklage. Wegen Mordes.
Drei Russen und einen ukrainischen Staatsbürger hat der niederländische Oberstaatsanwalt ausgemacht, und sie sind nicht irgendwer. An der Spitze der Befehlskette: Igor Girkin, "Verteidigungsminister" in der Separatistenhochburg Donezk. Dessen Stellvertreter Sergey Dubinskiy, ein Geheimdienstmann. Ihm direkt untergeben: Oleg Pulatov. Alle drei sind dem russischen Geheimdienst oder Spezialeinheiten des Militärs entwachsen. Der vierte im Bunde ist ein regionaler Kommandeur. Allen gemein: Sie hatten übergeordnete Befehlsgewalt. Keiner von ihnen – das sagen selbst die internationalen Ermittler – hat beim Abschuss der Rakete den Knopf gedrückt.
Dass die Ermittler es geschafft haben, angesichts der russischen Blockadehaltung und einer beispiellosen Desinformationskampagne die Entscheidungsträger in der Kommandostruktur zu benennen, ist schon für sich genommen ein kleiner Sieg der Gerechtigkeit. Natürlich, niemand glaubt, dass die Angeklagten zum Prozess erscheinen oder im Falle einer Verurteilung gar ins Gefängnis gehen. Trotzdem entfaltet es abschreckende Wirkung, wenn die Verantwortlichen für eine solche Bluttat zur Rechenschaft gezogen werden. Die internationale Ächtung bleibt: mit Name, Foto – und einem offenen Haftbefehl.
Diesen Sieg der Gerechtigkeit kann man aber schnell wieder untergraben. Zum Beispiel, indem man mit der Schuldzuweisung über das Ziel hinausschießt. Die Kommandeure werden angeklagt, weil sie die Verlegung der "Buk"-Raketen in die Ostukraine angeordnet und organisiert haben. Nicht einmal der Staatsanwalt behauptet, sie hätten damit den Abschuss einer Passagiermaschine angestrebt. Aus dieser allgemeinen Verantwortlichkeit wird eine Anklage wegen Mordes abgeleitet, was den Vorsatz einschließt. Gewiss, die Abschussrampe stand nicht ohne Sinn und Zweck auf dem Feld herum. Die Militärs in Donezk trieb die Angst vor einem ukrainischen Gegenangriff um. In den abgehörten Gesprächen, die gestern präsentiert wurden, drängten sie auf eine massiv verbesserte Luftabwehr. Kurz darauf bezog das Panzerfahrzeug, das die Rakete abfeuerte, Position in der Kampfzone.
Die Ermittler haben es nicht dabei belassen, die Befehlshaber für katastrophale Fehlentscheidungen zur Rechenschaft zu ziehen. Ihr verantwortungsloses, fahrlässiges Handeln zu brandmarken. Oder ihnen vorzuwerfen, dass sie ihr entsetzliches Werk anschließend mit allen Mitteln zu verschleiern versuchten. Nein, es sollte ein Mordvorwurf sein. Das macht es Herrn Putin leicht, darüber den Kopf zu schütteln. Nicht nur den Russen, sondern künftig auch anderen Staaten geben die Ermittler leider eine Steilvorlage, vergleichbare Untersuchungen als absurd zu brandmarken – und sich auch dann aus der Affäre zu ziehen, wenn Mord tatsächlich zu verhandeln ist, wie bei den Anschlägen des russischen Geheimdienstes in Großbritannien. Der Gerechtigkeit ist so nicht gut genug gedient.
WAS STEHT AN?
Manchmal fügt es sich so, dass die beste aller Lösungen auf der Hand liegt, aber trotzdem nicht funktioniert. Kaum jemand wird bestreiten, dass die Europäische Union eine große Errungenschaft ist. Wir verdanken ihr Frieden, Sicherheit und Wohlstand auf unserem Kontinent, der so häufig von Krisen und Kriegen heimgesucht worden ist. Zugleich wird kaum jemand bestreiten, dass sich die EU seit Jahren selbst in einer tiefen Krise befindet. Schuldenberge und Target2-Salden, Entfremdung zwischen Beamten und Bürgern, Zerwürfnisse in der Migrations-, Verteidigungs-, Außen-, Steuer- und Klimapolitik – und vor allem die Jahr für Jahr aufgeschobene Antwort auf die große Frage, wie weit die Integration noch vorangetrieben werden soll: Das mächtigste Staatenbündnis der Welt produziert derzeit mehr Frage- als Ausrufezeichen.
