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Tagesanbruch: Chaos in Chemnitz – eine Stadt, zwei Seiten


Meinung
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Tagesanbruch
Chemnitz – eine Stadt, zwei Seiten

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 04.09.2018Lesedauer: 7 Min.
Laut Polizei bleibt alles ruhig und friedlich. Einzig am Gedenkort für den verstorbenen Daniel H. soll es zu Reibereien gekommen sein. Die Polizei verstärkte ihre Kräfte dort kurzzeitig.Vergrößern des Bildes
Laut Polizei bleibt alles ruhig und friedlich. Einzig am Gedenkort für den verstorbenen Daniel H. soll es zu Reibereien gekommen sein. Die Polizei verstärkte ihre Kräfte dort kurzzeitig. (Quelle: Sebastian Willnow/dpa)

Guten Morgen aus Chemnitz, liebe Leserinnen und Leser,

heute melde ich mich aus der Stadt, die seit Tagen für Schlagzeilen sorgt. Aber vorher möchte ich etwas loswerden: Seit einem Jahr schreiben meine Kollegen und ich den Tagesanbruch. Viele von Ihnen sind von Anbeginn als Abonnenten dabei, andere kamen nach und nach hinzu. Sie schicken uns Lob, Kritik und Anregungen und verfolgen aufmerksam die Berichterstattung auf t-online.de. Dafür gebührt Ihnen ein herzliches Dankeschön! Bitte bleiben Sie uns treu und empfehlen Sie den Tagesanbruch gern weiter.

Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Sie sehen Chemnitz: eine bunte, fröhliche, weltoffene Stadt. Moment, das passt nicht in das Bild, das Sie sich von dieser Stadt gemacht haben? Ist aber so. Chemnitz hat gestern Abend eine riesige Party gefeiert. Eine 35-jährige Einwohnerin, mit der ich mich am Rande des Rockkonzerts unterhielt, schilderte mir ihre Empfindungen so:

"Die Stimmung in der Stadt war in den letzten Tagen gruselig gewesen. Ich habe so viele Neonazis gesehen. Da wird man richtig misstrauisch. Ich habe geschaut, ob bei den Rechten vielleicht jemand mitläuft, den ich kenne. Man beäugte sich. Das war richtig unheimlich. Was wir heute Abend hier erlebt haben, war zum ersten Mal seit einer Woche wieder mein Chemnitz. Es tut so gut, all die Menschen zu sehen, die hier friedlich feiern. Auch dass so viele Leute aus ganz Deutschland gekommen sind, freut mich sehr. Es wäre schön, wenn öfter Menschen herkämen, statt sich nur aus den Medien zu informieren. Dort bekam man ja in den letzten Tagen ein düsteres Bild von Chemnitz. Aber das ist nicht das ganze Bild der Stadt."

Zum Bild der Stadt gehörten gestern Abend allerdings auch einige Linksradikale, die sich nicht entblödeten, die Trauer um den getöteten Daniel H. für ihre Propaganda zu missbrauchen. An der Gedenkstätte auf der Brückenstraße spielten sich kurzzeitig unwürdige Szenen ab (ich habe Sie hier dokumentiert und hier knapp meine Eindrücke geschildert). Überwiegend jedoch blieb die Szenerie friedlich, ausgelassen, optimistisch. So würden viele Bürger ihr Chemnitz gern jeden Tag sehen.

Es gibt aber noch ein anderes Chemnitz, und dem bin ich ebenfalls begegnet. In diesem Chemnitz trifft man Menschen, die enttäuscht, verbittert oder aufgebracht sind. Die den Eindruck haben, sie würden nicht mehr gehört, egal, was sie auch tun: weder von der Politik noch von den Medien. Diese Menschen sind keinesfalls alle rechtsradikal, sie verwehren sich ausdrücklich dagegen, mit Extremisten in einen Topf geworfen zu werden. Mit einigen dieser Menschen habe ich mich ausgetauscht, und dabei sind mir trotz aller Unterschiede von Lebenswegen und Ansichten vier Dinge aufgefallen:

Erstens hörte ich aus den Schilderungen älterer Menschen, dass sie in ihren Lebensläufen eine Zäsur erlebt haben, und die hat etwas mit der Wende 1989 und den folgenden Entwicklungen zu tun. Da klang nicht nur Enttäuschung über leere Versprechen von Politikern und Fassungslosigkeit über die Dreistigkeit mancher Geschäftemacher aus dem Westen heraus. Da war zugleich Frustration zu spüren, manchmal auch das Gefühl von Demütigung: Ich werde nicht mehr anerkannt. Ich und meine Leistung sollen nichts mehr wert sein. Alles wurde schlagartig anders, aber mich haben sie dabei vergessen. Man kann es auch so sagen: Viele dieser Menschen fühlen sich in Deutschland heute nicht integriert.

