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Warum bleibt die NSU-Akte 120 Jahre unter Verschluss?


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Kritik am Verfassungsschutz
Warum bleibt die NSU-Akte 120 Jahre unter Verschluss?


Aktualisiert am 16.07.2018Lesedauer: 5 Min.
Halit Yozgat war das neunte Opfer der Serie von Morden mit einer Ceska, für die der NSU verantwortlich gemacht und Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist.Vergrößern des Bildes
Halit Yozgat war das neunte Opfer der Serie von Morden mit einer Ceska, für die der NSU verantwortlich gemacht und Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. (Quelle: imago-images-bilder)
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Der NSU-Prozess ist vorbei, viele Fragen bleiben offen. Dennoch will der Verfassungsschutz in Hessen eine Akte über die Rechtsterroristen bis ins Jahr 2134 unter Verschluss halten.

Unglaubliche 120 Jahre Sperrfrist für eine Akte des Verfassungsschutzes zum NSU: Damit konfrontiert hatte sich auch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) im Juni 2017 überrascht gezeigt. "Wie bitte?", entfuhr es ihm. Die Linken waren auf die Existenz des Berichts gestoßen, den der hessische Verfassungsschutz verheimlichen wollte. Es geht um streng geheime Unterlagen darüber, was der ihm Jahre lange unterstellte Verfassungsschutz zur extremen rechten Szene zusammengetragen – und dabei ignoriert oder nicht ernst genommen hat.

Für viele Menschen stellt das Dokument mit seiner Sperrfrist eine der größten Ungereimtheiten im NSU-Komplex dar. Verschwörungstheorien blühen. Doch die Akte müsste nicht so lange gesperrt sein, heißt es aus der hessischen SPD: "Man kann die Frist selbstverständlich verkürzen, wenn man das politisch will – und die SPD will", sagt die innenpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion, Nancy Faeser. "Sie ist nur gerade nicht in der Position, das durchzusetzen." Die Regierungsfraktionen CDU und Grüne gehen bisher nicht so weit. Sie wollen zumindest künftig andere Fristen.

Um was es bei der 120-Jahre-Akte geht: Das hessische Landesamt für Verfassungsschutz hatte dem hessischen Innenministerium am 20. November 2014 rund 250 Seiten vorgelegt. Die Geheimdienstler hatten ausgewertet, was sie von 1992 bis 2012 an Hinweisen zur extrem Rechten erhalten hatten und wie sie damit umgegangen waren. Rund 40 Seiten Zusammenfassung, dann rund 200 Seiten Aufstellung.

Wie es zum Bericht kam: Nach immer neuen Berichten zu vernichteten Akten bei diversen Geheimdiensten, verhinderten Festnahmen und weiteren Unregelmäßigkeiten hatte der damalige hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) von seinem Verfassungsschutz Klarheit haben wollen: Wo hat der Dienst vielleicht geschlampt? Im Sommer 2012 forderte er die gründliche Prüfung an. Nur durch eine Gesprächsnotiz stießen die Linken darauf, dass es den Bericht gibt. Die zuständige Abteilungsleiterin hatte ihn zuvor auch im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags nicht erwähnt.


Was drin steht: Vor allem durch den hessischen NSU-Untersuchungsausschuss wurden Details bekannt, weil Abgeordnete in einem Geheimschutzraum Einblick nehmen konnten – und auch das Dokument war zu rund 20 Prozent geschwärzt. Bei geschwärzten Teilen mussten Abgeordnete einzeln nachfragen. Klar ist: Der Verfassungsschutz bekam in dem Zeitraum rund 950 Hinweise auf Waffen und Sprengstoff bei Rechten – und ging vielen nicht nach. Bei rund 30 "Belegen" gab es mögliche Bezüge hessischer Neonazis zum NSU-Kerntrio, 500 Akten waren verschwunden.

Welche Rolle Hessens Verfassungsschutz spielte: Die Mordserie des NSU endete in einem Internetcafé in Kassel, in dem zur Zeit des Mordes an Halit Yozgat oder bis maximal weniger als 40 Sekunden davor ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes saß. Andreas Temme hatte zudem drei Wochen zuvor wie andere von seiner Vorgesetzten eine Aufforderung erhalten, sich zu einer Mordserie mit einer "Ceska" umzuhören. Das verschwieg er später, er meldete sich auch nicht bei der Polizei als Zeuge – und er telefonierte am Tattag mit einem V-Mann, der weit oben auf einer Liste von Personen aus dem Umfeld des NSU stand.

Unter weitere Ungereimtheiten fällt ein Anruf bei Temme aus dem Amt: "Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren", sagte ihm der Geheimschutzbeauftrage. Stärker unter Druck als der hessische Geheimdienst stand nur der Thüringer Verfassungsschutz – maßgeblich mitaufgebaut von früheren hessischen Geheimdienstlern.

