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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Annalena Baerbock Operation Verschwindibus
Die Grünen waren in den ersten Tagen der Flut fast unsichtbar – obwohl die Katastrophe ihre Kernthemen betrifft. Ist das der nächste Fehler von Annalena Baerbock? Oder genau die richtige Strategie?
Dieser Text ist mit einem Archivfoto von Annalena Baerbock bebildert und keinem in Gummistiefeln – und das fasst die diversen Dilemmas der Grünen in diesen Tagen eigentlich schon ganz gut zusammen.
Während Armin Laschet in der Flutkatastrophe quasi täglich vor Kameras irgendwo durchs Krisengebiet stapfte und Olaf Scholz den Betroffenen vor vollgelaufenen Häusern Millionen versprach, startete Baerbock so etwas wie die Operation Verschwindibus. Sie machte sich unsichtbar. Kein einziges Foto, kein einziges Interview aus dem Matsch ist von ihr überliefert.
Das ist äußerst erstaunlich für eine Kanzlerkandidatin in einer nationalen Tragödie, die die nächsten Wochen prägen wird. Zumal mitten in Wahlkampfzeiten, wo es für Politiker eigentlich nie genug Bilder sein können, die zeigen: Ich bin da, ich kümmere mich, ich bin ziemlich super.
Das mit den fehlenden Bildern liegt dabei nicht etwa daran, dass Baerbock die Krisenregionen gemieden hätte oder sich für das Leid der Menschen nicht interessiert. Auch hatte Baerbock etwas zur Katastrophe zu sagen. Doch die Grünen wollten die Gummistiefel-Bilder vermeiden. Unbedingt.
Dafür gibt es aus ihrer Sicht ein paar gute Gründe, aber eben auch ein paar nicht so gute. Und so zeigen diese Tage vor allem auch, dass Annalena Baerbock noch nicht wieder so recht zu sich gefunden hat, nach den Wochen der Fehler und Angriffe auf ihre politische und persönliche Glaubwürdigkeit.
Es ist auch die Angst vor dem nächsten großen Fehler, der Baerbock im Vergleich zur wohlbestiefelten Konkurrenz gerade so wirken lässt, als stecke sie mit dem rechten Fuß noch immer im linken Schuh fest. Und das ausgerechnet in einer Situation, in der die Grünen eigentlich voranmarschieren müssten. Weil sie sich seit Jahrzehnten mit den Problemen beschäftigen, über die nun alle reden. Aber eben auch, weil ihnen die SPD in einigen Umfragen inzwischen gefährlich auf den Fersen ist.
Und trotzdem lässt die Katastrophe, so hart das klingt, einige Wahlkampfprobleme der Grünen gerade erheblich schrumpfen. Und ja, das bietet sogar eine Chance. Nur ein Problem der Grünen wächst still und leise weiter.
Die diversen Dilemmas
Die Flutkatastrophe ist auf vielen Ebenen ein Dilemma für die Grünen. Parteistrategen weisen schon seit Monaten darauf hin, dass der Wahlkampf möglicherweise auch von Extremwettern mitbestimmt werden könnte. Vereinfacht gesagt: Je heißer der Sommer, desto besser das Grünen-Ergebnis. So wie die Hitze 2018 bei der anschließenden Europawahl mit 20,5 Prozent zum bisher besten bundesweiten Grünen-Ergebnis geführt hat.
Solche Überlegungen stehen unter schwerem Zynismusverdacht, auch wenn sie aus Sicht der Grünen einer nachvollziehbaren Logik folgen: Das Extremwetter ist ohnehin da, damit es in Zukunft nicht noch viel häufiger wird, müssen wir an die Macht, und dafür müssen die Menschen die Zusammenhänge verstehen: Die zwischen Klima und Wetter zum Beispiel, aber eben auch die zwischen mächtigen Grünen und mächtiger Klimapolitik.
