Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
"Die Leute sind traurig und verdrossen. Sie fühlen sich von der Politik allein gelassen."
"Es gibt hier sehr viele optimistische und engagierte Menschen."
"Die Angst der Leute hat zugenommen, egal, ob in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Einkaufen."
"Nur das subjektive Sicherheitsgefühl in der Stadt ist gestört."
"Wir sind keine ausländerfeindliche Stadt!"
"Der Alltagsrassismus hat hier zugenommen."
"Dass sich Nazis und Hitlergruß-Zeiger unter Demonstrationen mischen, kann man sicher nicht verhindern."
"Wer Gewalt verbreitet, der gehört nicht hierher!"
Deutliche Sätze, widersprüchliche Sätze, die ich gestern in Chemnitz gehört habe. Wie passen sie zusammen? Der Reihe nach.
Knapp zehn Wochen sind vergangen, seit Chemnitz weltweit in die Schlagzeilen geriet. Die Tötung eines jungen Mannes, die folgenden Ausschreitungen und der Kampf um die Deutungshoheit des Geschehens haben unzählige Berichte und eine wochenlange politische Debatte nach sich gezogen. Seltsamerweise haben die vielen Stimmen aber kaum dazu beigetragen, das Ereignis zu klären und zu verarbeiten. Im Gegenteil: Ich habe den Eindruck, dass bei vielen Menschen ein dumpfes Gefühl zurückgeblieben ist, das sich auf diesen Satz bringen lässt: Radikale von rechts und links versuchten, das Gewaltverbrechen für ihre ideologischen Zwecke zu instrumentalisieren, während zugleich viele Politiker und Journalisten pauschal viele Einwohner der Stadt als Extremisten brandmarkten. Ich sage ausdrücklich dazu: Dieser Eindruck deckt sich nicht mit meinem eigenen, denn die Berichte und Stellungnahmen zu den Ereignissen in Chemnitz erschienen mir überwiegend differenziert. Aber viele Menschen sehen das offenkundig ganz anders, vor allem in Sachsen.
Deshalb sollten wir erstens diesen Menschen zuhören. Und deshalb es ist zweitens sinnvoll, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was damals geschah: In der Nacht auf den 26. August kam es am Rande eines Stadtfestes zu einem Streit zwischen mehreren jungen Männern, angeblich ging es um Zigaretten. Dabei wurde der 35-jährige Deutsch-Kubaner Daniel H. erstochen und zwei weitere Männer mit russischen Wurzeln wurden schwer verletzt (Zeugenaussagen zum Tathergang hat der MDR hier dokumentiert). Tatverdächtig sind der flüchtige Iraker Farhad A. sowie der verhaftete Alaa S., der angibt, Syrer zu sein. Beide sollen 2015 im Zuge der Flüchtlingswelle nach Deutschland gelangt sein. Ein zeitweise dritter Verdächtiger wurde inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen.
Schon kurz nach der Tat riefen rechtsradikale Gruppen und auch AfD-Anhänger über Facebook und Messenger-Dienste wie WhatsApp, Telegram und Threema zu Demonstrationen gegen "Ausländerkriminalität" auf, hetzten gegen Migranten, verbreiteten Lügen und Gerüchte. In den folgenden Tagen zogen mehrere Demonstrationen durch die Stadt. Dabei vermischte sich der Protest von AfD-Anhängern und der Bewegung "Pro Chemnitz" mit demjenigen rechtsextremer Hooligans, die Parolen wie diese riefen: "Wir sind die Krieger, wir sind die Fans, Adolf Hitler, Hooligans!" Am Rande der Proteste wurden Polizisten, Journalisten, Migranten und SPD-Mitglieder angegriffen; die überforderte Polizei brauchte lange, bis sie in der Lage war, Recht und Sicherheit auf den Straßen wiederherzustellen. Recherchen meines Kollegen Jonas Mueller-Töwe und des ARD-Magazins "Monitor" zeigten, dass AfD-Funktionäre den Schulterschluss mit der sächsischen Neonazi-Szene vollzogen. Eine brandgefährliche Entwicklung.
Bezeichnend ist dennoch Folgendes: Viele Menschen in Sachsen haben den Eindruck, dass Politiker und Journalisten auch alle anderen Demonstranten – die nicht rechts denken und mit Neonazis nichts zu tun haben wollen – in einen Topf mit der Aufschrift "Rechtsextreme" warfen. Sie fühlen sich stigmatisiert, ihre Sorgen nicht ernst genommen, ihre Stimmen nicht gehört. Das haben mir Bürger gesagt, als ich vor zwei Monaten Chemnitz besuchte. Das haben mir auch zahlreiche Tagesanbruch-Leser aus Sachsen berichtet (einige dieser Zuschriften habe ich hier und hier veröffentlicht. Und das haben mir auch gestern wieder mehrere Chemnitzer erzählt.