Und dann sehen diese Menschen zweitens, wie Politiker, von denen sie sich ohnehin nicht gut vertreten fühlen, plötzlich sehr viel Energie darauf verwenden, andere Menschen zu integrieren: Leute, die aus fernen Ländern zu uns kommen. Für die, so der Eindruck, scheine keine Mühe zu groß und kein Aufwand zu teuer, um sie zu versorgen. Und dann begegnen sie einigen dieser Menschen in der Straßenbahn oder im Kaufhaus und sehen, wie die in ihre neuen Smartphones tippen, aber kaum ein Wort Deutsch sprechen. Sozialneid ist ein zu kleines Wort für das Gefühl, das manchen in so einer Situation beschleichen mag, es scheint mir eher eine tiefe Kränkung zu sein. Warum die und nicht ich? Die gehören doch gar nicht hierher!

Wenn dann drittens einzelne Migranten Gewalttaten begehen, gesellen sich zur Kränkung Unverständnis und Wut. Eine Mischung, in der wenig Platz für Differenzierung und Nachdenklichkeit bleibt. Selbstverständlich: Auch in Freiburg oder Offenburg haben sich Bürger über die Gewalttaten von Migranten empört. Aber dort ließen sie sich nicht von Scharfmachern und Rechtsextremen vereinnahmen. Viele Menschen in Sachsen, so mein Eindruck, sehen in den Verbrechen nicht Einzelfälle, sondern scheinbare Beweise für die Gewalttätigkeit und Hemmungslosigkeit aller Migranten: Die importieren ihre archaischen Sitten, die greifen uns an, die stechen uns ab!

Viertens: Dieses Zerrbild kommt nach meinem Eindruck nicht von ungefähr, es wird geschickt und perfide verbreitet: durch Lügen und Gerüchte in (teils geschlossenen) Facebook-Gruppen, in YouTube-Kanälen, auf den Websites sogenannter "alternativer Medien". Dort werden Fakten verdreht, Fotos gefälscht, willkürliche Behauptungen aufgestellt und zum Beleg vermeintliche "Experten" zitiert. Wer seine Informationen über das Geschehen in unserem Land ausschließlich aus diesen Kanälen bezieht, der kann wohl irgendwann gar nicht mehr anders, als den etablierten Medien zu misstrauen.

Die Professionalität, mit der Scharfmacher Lügen, Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien verbreiten, ist beeindruckend. Aufwendig gedrehte Videos, manipulierte Bilder, pseudowissenschaftliche Aufsätze oder "Enthüllungsberichte" über den angeblichen Plan der Bundesregierung, die deutsche Bevölkerung gegen eine arabische auszutauschen: All das und noch viel mehr geistert im Netz herum. Und wird eben nicht nur von eingefleischten Neonazis ausgedacht und verbreitet, sondern zum Teil auch von Anhängern der AfD. Die meisten Journalisten, mit denen ich mich unterhalte, wissen das, und natürlich wissen sie diese Beiträge als das einzuordnen, was diese sind: in der Regel Lug, Trug und hanebüchener Quatsch. Viele andere Bürger, mit denen ich mich ausgetauscht habe, wissen es nicht. Sie gehen den Hetzern im Internet auf den Leim – und glauben dabei noch, sie seien besser informiert als alle anderen.

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Ja, natürlich gibt es noch mehr Gründe für die Eskalation, die wir in den vergangenen Tagen in Chemnitz gesehen haben, auch für den Erfolg rechter Gruppen und Parteien. Und ja, vielleicht haben Sie eine ganz andere Ansicht dazu. Aber auf diese vier Erklärungen bin ich in meinem Austausch mit den Menschen hier immer wieder gestoßen.

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WAS STEHT AN?

Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:

Am Vormittag stellt Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht ihre Sammlungsbewegung "Aufstehen" vor. Gemeinsam mit ihrem Gatten Oskar Lafontaine will sie linke Wähler um sich scharen, die sich von den klassischen Parteien abgewandt haben. Damit schlägt Wagenknecht als erste deutsche Spitzenpolitikerin einen Weg ein, der gerade in vielen Berliner Zirkeln diskutiert wird: Allerorten reden Leute darüber, dass sie aus dem ermüdeten Parteiensystem ausbrechen und "was Neues machen" wollen, so wie der Macron drüben in Paris und der Kurz in Wien. Die Haken: Im Vergleich zu Frankreich ist Deutschland längst nicht so zentralisiert, im Vergleich zu Österreichs Hinterzimmerprofis sind bundesdeutsche Politiker brave Schulbuben. Wird also wohl noch eine Weile dauern, bis die Massen aufstehen.

