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Tagesanbruch: Jahrestag des Gladbecker Geiseldramas, Trump und seine Lügen


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.08.2018Lesedauer: 6 Min.
Der Wagen mit den Geiselnehmern wird am 18.08.1988 in Köln von Journalisten umringt.Vergrößern des Bildes
Der Wagen mit den Geiselnehmern wird am 18.08.1988 in Köln von Journalisten umringt. (Quelle: Hartmut Reeh/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Die Aufarbeitung des Brückenunfalls in Genua, neue Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und wieder mal irgendwas mit Trump: Diese Themen bestimmten gestern die Schlagzeilen. Ein Ereignis ging dabei fast unter, dabei verdient es unsere Beachtung. Bis zu 160.000 intersexuelle Menschen leben in Deutschland, sie fühlen sich weder ganz als Mann noch ganz als Frau.

In Geburtsurkunde, Reisepass und allen anderen offiziellen Dokumenten waren sie bisher aber nur eines von beidem – was viele von ihnen verunsicherte und ihnen signalisierte, dass sie als Person vom Staat nicht als das anerkannt werden, was sie sind.

Das geht so nicht, entschied das Bundesverfassungsgericht im November und verlangte vom Gesetzgeber, dass er zumindest im Geburtenregister ein drittes Geschlecht zulässt. Gestern ist die Bundesregierung ihrer Pflicht nachgekommen: Das Kabinett hat einen Gesetzentwurf für die dritte Geschlechtsoption "divers" gebilligt.

Damit wird Deutschland zu einem Vorreiter in Europa. Zu einem modernen Land gehört eben auch ein modernes Personenstandsrecht.

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Vor einigen Jahren geriet ich auf einer Digitalkonferenz in Austin, Texas, zufällig in einen Workshop von Software-Programmierern aus Los Angeles. Ziemlich schräge Vögel, die über allerhand abenteuerliche Visionen sprachen. Sie wollten John F. Kennedy vor dem Kapitol in Washington eine Rede halten lassen, David Bowie auf eine neue Welttournee schicken und Elvis Presley ein Duett mit Lady Gaga singen lassen. Verrückte Ideen, geht doch gar nicht, dachte ich, wollte aufstehen und gehen. Aber dann klappten die Jungs ihre Laptops auf und zeigten mir zwei Videos: ein Rap-Star gibt ein Livekonzert – 16 Jahre nach seinem Tod. Tausende Japaner jubeln dem Auftritt einer Sängerin zu – die nur aus Licht besteht.

Irre, dachte ich, und begann, mich intensiver für diese Technik zu interessieren. Die hat nun gewaltige Fortschritte gemacht, wie die NDR-Amerikakorrespondentin Claudia Buckenmaier in einem Beitrag zeigt: Lebensechte Hologramme scharen im Internet Hunderttausende Fans um sich, bald werden sie auch in der Realität kaum noch von echten Menschen zu unterscheiden sein. Glauben Sie nicht? Dann schauen Sie doch mal kurz in dieses Video hinein.

Ich sage es mal so: Wenn die Beatles bald wieder gemeinsam auftreten, werde ich die erste Eintrittskarte kaufen.

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WAS STEHT AN?

Erinnern Sie sich noch an Bill Clinton und Monica Lewinsky? 20 Jahre ist es nun her, dass Clinton die Affäre mit seiner Praktikantin im Weißen Haus eingestehen musste, nachdem er sie monatelang geleugnet hatte. Die Lüge kostete ihn beinahe das Präsidentenamt.

Und heute? Da sitzt im Weißen Haus ein Präsident, der nicht einmal, sondern x-mal lügt wie gedruckt. Laut einer Erhebung der "Washington Post" sagt Donald Trump durchschnittlich 7,6 Mal pro Tag nicht die Wahrheit – aber anders als Clinton schadet es ihm bisher nicht. Wie kann das sein? Mein Kollege Stefan Rook hat einen Erklärungsversuch formuliert, der mir einleuchtet.

