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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Halbzeitbilanz der Regierung Fleißig, aber auch an der Wirklichkeit vorbei
Die schwarz-rote Koalition hat die Hälfte hinter sich – wenn sie überhaupt so lange durchhält. Ihre eigene Halbzeitbilanz dürfte gut ausfallen. Doch das liegt am Maßstab.
Dafür, dass die schwarz-rote Koalition nur unter dem Zwang der Umstände und durch unsanften Druck des Bundespräsidenten überhaupt entstanden ist und dafür, dass sie danach mehrfach vor dem Bruch stand, hat sie sich gut gehalten.
Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde gewählt, in nicht mehr ganz zwei Jahren wird unter regulären Umständen gewählt, und wenn man berücksichtigt, dass am Ende noch ein Wahlkampf ansteht, dann ist jetzt in etwa die Hälfte der Netto-Regierungszeit vorbei.
Kommenden Monat wird die Regierung selbst eine Halbzeitbilanz vorlegen, die dann zur Grundlage der SPD werden wird, auf dem Parteitag Anfang Dezember zu entscheiden, ob diese Koalition es wert ist, fortgesetzt zu werden. Eigentlich sollte die offizielle Eigenbilanz schon an diesem Mittwoch ins Kabinett. Sie wurde verschoben, womöglich, um die Chance zu erhöhen, dass sie für die SPD wohliger ausfällt.
Woran misst man die Regierung?
Welche Projekte wurden umgesetzt und wie schlagen sich die einzelnen Ministerien?
Die entscheidende Frage, woran man die Regierung eigentlich misst: an der Wahrnehmung der Bevölkerung? An den eigenen Ambitionen, festgehalten im Koalitionsvertrag? Und wenn, geht es dann nur darum, ob Maßnahmen umgesetzt wurden, oder darum, ob sie auch wirken wie behauptet? Oder misst man sie an der Größe der Probleme in der Wirklichkeit?
Je nachdem, welchen Maßstab man anlegt, fällt die Bilanz sehr unterschiedlich aus.
1. Wahrnehmung der Bevölkerung
Macht man die Wahrnehmung der Bevölkerung zum Maßstab, macht die Regierung keine katastrophale, aber auch keine großartige Arbeit. Man erkennt das leicht an den Umfragewerten: Die Unionsparteien bekamen 2017 zusammen 32 Prozent und stehen jetzt zwischen 27 und 29 Prozent. Die SPD bekam 21 Prozent und liegt jetzt gerade einmal bei 14 oder 15 Prozent. Würde jetzt gewählt, hätte die Koalition, die man einst "groß" nannte, keine Mehrheit mehr.
Parteien müssen Mehrheiten gewinnen, insofern ist diese Perspektive wichtig und am Ende vielleicht sogar entscheidend. Andererseits belegt eine Studie der Bertelsmann Stiftung und des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung (WZB) aus Berlin, dass die Wahrnehmung der Bevölkerung in grundlegender Hinsicht mit der Wirklichkeit allenfalls lose verbunden ist.
Obwohl die Koalition einen Großteil der vereinbarten Projekte im Sommer schon angegangen oder umgesetzt hatte, waren 44 Prozent überzeugt, dass die Regierung nur wenig bis nichts umgesetzt habe. Ein weiteres Drittel nahm an, dass etwa die Hälfte angegangen worden sei. Tatsächlich war es mehr.
2. Die eigenen Vorsätze und Versprechen
Misst man die schwarz-rote Koalition dagegen an den eigenen Vorsätzen, wie sie im Koalitionsvertrag niedergeschrieben sind, fällt die Bilanz mindestens gut aus. Schon im Juni hatte die Regierung rund 60 Prozent der Vorhaben abgeschlossen oder begonnen. Seitdem sind etliche weitere dazugekommen, nicht zuletzt das Klimapaket.
Arbeitgeber zahlen jetzt wieder genauso viel Krankenkassenbeiträge wie Arbeitnehmer. Arbeitnehmer in größeren Betrieben haben das Recht, Teilzeit zu arbeiten und danach wieder in Vollzeit zurückzukehren. Menschen können sich jetzt zu einer Art Sammelklage zusammenschließen. Arbeitslose haben künftig mehr Anspruch auf Weiterbildung, mehr Menschen haben Anspruch auf Arbeitslosengeld I und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sind um 0,3 Prozentpunkte gesunken. Außerdem bekommen Eltern künftig mehr Kindergeld.