Tatsächlich fällt es nicht schwer, eine dröhnende Sprachlosigkeit zwischen vielen Menschen in Sachsen einerseits und den Bundespolitikern in Berlin andererseits wahrzunehmen. Als einziges Mitglied aus Merkels Kabinett fuhr Familienministerin Giffey nach den Krawallen nach Chemnitz. Ihre Kolleginnen und Kollegen hielten dies ebenso wenig für nötig wie die Parteivorsitzenden von CSU und SPD. Die Kanzlerin will erst Mitte November kommen; begnügt sich aber nach jetzigem Stand damit, Leser der Lokalzeitung zu treffen.
Ich halte diese Sprachlosigkeit, diese Ignoranz für einen Fehler. Ich glaube, dass diese Haltung das Signal aussendet: Bei euch passiert zwar Schlimmes, aber kommt damit mal allein klar. Sicher, zuerst ist die Landespolitik zuständig. Sicher, der sächsische Ministerpräsident Kretschmer hat sich der Debatte mit Chemnitzer Bürgern gestellt. Die Probleme vor Ort sind aber zu groß, als dass die Bundespolitik sie derart nebensächlich behandeln kann, wie sie es bis heute tut. Manchmal entsteht der Eindruck, dass sie sich lieber damit beschäftigt, wer künftig welchen Spitzenposten bekommt, als damit, was die Leute im Land bewegt.
Deshalb ist es gut, dass es einen gibt, der es anders macht. Auch er hat lange dafür gebraucht, aber da er in seinem Amt gar nicht aktiv in die Politik eingreifen darf, ist das gerechtfertigt – und gestern war er da: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nahm sich zweieinhalb Stunden Zeit, um bei Kaffee und Kuchen mit Chemnitzer Bürgern zu diskutieren. Man darf sich so eine Kaffeetafel nicht als lockere Runde vorstellen, bei der jeder mal vorbeischauen kann. Abgeschirmt von Beamten des Bundeskriminalamts setzte sich Steinmeier in einem Museum mit 13 geladenen Gästen an den Tisch. Und fand die richtigen Worte:
"Ich bin nicht gekommen, um über Chemnitz zu reden. Oder über 'die Chemnitzer'", stellte er klar. "So wird in den letzten Monaten oft genug geredet oder geschrieben, und es trägt nicht unbedingt dazu bei, die Gräben, die es gibt, wieder zu schließen. Nein, ich bin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. Ich bin gekommen, um zuzuhören, um mit Ihnen darüber zu sprechen, wie wir zusammenleben wollen, und was uns zusammenhält. Ich bin überzeugt: Wir brauchen solche Gespräche, um es denen schwerer zu machen, die mit einfachen Antworten daherkommen."
Natürlich habe es ihn bewegt, was in Chemnitz geschehen ist, sagte der Bundespräsident. "Ganz hier in der Nähe ist einer Ihrer Mitbürger getötet worden. Eine solche Gewalttat erschüttert eine Stadt. Meine Anteilnahme gilt zuallererst der Familie des Opfers. Natürlich: Diese schwere Straftat muss geahndet werden – so wie jede andere auch, gleichgültig, von wem sie begangen wurde. Aber eins ist klar: Der Staat, und nur der Staat, ist für Sicherheit und Strafverfolgung zuständig! … In die Trauer über diese Tat hat sich Wut gemischt, bei manchen auch Ungehaltenheit. Aber eine Grenze ist überschritten worden, als die aufgewühlte Stimmung missbraucht wurde, um Hass auf Ausländer zu schüren, verfassungsfeindliche Symbole zu zeigen und Gewalt auf die Straßen zu tragen. Ich weiß auch: Mit Reden allein sind die Probleme noch nicht gelöst. Weder in Chemnitz noch irgendwo anders in Deutschland. Aber ein Dialog muss der Anfang sein. Denn die Unterschiede, die Gegensätze, die Konflikte werden bleiben. Sie gehören zu einer freiheitlichen Gesellschaft."
Entsprechend kontrovers ging es in der anschließenden Diskussion zu, und sie drehte sich vor allem um Ausländer: Ist die Innenstadt tatsächlich unsicherer geworden, weil Migranten stehlen, pöbeln, Frauen belästigen – oder sind das nur Einzelfälle, wie sie in jeder größeren Stadt vorkommen, von deutschen wie von ausländischen Tätern, aber in Chemnitz eben aufgebauscht werden? Die Meinungen waren geteilt. Das Bundespräsidialamt hatte bewusst sehr unterschiedliche Gäste eingeladen, Menschen mit syrischem und peruanischem Hintergrund ebenso wie Menschen, deren Familien seit Jahrzehnten in Sachsen leben. Nur bei einem Punkt waren sich alle einig: Es ist gut, miteinander zu reden und die Positionen der anderen zu kennen.