Der Ruf nach Reformen ist längst zum Treppenwitz verkommen. Das bedeutet nicht, dass nichts geschieht, im Gegenteil: Viele Abgeordnete im neu gewählten EU-Parlament haben frische Ideen und wollen Impulse setzen. Aber vor die Arbeit an den Inhalten hat Brüssel das Schachern ums Personaltableau gesetzt: Zuerst sind alle Spitzenpositionen in der Union neu zu besetzen, und dabei spielt der heute beginnende Gipfel der Staats- und Regierungschefs eine wichtige Rolle. Alles steht und fällt mit der Besetzung des Kommissionspräsidenten. Steht diese Personalie, lassen sich die anderen Ämter (Ratspräsident, Außenbeauftragter, EZB-Chef) mehr oder weniger im Proporzverfahren davon ableiten: Mann/Frau, Herkunftsland, Parteizugehörigkeit, politisches Profil. Die Auguren in Brüssel flüstern uns zu, dass die finale Entscheidung wohl erst Ende des Monats fällt – aber die Weichen dafür, die werden heute und morgen gestellt.
Vordergründig konkurrieren zwei Konzepte: Soll der neue Kommissionschef aus den Reihen der Spitzenkandidaten der Parteien kommen, worauf viele Parlamentarier drängen? Dann hätte der christsoziale Deutsche Manfred Weber als Chef der stärksten Fraktion eigentlich die besten Karten. Oder sollen die Staats- und Regierungschefs den Kandidaten bestimmen dürfen, wie es vor allem Frankreichs wiedererstarkter Präsident Macron will? Dann hätte die liberale Dänin Margrethe Vestager gute Chancen.
Klingt so einfach, wird aber nicht so einfach funktionieren. Die Entscheidungsprozesse der EU sind ein Labyrinth, keine Autobahn – auch das mag zu ihrer gegenwärtig kritischen Verfassung beitragen. Deshalb horchen wir auf, wenn nun wieder und wieder ein ganz anderer Name genannt wird. Um ihre Probleme zu überwinden, brauche die EU jetzt eine starke Persönlichkeit, hören wir. Eine Person mit langer politischer Erfahrung, die die großen Linien der Politik ebenso gut kenne wie das knifflige Einmaleins der nächtlichen Marathonverhandlungen. Eine Person, die in der Lage sei, den Drang Berlins und Paris' zu einer vertieften europäischen Integration ebenso zu berücksichtigen wie die Interessen der kleinen Länder, die nicht abgehängt werden wollen. Schlussendlich: Eine Person, die weltweit höchste Anerkennung genieße und beste Kontakte mitbringe.
Diese Person gibt es, und sie hat auch einen Namen. Er wird hinter den EU-Kulissen vom Staatschef bis zum Sherpa nun immer wieder genannt, wenn es um den idealen Kommissionschef geht. Nur leider hat Angela Merkel öffentlich ausgeschlossen, noch mal ein anderes politisches Amt zu übernehmen (bisher zumindest). Manchmal fügt es sich so, dass die beste aller Lösungen auf der Hand liegt, aber trotzdem nicht funktioniert.
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Der Evangelische Kirchentag in Dortmund soll heute Impulse setzen: gegen die Spaltung der Gesellschaft, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus – und die Verrohung der Sprache. Dazu wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Grundsatzrede halten. Vor allem der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit treibt das Staatsoberhaupt um: Wie können wir auch künftig ein freies, selbstbestimmtes und zufriedenes Leben führen, wenn Algorithmen allmächtig werden, schlauer als jeder Mensch, wenn sie unserem Arbeits- und Sozialleben den Takt vorgeben? Sollten sie das überhaupt – und wer darf das entscheiden: Die hippe Avantgarde im Silicon Valley oder die Masse der Bevölkerung? Was können wir dagegen tun, dass nicht nur die politischen, sondern auch die sozialen Lebenswelten immer weiter auseinanderdriften: hier die online-affinen YouTuber, dort die Menschen, die fürchten, dass Roboter ihnen die Jobs wegnehmen?
Diese Fragen gehen uns alle etwas an. Deshalb hält der Bundespräsident seine Rede heute dort, wo er auf die Mitte der Gesellschaft trifft. 10.000 Menschen werden ihm in der Dortmunder Westfalenhalle zuhören.
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WAS LESEN?
So, so, der Mats Hummels will also künftig in Dortmund statt in München kicken. Kassieren die Borussen also künftig mehr Gegentore? Entschuldigung, das war jetzt böse, ich weiß. Ich sollte die Top-Personalie der Woche lieber jemanden kommentieren lassen, der wirklich was von alternden Abwehrspielern versteht. Autsch! Schon wieder böse. Jetzt aber bitte wirklich ganz nüchtern, Herr Harms! Also: Unser Fußballreporter Patrick Mayer analysiert, wie der Top-Transfer das Machtgefüge im Dortmunder Kader durcheinanderwirbelt.
WAS AMÜSIERT MICH?
Was sagt man eigentlich in Dortmunder Wohnzimmern zum Hummels-Transfer?
Ich hoffe, Sie haben heute keine Hummeln im Hintern. Genießen Sie doch ganz entspannt diesen schönen Tag!
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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