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Ein weiterer Jahrestag steht an: Heute vor 30 Jahren begann das Gladbecker Geiseldrama, das Deutschland im August 1988 drei Tage lang in Atem hielt. Am Ende waren drei Menschen tot, zahlreiche weitere verletzt – und die Glaubwürdigkeit von Polizei, Journalisten und Politik erschüttert. Daraus können wir etwas lernen, wenn wir uns vor Augen führen, was damals geschehen ist:

Das Verbrechen: Am Morgen des 16. August 1988 stürmen Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner schwer bewaffnet eine Bank im nordrhein-westfälischen Gladbeck. Sie nehmen zwei Geiseln und fordern einen Fluchtwagen sowie 420.000 D-Mark. Journalisten nehmen Kontakt zu den Gangstern auf und interviewen sie – während die Geiseln um ihr Leben zittern. Kurz nachdem die beiden Verbrecher am Abend mit Geiseln und Geld losfahren, steigt Rösners Freundin zu. Am nächsten Tag kapern sie in Bremen einen Linienbus und nehmen 32 Geiseln. Sie geben weiteren Medien Interviews und lassen dann einige Geiseln frei. Als die Polizei Rösners Freundin vorübergehend festhält, erschießt Degowski eine Geisel, einen 15-jährigen Jungen. Bei der weiteren Verfolgung verunglückt ein Polizist tödlich. Die Geiselnehmer lassen den Bus stehen und flüchten mit zwei Bremer Geiseln in einem Auto. Am Mittag des 18. August greift ein Spezialeinsatzkommando auf der Autobahn bei Bad Honnef zu. Bei dem Einsatz stirbt eine 18-jährige Geisel durch eine Kugel aus Rösners Waffe.

Die Folgen: Rösner und Degowski werden im März 1991 zu lebenslanger Haft verurteilt, Rösner mit anschließender Sicherungsverwahrung. Die Polizei überarbeitet ihre Einsatztaktik für solche Szenarien grundlegend. Bremens Innensenator tritt zurück. Die Medien werden wegen mangelnder Zurückhaltung massiv kritisiert. Der Deutsche Presserat legt später fest, dass es Interviews mit Tätern während des Geschehens nicht geben darf.

Das Gedenken heute: Die Regierungschefs aus Nordrhein-Westfalen und Bremen, Armin Laschet und Carsten Sieling, sowie weitere Politiker würdigen heute mit Kranzniederlegungen die Opfer. Laschet hat ihre Angehörigen um Vergebung gebeten. "Es ist die oberste Pflicht des Staates, seine Bürger zu schützen", sagt er. "Dies ist ihm in Gladbeck und in den Stunden danach unter dramatischen Umständen nicht gelungen." Und der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler schreibt im "Tagesspiegel": "Für Journalisten wurde Gladbeck zum Sündenfall." Bittere Worte, wahre Worte.

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Angela Merkel in Dresden, das ist etwas anderes als Angela Merkel in, sagen wir, Düsseldorf oder Darmstadt. In der sächsischen Landeshauptstadt entstand die Pegida-Bewegung, in deren Reihen sich Fremdenfeinde und Rassisten finden. Als einer ihrer Redner kürzlich bei einer Kundgebung über ein mit geretteten Flüchtlingen besetztes Schiff im Mittelmeer sprach, skandierten Teilnehmer "Absaufen! Absaufen!" Eines eint die meisten Anhänger: Sie halten die Bundeskanzlerin für das personifizierte Übel. Für Differenzierung ist da kein Platz, dumpfe Parolen übertönen jedes abwägende Argument. Wohlgemerkt: Die überwältigende Mehrheit der Dresdner findet diese Gehässigkeit vermutlich genauso abscheulich wie ich und wohl auch Sie.