Und noch etwas habe ich mir notiert. Die 54-jährige Krankenschwester Monika Krauss hat es gesagt, als wir uns nach ihrem Treffen mit Steinmeier unterhielten: "Die Welt wird bunter und rückt enger zusammen, aber das Zusammenleben funktioniert nur, wenn sich jeder an Regeln und Werte hält. Wer hier eine Ausbildung absolvieren will oder die Sprache lernt, ist herzlich willkommen. Aber wer Straftaten begeht, der gehört nicht hierher. Die Regierung hat die Pflicht, das Volk zu schützen."
Ich denke, darauf können wir uns einigen.
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WAS STEHT AN?
Die Zeit bis zum Brexit wird immer knapper. Und der Druck auf die Unterhändler aus London und Brüssel immer größer. Wenn die Mikrofone angeschaltet sind, sehen wir eine Dame und mehrere Herren mit verkniffenen Gesichtern. Die Dame sagt: Wir sind kurz vor dem Durchbruch! Die Herren sagen: Sind wir nicht. Wenn die Mikrofone ausgeschaltet sind, hören wir, dass britische Investment-Banken auch nach dem Brexit Zugang zum EU-Markt erhalten sollen. Sie wären also enorm privilegiert, und das eilige Dementi der verkniffenen Herren beruhigt uns nicht wirklich: Das vermeintliche Zugeständnis sei "reines Wunschdenken unserer britischen Partner, das offenbar über den völligen Stillstand der Verhandlungen mangels britischer Bewegung hinwegtäuschen soll", zitiert der "Tagesspiegel" heute EU-Diplomaten.
Aber das ist nicht das Einzige, was uns alarmiert. Da ist noch etwas, und das ist noch viel beunruhigender. Ein ungeheuerlicher Verdacht keimt auf: Könnte es sein, dass Russland die Brexit-Abstimmung manipuliert hat, um die EU zu destabilisieren – ähnlich der Hacker-Intervention im US-Wahlkampf? Was wir wissen: Die britische Polizei ermittelt gegen den Hauptsponsor der Brexit-Kampagnen und dessen Mitstreiter. Arron Banks hatte die Kampagnen mit mehreren Millionen unterstützt – die Wahlkommission geht allerdings davon aus, dass das Geld nicht von ihm stammte. Britische Journalisten spüren seit Jahren der Frage nach, ob seine Geschäftsbeziehungen zu Russland eine mögliche Erklärung für die Spenden sein könnten. Jetzt prüfen die Ermittler, ob Banks und seine Brexiteers gegen Gesetze verstoßen haben. Der Brexit wird von Tag zu Tag dubioser.
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WAS LESEN?
Wenn Sie in diesen Tagen gelegentlich auf Facebook unterwegs sind, werden sie dort vielleicht Schockierendes über den Globalen Migrationspakt gelesen haben, den die UN im Dezember verabschieden wollen. Der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen behauptet beispielsweise, Kanzlerin Merkel wolle durch den Pakt "allen Migranten weltweit den Zugang nach Deutschland ermöglichen". Das ist eine dreiste Lüge – ebenso wie unzählige weitere Beiträge, die derzeit durchs Web geistern. Tun Sie mir bitte den Gefallen und lesen Sie diesen Text unserer Kollegen von watson.de. Dann kann Sie niemand hinters Licht führen.
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Mauern, Stacheldraht, erniedrigte Menschen: In Windeseile stampft China in der autonomen Provinz Xinjiang ein System von Erziehungslagern aus dem Boden – offiziell geschaffen, um der Minderheit der Uiguren die extremistischen Tendenzen auszutreiben. Tatsächlich sollen dort Menschen ihrer kulturellen Wurzeln beraubt und zu linientreuen Staatsbürgern zurechtgestutzt werden. Reporter und Wissenschaftler haben jetzt erschreckende Details des totalitären Menschenschinderprogramms herausgefunden. Meine Kollegen David Ruch und Nicolas Lindken fassen die wichtigsten Informationen für Sie zusammen.
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WAS AMÜSIERT MICH?
Das Wochenende naht. Zur Vorbereitung möchte ich Ihnen schon jetzt etwas Entspannung bieten. Vermutlich jedenfalls. Denn ich weiß nicht genau, was Sie sehen werden, wenn Sie auf diesen Link hier klicken. Auf jeden Fall sitzen Sie in einem Zug – genauer: im Führerhaus – und haben einen hervorragenden Blick nach vorne. Es wird wohl Schnee liegen, denn Ihr Zug fährt durch Norwegen. Scheint die Sonne? Wie sieht die Landschaft aus? Ich kann es nur erahnen. Denn Sie befinden sich in einer Liveübertragung und tuckern irgendwo durch den hohen Norden. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Wahnsinnig viel wird vermutlich nicht passieren. Soll es auch nicht. Gleiten Sie einfach über die Schienen. Alles wird gut.
Ich wünsche Ihnen ein entspanntes Wochenende. Wenn Sie mögen: Im Audio-Tagesanbruch am Wochenende erzähle ich mehr über meine Begegnungen in Chemnitz und lasse mit meinem Kollegen Marc Krueger die turbulente politische Woche Revue passieren. Ab Samstagmorgen hier.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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