Und doch ist der Vorwurf, die Grünen wollten das Leid für ihre Zwecke instrumentalisieren, leicht bei der Hand. Bestimmte Medien und politische Gegner warfen ihnen das sofort vor, als einige Grüne der zweiten und dritten Reihe das Hochwasser mit der Klimakrise in Verbindung brachten. Deshalb war die Parteispitze damit umso vorsichtiger. In den ersten Stellungnahmen von Annalena Baerbock und Robert Habeck kam das Wort Klima nicht einmal vor.
Annalena Baerbock hat als Kanzlerkandidatin zudem – anders als ihre Konkurrenten Armin Laschet und Olaf Scholz – kein Regierungsamt inne. Sie kann den Opfern kein Geld versprechen wie Vizekanzler und Finanzminister Scholz. Und sie kann auch keine Hilfe organisieren wie Ministerpräsident Laschet. Ihr Besuch im Katastrophengebiet hätte also mehr noch als bei den beiden im Verdacht gestanden, nur "Katastrophentourismus" zu sein. Und den wollte man unbedingt vermeiden, wie es aus ihrem Umfeld hieß.
Für die Grünen, die sich seit vielen Jahren mit der Klimakrise und den nötigen Konsequenzen für Städte, Natur und Katastrophenschutz beschäftigen, sei es in einer solchen Situation zudem durchaus schwer, nicht "schlaumeierisch" herüberzukommen, wie ein führender Grüner sagt. Und das brauche es in so einer Lage eben auch ganz und gar nicht.
Der unbeobachtete Baum im Wald
Die Strategie lautete also erst einmal: Zurückhaltung und eine bewusste Nicht-Inszenierung der Kanzlerkandidatin, um dem Vorwurf der Instrumentalisierung zumindest keine zusätzliche Nahrung zu geben. Baerbock fuhr in die Katastrophengebiete, jedoch ohne Journalisten und Kamerateams. Sogar im Nachhinein veröffentlichte die Partei keine Bilder, sondern nur Text. Selbst auf der Fotoplattform Instagram, auf der sich Grüne sonst besonders gerne zeigen.
Das alles klingt erst mal nach einer sympathischen und der Lage angemessenen Strategie, bei Anhängern kam sie auch gut an. Nur dürfte die natürlich ebenso inszenierte Bilderlosigkeit das Problem haben, dass viele Menschen in der breiteren Öffentlichkeit gar nicht bemerkten, dass Baerbock das so gemacht hat und warum genau. Und diese Menschen muss sie ja gerade von sich überzeugen.
Es ist ein bisschen so wie bei dem sprichwörtlichen Baum, der im Wald umfällt, ohne dass jemand da ist, der ihn hören könnte. Hat der Baum dann überhaupt ein Geräusch gemacht? Übertragen auf den Fall der ungestiefelten Baerbock: Was hilft eine wohlgemeinte Geste, wenn nur Eingeweihte etwas von ihr mitbekommen, während Scholz und Laschet auf allen Kanälen senden? Ein paar Fotos im Matsch jedenfalls hätten die von ihr gewünschten vertraulichen Gespräche und die Aufräumarbeiten nicht stören müssen.
So oder so, es ist und bleibt ein weiteres der vielen grünen Dilemmata derzeit. Oder wie ein Grüner sagt: "Wie du es machst, du machst es falsch."
Habecks Worte
Etwas weniger falsch als andere hat es offenbar auch diesmal wieder Baerbocks Co-Chef Robert Habeck gemacht. Er war es, der die Worte fand, die zu Beginn breit zitiert wurden. So wie schon auf dem Parteitag der Grünen, als Baerbocks Probleme noch ihr zu spät gemeldetes Geld und ihr Lebenslauf waren. Und auch wie bei der Plagiatsaffäre um ihr Buch, wo er die verunglückte aggressive Verteidigungsstrategie bei Markus Lanz wieder geradezubiegen versuchte.