Es birgt trotzdem eine gewisse Brisanz, wenn Merkel heute Nachmittag mehrere Termine in Dresden absolviert, mit Ministerpräsident Kretschmer ein Maschinenbauunternehmen und anschließend die CDU-Fraktion im Landtag besucht. Vorab hat der Sender Sachsen Fernsehen einige Dresdner befragt, welche Frage sie der Bundeskanzlerin gern stellen würden. Da hört man Zustimmung zu ihrer Politik, aber auch heftige Kritik und die Frage, wann Merkel denn abzutreten gedenke. Alles in allem nachvollziehbare Fragen. Nicht nachvollziehbar finde ich dagegen den Pauschalprotest, zu dem Pegida, AfD und andere Gruppen heute Nachmittag aufgerufen haben. In einem Video schwadroniert Pegida-Gründer Lutz Bachmann darüber, dass die Bundesrepublik auf dem Weg in eine Diktatur wie die DDR sei. Beruhigend, dass nur wenige Leute im Internet mit diesem Unsinn ihre Zeit verschwenden wollten.

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WAS LESEN?

Die Zahlen sind gewaltig: 300 Priester sollen im US-Bundesstaat Pennsylvania 1.000 Kinder sexuell missbraucht haben. Und das sind nur jene Fälle, die der Generalstaatsanwalt belegen konnte. Doch Zahlen allein reichen nicht, um die Schicksale der Opfer zu verdeutlichen. Mein Kollege Johannes Bebermeier hat deshalb den Abschlussbericht der amerikanischen Ermittler genau gelesen und die Geschichte eines missbrauchten Jungen aufgeschrieben. Erschütternd.

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Um die Gleichstellung der Geschlechter muss man sich nicht überall Sorgen machen. Wenn zwei Drittel der Parlamentarier Parlamentarierinnen sind, Frauen am Obersten Gerichtshof die Hälfte und in den Ministerien 40 Prozent der Chefsessel besetzen, sie die nationale Fluglinie leiten und die größte Bank des Landes auch, dann ist man aus dem Gröbsten raus. Und wo ist das so? Man denkt an Skandinavien und könnte falscher nicht liegen. Ruanda. Der Ort des furchtbarsten Genozids der letzten 30 Jahre. Dort ist das so.

Der Genozid und die Gleichberechtigung gehören auf tragische Weise zusammen. Hundert Tage lang wurde mit unfassbarer Hemmungslosigkeit getötet. 800.000 Menschen starben, als Hutus mit Macheten über ihre Tutsi-Nachbarn herfielen. Zwei Zahlen erklären, was das mit Gleichberechtigung zu tun hat. Nach dem Massaker bestand die überlebende Bevölkerung zu 70 Prozent aus Frauen. Und von 785 Richtern im Land lebten nur noch 20. Wenn Ruanda wieder auf die Beine kommen sollte, führte am Aufstieg der Frauen in Gesellschaft und Institutionen kein Weg vorbei.

Eingefleischte Vorurteile hätten trotzdem eine unüberwindliche Hürde bilden können. Doch ausgerechnet ein starker Mann, der vom Befreier zum Diktator mutierte Präsident Paul Kagame, hat die Gleichberechtigung verordnet. Nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen – bei der Bevölkerungsmehrheit, den Frauen, brachte ihm das Punkte ein. Im Privaten allerdings stößt die Order von oben schnell an ihre Grenzen. Die Hälfte der Frauen in Ruanda sagt, schon einmal Opfer von Gewalt geworden zu sein. Zu Hause sitzen Patriarchen, die sich mit Selbstverständlichkeit bedienen lassen. Die weiblichen Abgeordneten im Parlament erledigen nach den Debatten die Hausarbeit, bügeln ihren Männern die Hemden und putzen die Schuhe. Es gibt viele Wege zur Gleichberechtigung. Auch bessere als diesen.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Welche politische Entwicklung hat das Potenzial, in den kommenden Monaten ein Beben auszulösen, ein ganzes EU-Land ins Chaos zu stürzen? Die Migration? Falsch. Die Währungskrise in der Türkei? Nein. Es geht mir um etwas anderes. Heute wird darüber in Brüssel verhandelt. Und wer diese anderthalbminütige Verballhornung eines berühmten Hollywood-Films gesehen hat, ahnt, welcher politische Tsunami da gerade auf uns zurollt.

Lassen Sie sich bitte trotzdem nicht entmutigen. Wir leben in einem stabilen Land mit einer vielleicht nicht perfekten, aber immerhin einigermaßen vernunftbegabten Führung. In diesem Sinne: Glückauf!

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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