Wie es zur Sperrfrist kam: Kurz nach einer neuen Verschlusssachenanweisung aus dem Innenministerium gab der damalige Verfassungsschutzpräsident Alexander Eisvogel am 28. April 2010 eine Dienstanweisung heraus. Ein Zusammenhang mit der NSU-Mordserie ist nicht ersichtlich. Die flog am 4. November 2011 auf. In der Dienstanweisung heißt es, bei der Erstellung neuer Verschlusssachen seien vier Fallklassen zu nutzen, "um der Gefahr der ungewollten vorzeitigen Offenlegung der Verschlusssache vorzubeugen."

Diese vier Fallklassen sind mit Fristen verbunden, die in der Form nur so aus Hessen bekannt sind: 30, 50, 90 und die ewigen 120 Jahre. Als am 20. November 2014 der Bericht zu der Aktenüberprüfung vorgelegt wurde, war er mit mit der Sperrfrist von 120 Jahren versehen. "Ich kenne keinen vergleichbaren Fall", sagt Volker Eichler, Leiter des Hessischen Hauptstaatsarchivs zu t-online.de. "Das ist eine Frist, die völlig unüblich ist." Der Verfassungsschutz beantwortete Fragen von t-online.de dazu nicht.

Was die Begründung war: Die Überprüfung der Akten zur Nazi-Szene hat der Verfassungsschutz der vierten Kategorie zugeordnet: Vorgänge, die das konkrete Verhältnis von V-Leuten mit dem Verfassungsschutz und dort der "Forschung und Werbung" abbilden. Dinge, die Rückschlüsse über die Arbeitsweise zulassen, wie wo wann V-Leute angeworben wurden. Sie seien zu sperren für die gesamte Lebensdauer der handelnden Personen und der nachfolgenden Generation. Der Rechtsanwalt Alexander Kienzle, der die Familie Yozgat vertritt, sah darin nach Bekanntwerden etwas anderes – eine Botschaft des Verfassungsschutzes: "Hier ist jetzt Ruhe, hier geht gar nichts mehr." Die Familie erwägt, gegen Verantwortliche Strafanzeige zu erstatten, weil der Verfassungsschutz Straftaten nicht vereitelt habe, berichtet die "Welt".

Welche Lehren Hessen gezogen hat: Der Verfassungsschutz wurde bereits umgebaut und soll weiter reformiert werden. Die Regelung zu der Dauer der Sperrfristen gilt aber weiter. In seiner nächsten Sitzungswoche Ende August wird der Landtag den Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses mit Sondervoten der Opposition präsentieren und mitsamt beschließen. Als eine der Handlungsempfehlungen der Regierungsparteien findet sich die Forderung, die Einstufungspraxis beim Verfassungsschutz auch bei der Dauer kritisch zu prüfen.

Grünen-Fraktionssprecher Volker Schmidt berichtet von Erörterungen des Ausschusses mit dem Präsidenten des Landesamts für Verfassungsschutz, wie eine niedrigere Einstufung ermöglicht werden kann. Der für 120 Jahre gesperrte Prüfbericht wird als Negativbeispiel genannt. Der SPD-Abgeordneten Nancy Faeser geht das nicht weit genug: "Die Gesellschaft muss nicht damit leben, dass Behördenakten für vier Menschengenerationen als geheim eingestuft und damit der Öffentlichkeit entzogen werden".

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Wie die Einstufung geändert werden könnte: Es gibt eine Regelung innerhalb der Dienstanweisung des inzwischen vor-vorletzten Verfassungsschutzpräsidenten Eisvogel, heute Präsident der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung. Dort ist Voraussetzung für einen anderen Geheimhaltungsgrad, dass sich Gründe ändern oder wegfallen. SPD-Innenpolitikerin Felser spricht aber von einer "Verwaltungsentscheidung, die jederzeit aufgehoben werden könnte". In den Regierungsfraktionen überwiegt dagegen die bisher Auffassung, die Entscheidung sei juristisch nicht zu beanstanden.

Was mit den Akten passiert: Sie bleiben beim Verfassungsschutz, bis sie dort nicht mehr benötigt werden – längstens 30 Jahre. Dann müssen sie dem Hauptstaatsarchiv angeboten werden, das sie in seinen Bestand übernehmen wird. Dort gibt es ein Verschlusssachenmagazin, das nur von wenigen Mitarbeitern betreten werden kann. Über einen Zugriff auf die Akte entscheidet bis zum Ablauf der Sperrfrist weiterhin der Verfassungsschutz. Sie könnten auf Antrag etwa von Wissenschaftlern für sie vorzeitig herabgestuft werden.

Verwendete Quellen
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