Er werde nicht ins Katastrophengebiet fahren, sagte Habeck in einem kurzen Video gleich zu Beginn, denn jetzt sei "die Stunde der Retter und nicht die Stunde von Politikern, die dort nur im Weg rumstehen". Und lieferte damit eine der Begründungen, die es von Baerbock selbst erst sehr viel später gab. Warum eigentlich?
Es sei immer leichter für denjenigen in der zweiten Reihe, den Ball locker herauszuschlagen, als für diejenige, die im Fokus steht und bei der jede Unkonzentriertheit schwere Folgen haben könne, lautet eine Erklärung in der Partei. Habeck kann gerade ohne den Druck der Kandidatur locker aufspielen, heißt das. Aber es heißt eben auch: Baerbock ist nach ihren vergangenen Chaoswochen noch immer verunsichert.
Insgesamt wird in der Partei seit Beginn der Baerbock'schen Fehlerkette wieder sehr viel häufiger als nach ihrer Nominierung betont, wie wichtig beide im Wahlkampf für die Partei seien, Baerbock und Habeck, und dass eben jeder seine Stärken habe. Das stimmt sicherlich.
In einer Situation aber, in der schlagzeilenfreudige Medien Baerbock schon mehrfach nahelegten, sich das mit der Kanzlerkandidatur doch noch mal anders zu überlegen und lieber an Habeck zu übergeben, ist der ständige Vergleich der beiden trotzdem potenziell toxisch. So überzogen man die ganze Kritik und so irrsinnig man einen solchen Kandidatentausch mitten im laufenden Wahlkampf auch finden mag.
Denn beim Kampf ums Kanzleramt spielt es natürlich schon eine Rolle, ob es Zweifel daran gibt, dass die Grünen die beste Kandidatin aufgestellt haben. Und diese Zweifel werden sie begleiten, ganz automatisch. Denn das Duo Baerbock/Habeck, das die Grünen im Wahlkampf nach vorne stellen wollen, zieht eben ganz sicher nicht gemeinsam in Angela Merkels Büro ein.
Jedem sein Auftritt
Jeder müsse eben für sich wissen, welcher Auftritt und welche Worte zu ihm passten, sagt jemand aus der Partei zum Auftreten Baerbocks und Habecks dieser Tage. Und natürlich steckt da ein Stück Wahrheit drin. Vielleicht ist es genau richtig, eine verunsicherte Kandidatin nicht unbedingt in eine Situation zu bringen, die zwar schnell viel Aufmerksamkeit verspricht, aber auch schnell mit weiteren Pannen enden kann.
Wie schwierig die Gratwanderung zwischen echter öffentlicher Anteilnahme und einem in seiner Wirkung fatalen Lachen auf Kamerabildern ist, davon könnte Baerbocks Konkurrent Armin Laschet berichten.
Bei den Grünen registrieren sie derweil mit Freude, dass sich die öffentliche Debatte auch ohne Zutun der Parteichefs schnell auf die Fragen gerichtet hat, bei denen die Grünen nun die Antworten liefern wollen: Welchen Anteil hat die Klimakrise an solchen Katastrophen? Wie kann man sie bekämpfen? Und wie werden wir widerstandsfähiger gegen ihre Folgen?
Während Laschet weiter durch die Katastrophengebiete zieht und seinen Lacher vergessen machen muss, hat Baerbock begonnen, genau diese Fragen in mehreren Interviews zu stellen. Die Debatte um ihre Fehlerserie ist zumindest für den Moment verschwunden. Und vielleicht ist es gerade die inhaltliche Arbeit an Themen, bei der ihr selbst und ihrer Partei besondere Kompetenz zugeschrieben werden, die Baerbock wieder Tritt fassen lässt für die nächsten Wochen.
Denn dass es noch ungemütlich wird und auch wieder andere Probleme wichtig werden, darüber machen sich die Grünen keine Illusionen. Bis zur Bundestagswahl im Herbst ist noch viel Zeit. Auch für Fehler und Zweifel.
- Eigene Beobachtungen und Recherchen