Das Rentenniveau wurde bis 2025 auf 48 Prozent festgeschrieben und Mütter von Kindern, die vor 1992 geboren wurden, bekommen ab jetzt etwas mehr Rente. Der Bund stellt bis 2021 rund 5,5 Milliarden Euro zur Verfügung, um Kitas auszubauen, Erzieher einzustellen oder Kita-Gebühren zu senken. Er will auch Mittel bereitstellen, um bald 12.000 neue Pfleger einzustellen.
Es wäre also sehr falsch, der Regierung Untätigkeit vorzuwerfen. Anfangs kam sie in der Tat nicht recht ins Arbeiten: Erst war da die lange Regierungsbildung, dann der Streit um Abschiebepolitik, an dem die Koalition und die Einheit der Union beinahe zerbrochen wären, schließlich folgte die Auseinandersetzung um Hans-Georg Maaßen und die Aufregung um die Landtagswahlen in Bayern und Hessen. Aber danach sortierte sich die Koalition. Sie kam zur Ruhe. Und sie tut, was sie versprochen hat.
Dieser Maßstab wird mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Regierung selbst an sich angelegt werden, weil er erstens das schmeichelhafteste Ergebnis bringt und zweitens auch der Binnenlogik einer Regierung folgt. Aus dieser Perspektive kann eine Regierung nur für das verantwortlich gemacht werden, was sie auch zu verantworten hat, und das ist das, was sie angekündigt und umgesetzt hat.
3. Die Wirkungen der Maßnahmen
Eine andere Frage lautet: Erreicht sie auch, was sie wirklich oder vorgeblich erreichen wollte? Fragt man nach dem eigentlichen Effekt vieler Maßnahmen, verschiebt sich das Bild schon wieder – auch wenn diese Frage von allen am schwierigsten zu beantworten ist und ein wirkliches Gesamturteil kaum zu treffen. Dazu müsste man zu viele Maßnahmen und deren Wirkungen im Detail prüfen. Das ist Stoff für ein ganzes Wissenschaftlerteam und mehrere Jahre.
Aber es fällt doch auf, dass einige der viel diskutierten Maßnahmen, die öffentlich Emsigkeit dokumentieren, in ihrer Wirkung hinter den Aufwand und teilweise die Kosten zurückfallen.
Beispielsweise wurde das Baukindergeld, ein Herzensprojekt vor allem der CSU, zu Beginn als wichtige und enorm teure Maßnahme der "Wohnraumoffensive" verkauft. Deren Ziel wiederum war die Schaffung von 1,5 Millionen neuen Wohnungen bis zum Ende der Legislaturperiode. Dass das Baukindergeld dazu wirklich beitragen könnte, daran gab es immer arge Zweifel. Doch die erste Bilanz war dennoch verheerend: Nur knapp ein Fünftel der bisher 135.000 Anträge betrifft überhaupt Neubauten. Und wie viele davon ohne Baukindergeld nicht gebaut worden wären, lässt sich nicht sagen.
Das Flüchtlingspaket, vor einem Jahr im Sommer unter großen Anstrengungen lange ausgehandelt, Innenminister Horst Seehofers (CSU) sogenannter Masterplan, hat, wenn es um Zurückweisungen an der Grenze geht, fast gar keine Wirkung.
Der Kohlekompromiss, den die Kohlekommission erarbeitet hat, um zu garantieren, dass Deutschland bald aus der Kohlekraft aussteigt, aber zugleich in Kohleregionen neue Angebote macht, wurde nach Plan erarbeitet. In Gesetze überführt ist er immer noch nicht. Und das Klimapaket, das im September große Teile der Aufmerksamkeit gebunden hat, besteht im Wesentlichen noch aus Versprechen und Plänen, von denen auch regierungsberatende Wissenschaftler sagen, dass sie nicht die erhoffte Wirkung erzielen können.
Berücksichtigt man nicht nur reine Aktivität, sondern auch die Wirksamkeit der umgesetzten Maßnahmen, verschlechtert sich die Bilanz doch etwas.
4. Die tatsächliche Größe der Probleme
Schließlich stellt sich die Frage, wie die Regierungspolitik sich darstellt, wenn man die Wirkungen nicht an den selbst formulierten Ansprüchen, sondern an der Größe der Probleme in der Wirklichkeit und an einer Zukunftsperspektive misst.
