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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Halbzeitbilanz der großen Koalition Völlig losgelöst
Die große Koalition zieht Halbzeitbilanz – und lobt sich dabei vor allem selbst. Sie verfehlt damit die Wirklichkeit gleich doppelt. Und das nicht zufällig.
Wer verstehen will, wie seltsam wirklichkeitsfern die Halbzeitbilanz der großen Koalition ausfällt, muss noch einmal zurückblicken, ans Ende des Jahres 2017. Eine mögliche Jamaika-Koalition hatte FDP-Chef Christian Lindner gerade mit dem Satz "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren" platzen lassen – nach vier Wochen Verhandlungen. Die SPD wollte vieles, aber nach acht Jahren großer Koalition unter Angela Merkel und dem mit 20,5 Prozent schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte eines eigentlich nicht: noch eine große Koalition.
Doch weil Nicht-Regieren zwar für die FDP, aber nicht für die Politik insgesamt eine Option sein kann, und weil der Bundespräsident an die staatspolitische Verantwortung appellierte, ließ sich die SPD doch noch erfolgreich bitten.
Diesmal aber sollte alles anders werden.
Die eingebaute Sollbruchstelle
Die SPD wollte sicherstellen, dass sie vor lauter Regieren nicht wieder als Partei verschwindet. Sie wollte als SPD erkennbar bleiben, nicht nur als Merkels kleiner Partner. So schrieb sie eine Klausel in den Koalitionsvertrag, die ihre Mitglieder einerseits davon überzeugen sollte, noch einmal für den Eintritt in die große Koalition zu stimmen, und die sie andererseits auch als Druckmittel nutzen wollte: die sogenannte Halbzeitbilanz.
Zur Mitte der Wahlperiode sollte es eine Bestandsaufnahme geben, gewissermaßen einen Kontrollmechanismus, ob das erneute Wagnis große Koalition funktioniert hat oder nicht. Die Bilanz wurde mit riesigen Erwartungen aufgeladen, nicht zuletzt von den Koalitionären selbst. Die SPD, aber auch die Union verwiesen auf sie, wenn es mal wieder darum ging, Projekte durchzusetzen. Sie galt nicht wenigen als Sollbruchstelle – als Dokument, an dem die große Koalition im Zweifel zerbricht. Vielleicht auch: zerbrechen soll.
Nun liegt die Bestandsaufnahme vor, und als Sollbruchstelle taugt sie nicht. Das liegt nicht daran, dass es in der großen Koalition gerade keine Konflikte gäbe oder die Bilanz makellos wäre. Es liegt daran, dass das Dokument in zweifacher Hinsicht an der Wirklichkeit vorbeiformuliert wurde: an der Wirklichkeit in der großen Koalition – und an der Lebenswirklichkeit. Gewissermaßen: Völlig losgelöst von der Erde.
Geleistetes und zu Leistendes auf 83 Seiten
Die Bestandsaufnahme ist 83 Seiten lang, orientiert sich in ihrer Struktur an den Kapiteln des Koalitionsvertrags und listet dort jeweils auf "Was wir bereits auf den Weg gebracht haben" und "Was wir noch vorhaben". Das ist an sich schon ziemlich unambitioniert. Denn dass die große Koalition mehr als 60 Prozent ihrer insgesamt 296 Koalitionsversprechen umgesetzt oder angepackt hat, bilanzierte schon im Sommer die Bertelsmann Stiftung.
Politik an der Zahl der Gesetze zu bewerten, ermöglicht zwar, sie in (Prozent-)Zahlen und Listen zu gießen. Es sagt aber wenig darüber aus, ob die Politik das Leben der Menschen besser gemacht hat. Selbst gut gemeinte Gesetze haben oft Auswirkungen, die sich nicht vorhersehen lassen. Mal wirken sie nach Plan, mal wirken sie anders als gedacht, und mal wirken sie gar nicht.
Ob die Projekte der großen Koalition das erreichen, was sie erreichen sollten, spielt in der Bestandsaufnahme jedoch gar keine Rolle. Unter dem Punkt "Bezahlbares Wohnen" etwa lobt sich die Regierung dafür, dass sie das Wohnen als eine "der wichtigsten sozialen Fragen" erkannt und im Gesetzespaket "Wohnraumoffensive" die Schaffung von 1,5 Millionen Wohnungen vereinbart hat. Sie listet auf, was sie alles getan hat, Sozialwohnungen, Baukindergeld, Mietpreisbremse.
Doch was das alles bringt, ob das Baukindergeld wirklich neue Wohnungen schafft, die sonst nicht gebaut worden wären, ob die Mietpreisbremse einen Effekt hat, wie viele der 1,5 Millionen Wohnungen es schon gibt, auf all das geht die Bilanz nicht ein.
Anspruch und Lebenswirklichkeit
Wie weit Anspruch und Lebenswirklichkeit auseinanderfallen, zeigt sich auch einmal mehr beim Klimaschutz. "Wir sorgen dafür, dass Deutschland seine internationalen Verpflichtungen beim Klimaschutz durch die Verringerung der CO2-Treibhausgasemissionen bis 2030 und 2050 einhalten wird", heißt es in der Einleitung der Bestandsaufnahme noch sehr selbstbewusst. Im eigentlichen Kapitel zum Klimaschutz "bekennt" sich Deutschland dann nur noch zum Klimaschutzziel 2030 und "setzt sich für das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2050 in Europa ein". Die Regierung relativiert sich also schon im Dokument selbst.