Ihr Flug wurde wegen eines Streiks der Passagierkontrolleure gestrichen – muss die Airline Ihnen dann Entschädigung zahlen? Bisher unklar. Nicht gut. Heute entscheidet der Bundesgerichtshof. Gut.

Soll die katholische Kirche den Zölibat abschaffen? Ex-Benediktinermönch Anselm Bilgri fordert das in seinem Buch "Bei aller Liebe", das heute erscheint. Klingt ebenso revolutionär wie aussichtslos.

In Flensburg beginnt der Mordprozess gegen einen afghanischen Asylbewerber, der Mitte März seine 17-jährige Ex-Freundin erstochen haben soll. Wir berichten.

Ach ja, und der wunderbare Chilly Gonzales veröffentlicht sein neues Album: Solo Piano III. Haben Sie schon? Sie Glückliche/r! Sie kennen Chilly Gonzales nicht? Gibt’s doch gar nicht! Bitte schnell reinhören!

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Nörgelnde Journalisten (zum Beispiel Tagesanbruch-Autoren) kritisieren in leidiger Regelmäßigkeit, dass die Politiker zu weit von den Bürgern entfernt seien. Die nehmen die Sorgen und Meinungen der Leute gar nicht richtig wahr, heißt es dann. Heute gibt es mal nix zu beanstanden, auch nicht von mir: In Baden-Baden lädt Peter Altmaier, Bundesminister für Wirtschaft und Energie, zum "Bürgerdialog Europa" ein und redet mit jedem, der wirklich nichts Besseres vorhat, über die Zukunft Europas. Veranstaltungen in weiteren Städten folgen. Am Ende werden die Ergebnisse in einem Bericht zusammengefasst, und der landet dann in einer Schub… Nein, tut er nicht. Die Bundesregierung hat versprochen, dass die Ergebnisse sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene ausführlich diskutiert und anschließend praktische Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Nehmen wir sie beim Wort.

Auch in Berlin steht Europa heute auf der Tagesordnung, allerdings geht es dort weniger transparent zu. Bundeskanzlerin Merkel empfängt EU-Kommissionspräsident Juncker. "Das Gespräch ist nicht presseöffentlich", heißt es in der Terminankündigung. Natürlich nicht, denn es geht ja ums Eingemachte: Junckers Nachfolger und Merkels Wunsch, den Posten einem Deutschen zuzuschanzen. Kandidaten hat sie bereits: Axel Weber (schon in Brüssel), Peter Altmaier (redet viel über Europa, siehe oben), Ursula von der Leyen (manchmal im Verteidigungsministerium, meistens aber im Fernsehen). Wie lautet so schön ein deutsches Sprichwort? "Man soll die Ämter mit Leuten, nicht die Leute mit Ämtern versehen."

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WAS LESEN?

Die Eskalation in Chemnitz hat wohl niemanden kaltgelassen. Moment, das stimmt nicht ganz, es gibt Unterschiede – sagt zumindest eine Umfrage des ZDF. Ihr zufolge sehen zwei Drittel der Deutschen Rechtsextreme als große Gefahr für unsere Demokratie und finden, dass die Polizei und vor allem die Politik zu wenig gegen sie unternehmen. Allerdings tut sich dabei ein Graben zwischen Anhängern der AfD und denen aller anderen Parteien auf.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Ich bin in meinem Leben schon ein bisschen herumgekommen, vor allem in Arabien. Da kann man zwischen vielen herzlichen Begegnungen auch allerhand Skurriles erleben, zum Beispiel mit Tieren. Ich erinnere mich an das Schaf, das ein Bekannter direkt neben meinem Tisch auf der Terrasse eines libyschen Lokals schächtete, um mir garantiert frisches Fleisch aufzutischen. Die Affen auf dem Kairoer Freitagsmarkt, darauf dressiert, prominente Politiker nachzuahmen, erregten ebenfalls mein Mitleid. Das Kätzchen einer saudischen Prinzessin in einem Hotel in Dubai, das ausschließlich Lachs und Kaviar vorgesetzt bekam, beneidete ich dagegen ein bisschen. Den Gipfel in Sachen arabischer Tierskurrilität hat nun allerdings ein Fischhändler in Kuweit erklommen. Immerhin haben seine Schützlinge nun den absoluten Durchblick.

Ich wünsche Ihnen einen klarsichtigen Tag.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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