In vielem, vor allem in der Arbeits- und Sozialpolitik, verändert die Regierung etwas, schärft nach, passt an, löst Problemchen und Probleme. Viele bleiben aber:
Rechtsextreme Terroristen morden offener als in den vergangenen Jahren. Die Mieten steigen weiter schnell. Erzieher fehlen und Pfleger auch.
Mehrere Dieselgipfel sollten nach dem Dieselskandal dafür sorgen, dass die Abgasbelastung in Städten sinkt und Fahrverbote vermieden werden. Noch immer ist die Belastung mit Stickoxiden vielerorts zu hoch.
Das Landwirtschaftsministerium bejubelte schon in seiner Jahresbilanz den "Einstieg aus dem Ausstieg beim Kükentöten", was aber faktisch heißt, dass männliche Küken weiter geschreddert werden, womöglich erst ab 2021 nicht mehr, aber so ganz sicher ist das nicht.
Dasselbe Ministerium führte ein "Tierwohllabel" ein, bei dem das Siegel höchster Stufe bekommen kann, wer einem Schwein nicht nur 0,75 Quadratmeter (Mindestgröße) Platz gibt, sondern 1,5 Quadratmeter, wovon ein halber Quadratmeter Auslauf sein soll (also etwa ein Meter auf einen halben Meter, für ein 1 bis 2 Meter langes Schwein).
Von einem Aufbruch für Europa ist keine Rede mehr, wenn auch die Zusammenarbeit mit Frankreich in der Grenzregion intensiviert wurde. In der Diskussion um eine sinnvolle Neujustierung der Rüstungsausgaben lässt sich die Regierung von Donald Trumps Tiraden zum Bekenntnis zu massiv steigenden Mitteln treiben, ohne dass die Bundeswehr erkennbar einsatzfähiger würde. Den völligen und überraschend plötzlichen Rückzug der USA als berechenbare demokratische Macht kann Deutschland natürlich nicht auffangen – aber versuchen könnte die Regierung es, wenn saudische Auftragsmörder einen Journalisten zerhacken oder die Türkei völkerrechtswidrig in den kurdischen Norden Syriens einmarschiert.
Die große Frage: Klimaschutz
Und dann ist da natürlich die Klimakrise: Da hat die Regierung Maßnahmen auf den Weg gebracht, die helfen sollen, die selbst gesetzten Klimaziele für 2030 und 2050 zu erreichen – was kaum möglich sein wird, wie Experten wie Ottmar Edenhofer sagen, der selbst die Regierungsparteien beraten hat. Diese selbst gesetzten Klimaziele gelten in der Regierung als ambitioniert, aber sie reichen niemals aus, um das Klimaziel des Pariser Abkommens zu schaffen, nämlich eine Chance zu haben, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen.
Doch die Regierung sprach selbst auf Nachfrage nicht darüber, ob die Klimaziele nicht angepasst werden müssten, um das Klimaziel zu erreichen. Aus der Binnenlogik der Regierung war das Klimapaket extrem ambitioniert, gemessen an den selbst gesetzten Zielen unterambitioniert, gemessen an den (selbst akzeptierten) Zielen von Paris und damit an der Wirklichkeit, waren sie extrem ungenügend.
- 100 Tage Groko: Die erste Bilanz der Regierung – Konflikt als einzige Routine
- Klimaschutzpaket: Die Angst der Regierung vor der Wut der Bürger
- Olaf Scholz im Interview: "Das ist Wohlhabendengerede!"
In den Regierungsparteien selbst macht sich Frust breit, dass die Klimaschutzpolitik eine derart beherrschende Rolle spielen soll, aber das rasante Tempo, die Tatsache, dass jeder Tag, an dem Emissionen nicht schnell sinken, ein Gegensteuern überproportional schwieriger macht, und die schiere Unmöglichkeit, mit der Atmosphäre in Verhandlungen zu treten, sprengen die politische Logik. Eine Regierung, die nicht einmal die Größe des Problems offen anerkennt, werkelt in der entscheidenden Frage fleißig an der Wirklichkeit vorbei.
- Eigene Recherchen
- Bertelsmann Stiftung und WZB: Besser als ihr Ruf