Über die Auswirkungen ihrer Gesetze, über die Lebenswirklichkeit ist da noch gar nichts gesagt. Denn dass die Regierung mit den bisherigen Maßnahmen die Klimaziele 2030 und 2050 auch wirklich erreicht, daran zweifeln Experten wie Ottmar Edenhofer, der die Regierungsparteien selbst beraten hatte.
Und selbst diese Klimaziele reichen aus Sicht der Forschung nicht aus, um das Klimaziel des Pariser Abkommens zu erreichen, nämlich die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen. Auch das übrigens: eine internationale Verpflichtung Deutschlands, die die Regierung doch eigentlich einhalten will.
Die Wohlfühl-Bilanz
Die Bestandsaufnahme ist eine Wohlfühl-Bilanz für die große Koalition, das zeigt sich auch daran, dass unter den Überschriften "Was wir bereits auf den Weg gebracht haben" oft auch Projekte stehen, die noch längst nicht verwirklicht sind – und unter "Was wir noch vorhaben" deshalb erneut auftauchen.
Im Kapitel zu Europa ist das etwa so bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, GEAS, die in einigen Staaten auf große Widerstände stößt. Die Reform soll die Asylsysteme in Europa vereinheitlichen, eine riesige Aufgabe, und vor allem eine unvollendete.
Auch im Kapitel Finanzen und Steuern finden sich solche doppelt verbuchten Projekte. "Mit einer globalen Mindestbesteuerung wollen wir dafür sorgen, dass internationale Konzerne, insbesondere auch die digitalen, ihren fairen Anteil an Steuern tragen", steht auf der Haben-Seite. Mit einer Umsetzung rechne man im kommenden Jahr – und so taucht die Mindestbesteuerung auch wieder bei den Vorhaben auf.
Bedürftigkeitsprüfung bei der Grundrente – kommt nicht vor
Derzeit besonders strittige Punkte wie die Bedürftigkeitsprüfung bei der Grundrente umschifft die Bestandsaufnahme komplett. Die Union will sie unbedingt haben, die SPD auf keinen Fall. Zur Grundrente heißt es in der Bestandsaufnahme dann aber nur: "Wer arbeitet, soll mehr haben als derjenige, der das nicht tut." Damit dürfte die SPD künftig gegen eine Prüfung argumentieren. Zugleich heißt es dort: "Die Grundrente soll zielgenau sein und denen zugutekommen, die sie brauchen." Ein Argument für die Union.
Der Konflikt ist damit alles andere als gelöst, die Bestandsaufnahme wird somit auch der Wirklichkeit innerhalb der großen Koalition nicht gerecht. Die Formulierungen fallen sogar auffällig hinter denen im Koalitionsvertrag zurück. Dort steht: "Voraussetzung für den Bezug der Grundrente ist eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung."
Niemand will den Bruch
Nun wird sich die Halbzeitbilanz der großen Koalition nicht in der nun vorgelegten Bestandsaufnahme erschöpfen. Die Parteien selbst bewerten die Regierungsarbeit noch für sich, darauf weist die SPD gerade besonders deutlich hin. Sie will auf ihrem Bundesparteitag Anfang Dezember darüber diskutieren.
Doch die Grundlage dafür, das war immer klar, ist die jetzt vorgelegte Bestandsaufnahme. Und die stellt eben sehr deutlich die Erfolge und sogar die Noch-nicht-mal-ganz-Erfolge heraus und spart alles Kritische aus. Das liegt auch daran, dass diejenigen in Union und SPD, die der Regierung angehören, gerade keinerlei Interesse an einem Bruch erkennen lassen. Im Gegenteil sagen viele überraschend offen, wie gut die große Koalition doch gearbeitet habe, so wie zuletzt Vizekanzler Olaf Scholz.
Die Angst vor den Alternativen ist derzeit größer als die Angst vor der großen Koalition selbst. Würde sie platzen, käme es ziemlich sicher zu Neuwahlen. Union und SPD müssten fürchten, dabei dramatisch schlechter abzuschneiden als bei der letzten Wahl. Zugleich sucht die SPD noch bis Dezember eine Parteiführung. Und die Union zweifelt zunehmend daran, dass ihre Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer der Union das Kanzleramt sichern könnte.
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Und doch kann die große Koalition natürlich noch platzen – nur eben nicht wegen, sondern trotz der Wohlfühl-Bilanz. Der schlechte Zustand von SPD und Union lässt die Nervosität in den Parteien wachsen. Die Bestandsaufnahme lässt sich deshalb auch als Versuch lesen, die Konflikte nicht noch anzufachen.
Egal wie düster die Wirklichkeit ist.
- Eigene Recherchen
- Dokument "Entwurf einer Bestandsaufnahme über die Umsetzung des Koalitionsvertrages durch die Bundesregierung" liegt t-online.de vor
- Bilanzierende Studie der Bertelsmann Stiftung
- Koalitionsvertrag der großen Koalition